SO 1.1_Muschelhorn und Mäander
»Du warst das! Du warst es die ganze Zeit«, entfuhr es Tartara, als sie sich an den Beginn ihrer Reise erinnerte. »Der Tentakel im Wasser. Der dunkle Nebel in Gaoithe.«
»Das ist richtig«, meinte der Sonnenhändler, während er in den Himmel blickte, wo sein Feuerwerk langsam erlosch. Die Dunkelheit blieb, doch man konnte immerhin ein anderes Leuchten in der Nacht sehen. Die liegende Mondsichel glänzte silbern und erschien wie ein Schiff, das durch ein Meer aus Wolken fuhr.
»Aber«, Tartara erschauderte, als sie sich an den Mann erinnerte, den sie oberhalb der brüchigen Stufen an seinem Schreibtisch zusammengesunken gefunden hatte, »warum hast du einen Mann getötet? Die Menschen aus Gaoithe vertrieben?«
»Das war nicht ich«, widersprach der Sonnenhändler - Kren - vehement. Er schien für einen Moment ehrlich überrascht gewesen zu sein. Seine Augen hatten ihn verraten, hatten die makellose Fassade beinahe zum Bröckeln gebracht. Nach einer Sekunde hatte sich der Mann jedoch wieder gefasst. »Das ist allein das Werk des Urozeans gewesen.«
»Die Stränge aus Finsternis sind also ganz zufällig bei der Leiche gewesen und haben uns verfolgt, weil... Warum haben sie uns verfolgt?«, hakte Tartara nach, die das ruckartige Fliehen von Gaoithe vor ihrem inneren Auge abspielte. Griffin, Bree und sie waren gesprintet durch die Gassen und über den Hafen, um von den wabernden Schattenmassen verschont zu bleiben. Am Ende war die Triton ohne sie losgesegelt und Tartara hatte ihr hinterherschwimmen müssen. Doch damit nicht genug. Die Dunkelheit hatte sie auch im Wasser noch hinter ihr her gewesen und hatte sie bis in ihre tiefsten Träume verfolgt.
»Die Dunkelheit ist mein Auge und die Sonne mein Ohr. Meine Kundschafter, die ich aussende, um Gefahren frühzeitig zu spüren. Ich war interessiert daran, wer du bist. So folgte ich deinen Schritten.«
»Warum?«, wollte Tartara wissen. »Warum ich?« Sie rückte ein wenig von dem Mann ab, dann hatte sie jedoch einen Einfall und sie lehnte sich gegen die Brüstung, wandte sich ihm zu, statt noch weiter von ihm abzurücken und sich wie eine verängstigte Maus in die Ecke drängen zu lassen. Ihren Unterarm stützte sie auf dem von der Sonne angewärmten Brüstung ab, so, dass ihre Hand unauffällig in der Nähe ihres Entermessers verweilen konnte. Es wurde in der Seefahrt nicht gebraucht und doch trugen es noch viele als Symbol. Dass sie als Kapitänstochter eines bei sich trug, stand außer Frage. Ihr Onkel hatte ihr beigebracht damit umzugehen, doch bis vor dieser Reise hatte sie es nie benötigt.
»Ich kann mich nur wiederholen, Tartara«, sagte der Sonnenhändler. »Wir wollen dasselbe. Viele wollen das, aber niemand außer uns hat tatsächlich die Willenskraft dazu, dies zu erreichen.«
»Ich möchte den Urozean aufhalten, um meine Crew und mein Schiff zu schützen«, erklärte Tartara. Sie konnte nicht fassen, dass sie mit demjenigen, von dem sie geglaubt hatte, dass er ihr größter Gegenspieler neben dem Urozean sein würde, eine normale Konversation führte. »Und was willst du?«
Ihr Blick wanderte erneut über die Dächer, als das Schreien eines Vogels erklang. Da, auf einem kleinen Turm, saß der schwarz-weiße Vogel mit dem roten Schnabel, der den Lärm verursachte. Ohne einen Schwarm ließ er sein Lied erklingen. Tartara betrachtete den Vogel eingehend. Bis vor einigen Jahren war in Fanann An Croí im Sommer immer ein Austernfischer gewesen, der auf den Dächern der Spelunken gehockt hatte und dessen Schreie über den ganzen Hafen zu hören gewesen waren. Er war so zuverlässig wiedergekehrt wie ihr Vater von seinen Seereisen. Mal mit ein paar Tagen Verspätung, aber immer ungefähr zum selben Zeitpunkt, bis er eines Tages nicht wiedergekehrt war. Tartara fühlte sich ein bisschen wie der Vogel, alleine in dunkelster Nacht, doch im Gegensatz zu ihm, verhallte ihr Ruf ungehört in der Dunkelheit.
»Was denkst du denn, was ich will? Zerstörung der Welt? Heiliges Kanonenrohr, Manannan hat dir wohl nicht alles erzählt, oder?«
Tartara zuckte leicht zusammen. Ja, so in etwa hatte sie gedacht. Bisher hatte sie aus den Erzählungen Manannans und den Handlungen des Sonnenhändlers nicht erkennen können, dass er der Wohltäter schlechthin war, doch seine Aussage klang, als hätten Illusionen das wahre Bild verdeckt.
»Solltest nicht gerade du das besser wissen? Nicht alles und jedem blind zu vertrauen? Schließlich hast du doch all deine Befürchtungen und Zweifel dem Meer erzählt und auf eine Antwort gewartet, ewig abgewogen, ob nicht noch mehr dahinterstecken könnte.« Kren zeigte sich schockiert und Tartara blinzelte einmal zu ihm hinüber, ehe sie ihre Augen senkte.
»Es ist nicht so, als hätte mir das Meer geantwortet«, flüsterte sie leise und schloss die Augen. Der Ozean war in letzter Zeit omnipräsent gewesen, hatte ihr vieles gezeigt, was sie für unmöglich gehalten hatte. Aber nichts davon war die langersehnte Antwort auf ihre Fragen gewesen.
Der Sonnenhändler legte seine Arme auf der Brüstung ab, lehnte sich ein wenig vor und faltete seine Hände. »Auch ich habe eine lange Zeit meine Antworten gesucht«, sagte er, »aber manchmal, da ist das einfach nicht genug.«
»Ich habe die Lösung ergriffen, als sie mir vor die Füße fiel. Macht mich das deiner Meinung nach zu einem schlechten Menschen?« Der Sonnenhändler legte den Kopf schief und Tartara schluckte. Er wusste viel zu genau, was er sagen musste, um sie zu überzeugen. Sie hatte verneinen wollen, dann hatte sie sich erinnert, was er getan hatte. Sie musste standhaft bleiben, ihr Vertrauen nicht blind verschenken.
»Du hast ihr alles geraubt und nichts als ein Schatten ihrer selbst zurückgelassen.« Damit war Manannan gemeint, wie Tartara sie kennengelernt hatte. Nur noch eine leere Hülle dessen, was sie einst gewesen war, am schmalen Grat zwischen Selbstmitleid und letztem Stolz balancierend.
»Ich schütze die Stadt. Mit welchen Mitteln auch immer. Manannans Macht wird mir dabei helfen, den Urozean zu zerstören.«
Tartara blickte wieder zum Austernfischer hinüber. Er erinnerte sie so sehr an ihre Heimat, dass es ihr in der Brust schmerzte. Wann würde sie Fanann An Croí wiedersehen? Würde sie es überhaupt wiedersehen? Es hatte sie immer zum Meer und auf das Schiff gezogen. Der Ozean war ihr Zuhause. Jetzt jedoch wünschte sie sich, noch einmal ihrem Bruder durch die Haare zu wuscheln und ihre Mutter zu umarmen, noch einmal zu Meara auf das Land zu fahren und ihren Sohn kennenzulernen und am Hafen stehen und die eintreffenden Schiffe zu beobachten. »Und inwiefern soll dir das helfen? Manannan hat ihn auch nicht stoppen können, bevor du ihr die Macht geraubt hast. Und auch du hast ihn bisher nicht aufhalten können.«
Kren seufzte leise auf, richtete seinen Blick in die Nacht. »Dafür müsstest du eigentlich die ganze Geschichte von Manannan und mir hören.«
»Ich würde sie ganz gerne hören«, sagte Tartara leise. »Wenn du davon erzählen möchtest.«
»Wer erzählt nicht gerne davon, wie er eine Göttin getroffen hat?« Kren lachte leise auf, ein bitteres, trockenes Lachen, das klang, als würde Stein an Stein reiben. Seine Finger strichen über die Brüstung und wie hinter einem fahrenden Schiff das Kielwasser erhoben sich hinter ihnen schäumende Wellen, winzig klein und aus dem Nichts erschaffen. Sie liefen über die Brüstung und tropften dann auf den Balkon, dicht neben Tartaras Stiefel. Dort erhoben sie sich zu Gestalten, geformt aus Wasser ohne dem Geruch von Salz und Freiheit.
Und während der Mann erzählte, begleitete ihn das Wasser auf die Reise in die Vergangenheit, unterstützte ihn, wenn es für einige Momente keine Worte gab.
»Meine Mutter und ich lebten hier, ein wenig abseits zwar, aber dies ist meine Heimat. Ich atmete diese Stadt und ich liebte den Strand. Tag für Tag lief ich zu den Felsen, erkundete Höhlen und badete im Meer«, begann Kren. »Wie auch du sprach ich all meine sehnlichsten Wünsche in die Wellen und nie wurden sie erhört, bis eines Tages eine Frau aus den Wellen stieg, anmutig und wie von einer anderen Welt, stark und sanft wie das Meer selbst.«
Ein Flattern von Flügeln. Ein leises Schreien. Der Austernfischer war durch die Nacht geflogen und hatte sich auf der Brüstung niedergelassen. Sein Kopf war ein wenig schief gelegt und er pickte in die Luft. Wenn Tartara es nicht besser wüsste, hätte sie gesagt, der Vogel lauschte der Geschichte.
»Ich nannte sie Tápholl«, fuhr der Sonnenhändler fort, ohne sich von dem Vogel stören zu lassen, falls er ihn überhaupt bemerkt hatte. »Ruhe zwischen den Gezeiten. Sie war beides zugleich, stürmische Flut und zärtliche Ebbe. Wir trafen uns regelmäßig. Tagsüber pflegte ich meine Mutter und nachts traf ich mich mit Manannan. Wir redeten dann einfach nur, viel über den Urozean, der damals noch weiter weg von Kata lag als jetzt. Sie zeigte mir die Kraft des Wassers und seine Fähigkeit, zu heilen. Irgendwann starb meine Mutter dann.«
Kren machte eine Pause und auch das sich bewegende Wasser zu ihren Füßen hielt inne, andächtig und trauernd. »Ich weinte einen Tag lang. Dann stieg ich zu Tápholl ins Meer und ließ mich heilen. Seither habe ich nie wieder geweint. Nach dieser Nacht wusste ich es jedoch mit Sicherheit. Manannans Macht würde der Untergang des Urozeans sein. Es fehlte nur noch etwas. Etwas ähnlich Mächtiges, das ihre Macht ergänzt. Lirs Horn. Das Relikt eines Gottes.«
»Du brauchst also nur dieses Horn und dann könntest du die Gefahr bannen?« Tartara konnte es kaum glauben. Sollten sie wirklich so dicht am Ziel sein?
»Wenn es denn so einfach wäre! Das Horn ist seit Jahrzehnten verschollen.«
Tartara presste die Lippen aufeinander. »Kannst du es nicht mit Manannans Macht orten? Es wird sich doch sicherlich am oder beim Meer befinden.«
»Meinst du? Wie kommst du denn darauf?«, fragte der Sonnenhändler nach, »Aber selbst, wenn es so wäre, ich könnte es nicht orten. Manannans Macht ist nicht vollständig. Sie muss einen Teil davon abgegeben haben oder er ist ihr genommen worden. Ich kann viele Sachen nicht tun, die sie mir gezeigt hat.«
»Weil sie eine Göttin ist und du nicht? Liegt es vielleicht daran?«, murmelte Tartara laut genug, damit ihr Gesprächspartner sie verstehen konnte. Ihre Gedanken jedoch kreisten um ganz andere Sachen. Konnte es tatsächlich sein, dass sie durch Zufall in Besitz jenes Objektes gelangt war, das den Urozean aufhalten konnte? Schließlich hatte das Muschelhorn schon Manannan befreien können. Es musste das Horn des Lir sein, das Kren erwähnt hatte. Sie ließ ihre Hände in die Taschen ihrer Hose wandern und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen die Brüstung. Das Wasser konnte sie in der Dunkelheit sowieso nur schlecht sehen und so konnte sie stattdessen durch hohe Fenster einen Blick in den riesigen Saal werfen, in dem die Leute sich unterhielten und den Sonnenhändler feierten. Ihre Finger schlossen sich fest um die Kugel, die immer noch in ihrer Hosentasche verweilte und mit einem Mal schwer zu wiegen schien, obwohl sie sonst kaum Gewicht hatte.
»Nein, denn Manannan ist keine Göttin und war es auch nie.«
»Bitte was?«, entfuhr es Tartara. Ihre ganze Welt stand Kopf. Sie erfuhr so viele Dinge, die sie zu Beginn der Reise gebraucht hatte, Dinge, die sie sich nie im Leben hätte vorstellen können. Wenn Manannan keine Göttin war, was war sie dann? War ihre Macht überhaupt stark genug für den Urozean? Heiliges Kanonenrohr, sie hatte so viel Zeit verschwendet bei der Suche nach der Meeresgöttin, nur um jetzt herauszufinden, dass sie gar nicht die war, für die sie sie gehalten hatte.
»Manannan ist keine Göttin, die Macht über das Wasser ist ihr nur gegeben und konnte ihr deswegen auch wieder genommen werden. Lir, der Meeresgott, hat sie auserwählt, bevor er verschwand, damit sie fortführte, was er begonnen hatte.«
So viel Zeit verschwendet. So unfassbar viel Zeit. Tartara spürte bei sich einen Kloß im Hals. »Bist du sicher, dass der Teil, den du hast, nicht ausreicht? Du machst schließlich sonderbare Dinge mit dem Wasser«, sagte sie und nahm eine ihrer Hände aus den Taschen, um in Richtung Hafenbecken zu zeigen, wo der Sonnenhändler eine Säule aus Wasser erschaffen hatte.
»Ich kann über die Gezeiten herrschen und Regen und Nebel befehligen. Ich kann das Wasser bewegen und seine Temperatur verändern. Nur an die Tiefsee komme ich nicht heran, an das Herz des Meeres mit seinen Fischen und unterseeischem Leben.«
»Das heißt, eigentlich bist du genau so weit wie zu dem Zeitpunkt, da du Manannan kennengelernt hast. Die Macht, die du ihr geraubt hast, bringt dich kein Stückchen weiter? Da würde nicht einmal das Horn des Lir helfen?«, fragte Tartara.
»Das weiß ich nicht«, antwortete der Sonnenhändler mit einem leisen Seufzen. »Aber da das Horn sowieso verschollen ist, bringt es nicht viel, darüber nachzudenken. Was ich brauche, ist Manannans fehlenden Teil der Macht.«
»Und wieso soll ich dir dabei helfen? Ich nehme an, das ist der Grund, warum du überhaupt hattest mit mir reden wollen«, fragte Tartara. Er hatte erzählt, dass er ihre Schritte beobachtete hatte. Er wusste, dass das Meer und sie eine besondere Verbindung besaßen. Aber das konnte doch unmöglich genug sein, um ihm bei seiner unmöglichen Mission zu helfen.
Kren wandte sich ihr zu. Seine Augen bohrten sich unnachgiebig in die ihren. Mit der richtigen Motivation wirst du mir vielleicht helfen. »Ich weiß, dass du es finden kannst. Du gehörst in das Meer, hast aber nicht die Scheuklappen auf wie die Wellenlichter. Du kannst es finden.«
Tartara leckte sich über die Lippen, spürte den Salzgeschmack der See auf der Zunge. »Angenommen, ich könnte dir sagen, wo es ist, was dann?«
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