JP.1_Die Macht über die Ozeane
Tartara wagte es nicht, irgendjemandem in die Augen zu sehen. Sie wollte nicht Kip ansehen, nicht Nala oder Narvi, aus Angst vor ihren Reaktionen darauf, dass sie Kren die Kugelschatulle gegeben hatte. Vor allem aber fürchtete sie sich davor, Brees Augen zu sehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihre Schwester nun dachte und sie wollte nicht Hass in ihrem Gesicht sehen, Hass auf sie wegen dem, was sie getan hatte.
Stattdessen richtete sie ihren Blick stur auf die Finger des Sonnenhändlers, die langsam, beinahe andächtig, über das schlichte Holz fuhren und die Form der silbernen Beschläge glitten.
»Ist das Muschelhorn darin?«, fragte Kren. Seine Augen glänzten und er schien seinen Blick kaum von der Schatulle abwenden zu können. Tartara nickte und biss ihre Lippen zusammen. Er würde den Urozean zerstören. Ruhe würde auf den Gewässern einkehren und die Seefahrt könnte wieder florieren.
»Was hast du nur getan?«
Sie vernahm kaum Brees Worte. Der Sonnenhändler schien verstanden zu haben, dass nicht die Kugel das Horn war und es keine Öffnung gab, um hineinzublasen. Er begann nämlich damit, die Kugel immer schneller in seinen Händen zu drehen und sie klackte laut, wann auch immer er eine der Dekorationen leicht drückte. Er hatte den Mechanismus entdeckt, der die Schatulle verschloss.
»Wie geht sie auf?« Kren richtete seine Frage direkt an sie und streckte sogar seine Hände nach vorne, als wolle er ihr die Kugel zurückgeben, damit sie sie öffnete. Tartara ergriff sie und hielt sie hoch. Sie konnte die wellenförmigen Linien erkennen, die Verzierungen von dem blanken Holz abtrennten. Mit einem Mal stand sie wieder mit Kip in den Fluten und sah vor sich, wie die Kugel aufsprand und den Inhalt enthüllte.
Tartara zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie und log nicht einmal. Kip und sie mussten bei dem Kampf um die Kugel, als sie durch das flache Wasser gerollt waren, den Mechanismus betätigt haben. Sie hatte nichts aktiv gedrückt und konnte daher auch nicht sagen, wie sich die Schatulle öffnen ließ. Kren konnte ihr nichts tun. Er hielt das Horn in den Händen. Tartara hatte ihren Teil der Abmachung erfüllt. Jetzt konnte sie gehen und Bree und Kip, ihr Schiff und ihre Mannschaft mitnehmen.
»Das war nicht Teil der Abmachung!«, sagte Kren mit einem Mal laut. Du solltest mir das Muschelhorn geben.
»Das ist das Muschelhorn«, erwiderte Tartara gelassen. Sie verstand seinen Aufruhr nicht. Er hatte das Muschelhorn. Gerade er, der Sonnenhändler und selbsternannter Herrscher und Held der Stadt, sollte doch genau wissen, wie schwer ein jedes Wort wog und dass er seine Bedingung deutlicher hätte formulieren müssen.
Kren trat noch einen Schritt näher an sie heran, sodass er dicht vor ihr stand. Er überragte sie nur um einen halben Kopf, schaffte es aber dennoch, mit glühenden Augen auf sie hinabzusehen. »Du lügst. Du hast es benutzt, hast Manannan befreit. Wie hast du es aufbekommen?«
»Ich-ich weiß es nicht. Es rutschte mir aus der Hand und ist dabei aufgegangen«, sagte Tartara und trat einen kleinen Schritt zurück. Als Kren ihren Schritten folgte, stolperte sie weiter nach hinten, nur weg von ihm. Mit einem Mal machte er ihr Angst. Er hatte so ruhig und beherrscht gewirkt, wie ein Herrscher, der unendlich viel gesehen hatte und den kein Wässerchen mehr zu trüben vermochte. Hatte Wärme verstrahlt wie die Sonne, dessen Licht er befehligen konnte.
Jetzt sprühten seine Augen jedoch kalte Funken, als er seine Hand nach ihr ausstreckte und ihre Weste ergriff.
Tartara stolperte noch einen Schritt zurück, dann jedoch stemmte sie ihre Füße in den Boden. Durch ihre Ader strömte das fließende Salzwasser des Meeres. Sie war eine Tochter der See. Und ein Schwall dunklen, kalten Wassers schien aus den Poren ihrer Haut zu kommen, verteilte sich über ihre Arme und floss dann in einem Strahl zusammen, der den Sonnenhändler in der Brust traf.
Dieser strauchelte, konnte sich aber mit einem großen Schritt nach hinten vor einem Fall bewahren. Sein Gewand war nun auf Höhe seiner Brust durchnässt und die Nässe malte einen dunklen Fleck auf des helle Gewand.
»Jetzt verstehe ich, warum du mir das Muschelhorn nicht geben wolltest. Ich verstehe. Denn du trägst einen Teil der Macht bei dir, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Tartara. Sie hatte nicht wie er Manannan einen Teil ihrer Macht geraubt, hatte sich nicht angeeignet, was ihr nicht gehörte. Allerdings konnte sie sich nicht erklären, woher sie ihn haben sollte. Ihr war auch egal, wieso sie es konnte. Jetzt ergab alles einen Sinn. Sie hatte sich anders und wunderbar zugleich gefühlt, wenn sie im Wasser gewesen war, als wäre sie ein Teil davon und sollte es gar nicht sein. Es war allerdings nicht immer so gewesen. Vor ihrer Reise zu ihrer Schwester hatte sie nicht endlos die Luft anhalten können und bis in tiefste Tiefen des Meeres tauchen können, an Orte, die keine Sonnenstrahlen erreichten, hatte nicht Unruhe im Meer gespürt oder ihr Schiff, auch wenn es meilenweit entfernt von ihr war.
»Nein«, hauchte sie dann erneut, als sie verstand. Nach ihrer Rückkehr war ihr Griffin begegnet. Nach ihrer Rückkehr waren sie Zur untergehenden Sonne gegangen und hatten dort Iolar getroffen. Nach ihrer Rückkehr hatte sie den Kompass wieder an sich genommen, der nie nach Norden zeigte. Glanwen hatte ihr damals erzählt, dass es sich bei dem dysfunktionalen Kompass um das Herz des Meeres handelte, das von dem Urozean angezogen wird.
Das Herz des Meeres. Das Herz der Göttin des Meeres. Ihre Hand wanderte zu der Kette um ihren Hals.
Tartaras Blick schoss zu Manannan und sie starrte der Göttin in die Augen, suchte in ihnen nach der Antwort. Manannan lächelte leicht. Sie schien zufrieden mit sich, als hätte sie zum ersten Mal seit Jahrhunderten etwas getan, auf das sie stolz oder von dessen Richtigkeit sie überzeugt war.
Kren hatte es ihr gleich getan, doch das bemerkte Tartara kaum. »Hast du wirklich geglaubt, ich sei so naiv und würde dir meine gesamte Macht überlassen? Ich wusste, was du vorhattest. Das Meer hört immer zu, hört alle Sorgen und Wünsche. Und so entriss ich mir einen Teil dessen, was ich war«, erklärte sie leicht triumphierend und öffnete ihr Gewand ein wenig vor ihrer Brust, sodass man die Haut darunter sehen konnte. Sie war nicht makellos wie sonst an ihrem Körper, eine riesige Narbe zog sich über ihre Brust und den Bauch und wurde noch zur Hälfte von ihrem Gewand verdeckt.
»Vorsorglich zerteilte ich meine Macht und versteckte sie. Ein Herz am Strand für die Menschen, ein Herz für das Meer und eines, das ich für mich behielt.« Während Manannan sprach, legte sie die Hände über die Stellen, an denen ihre Herzen fehlte. Sie besaß drei Herzen! Das war also kein Mythos, den man sich über die Meeresgöttin mit den Tentakeln eines Oktopus erzählte. Sie hatte vorsorglich zwei davon weggegeben und in Kauf genommen, dass es sie schwächte, nur damit man ihr nicht alle Macht auf einmal rauben konnte. Ein Teil davon ruhte nämlich in ihren Herzen. Und Tartara besaß einen Teil davon.
Manannan richtete ihren Blick auf Tartara. Ob die Göttin gewusst hatte, dass sie das Herz besaß? Sie hatte ihr gegenüber nichts erwähnt und Tartara hatte eigentlich gedacht, dass man es spürte, wenn sich ein Teil von einem ganz in der Nähe aufhielt. Aber vielleicht hatte Manannan sich auch zu sehr darauf konzentriert, die Wellen des Meeres in ihrem verbliebenen Herz zu spüren statt die Macht zu bemerken, die direkt neben ihr an der Brust Tartaras pulsierte.
»Dort fand es Clancy Flynn Mac Nautilus und er erkannte schnell, welche Macht es barg. Er arbeitete es in seinen Kompass ein, der daraufhin zwar nicht mehr funktionierte, aber der ihm große Macht über die Weltmeere verlieh«, erzählte Manannan, während es in Tartaras Kopf ratterte. Von Käpt'n Flynn hatte sie gehört, einer ihrer Ahnen, dessen Name sich seit Jahrhunderten über die Wellen trug. Er war einer der meist gefürchteten Piraten des ganzen östlichen und südlichen Meeres. Allerdings war er auch einer der letzten Piraten in der Ahnenreihe der Nautilus, denn nicht lange danach und das goldene Zeitalter der Piraterie nahm ein Ende. Der Pirat hatte sich einige Jahre lang in der Handelsschifffahrt versucht, ehe er schließlich für seine vergangenen Verbrechen auf See gehängt worden war.
Und obwohl er schon lange nicht mehr war, hatte er dennoch so viel zurückgelassen. Eine Tochter, die die Familie Nautilus aufrechterhielt, einen dysfunktionalen Kompass und einen Viermaster mit tiefblauen Tüchern.
Tartara konnte nicht erkennen, was genau Kren dachte. Ob er an die Jahrzehnte dachte, die er mit der Suche verschwendet hatte, nur damit ihm das Zielobjekt jetzt vor Augen geführt wurde, ohne dass Tartara je danach gesucht hatte? Tartaras Gedanken kreisten jedoch um die Abmachung, die sie mit dem Sonnenhändler getroffen hatte. Er wollte Manannan dabehalten, bis sie ihm verriet, wo der letzte Teil ihrer Macht verborgen lag. Nun konnte auch sie gehen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Tartara, wie Kren sich in Bewegung setzte, auf sie zu. Und ehe sie sich versah, hatte er sich auf die Kugel in ihrer Hand gestürzt. Gemeinsam fielen sie nach hinten, trafen auf dem harten Boden auf. Tartaras Finger lösten sich ob der Wucht des Aufpralls von der Kugel und sie hörte sie über den rauen Boden rollen. Ihr Kopf schmerzte und sie konnte nicht mehr tun, als ihn zur Seite rollen zu lassen und der Kugel hinterherzublicken, wie sie davonrollte.
Kren ließ von ihr ab und Tartara, die gerade zu verstehen begann, dass er nun der Schatulle nachjagte, rappelte sich stöhnend und mit pochendem Kopf auf. Ihre Arme gaben unter ihr sofort wieder nach und so konnte sie nur zusehen, wie Kren der Kugel näher und näherkam. Dann jedoch griff eine Hand in Richtung Boden, dessen Besitzer Tartara von ihrer Perspektive aus nicht sehen konnte. Ihre Sicht verschwamm leicht und sie musste ihre Augen zusammenkneifen, um wieder einigermaßen etwas sehen zu können. Sie fühlte sich wie unter Wasser, nur dass ihr statt Salz trockene Luft in den Augen brannte, ihre Sicht aber ebenso verschleiert war. Ihre Finger berührten etwas Nasses, als sie aufzustehen versuchte. Der Schwall aus Wasser, den sie auf Kren losgejagt hatte, bildete nun eine riesige Lache und wirkte wie ein See aus Schatten und Finsternis.
Wie ein elektrischer Schauer zuckte das kühle Nass über ihre Haut und ihren ganzen Körper, durchflutete ihre Gedanken und spülte alle Sorgen weg. Leer, ihr Kopf war nun so herrlich leer und so still, wie es sonst nur unter Wasser war. Sie brauchte nicht in sich zu suchen, wie sie das Wasser befehligt hatte. Es war in ihr, Teil von ihr. Und so ließ sie das Wasser aus ihrer Haut strömen, so natürlich und ohne irgendetwas davon zu hinterfragen, als hätte sie es schon so lange gemacht, wie sie atmete.
Mit einem Mal war der pochende Schmerz in ihrem Kopf verschwunden und ihre Sicht klarte endgültig auf. Dann konnte sie endlich auf die Beine kommen.
Tartara sah, dass Kip es war, der die Kugel aufgehoben hatte. Um ihn hatten Stränge aus leuchtendem Wasser geschlungen und Kip keuchte sichtbar auf. Wasser konnte ihm kaum schaden, doch das, was ihn dort in festem Griff hielt, war viel mehr als das. Die Macht des Wassers und die Kraft der Sonne vereint.
Das Element, das seine Heimat war, musste ihm auf der Haut brennen, denn sein Mund verzog sich vor Schmerz. Das dampfende Wasser zog sich um ihn wie eine Spinne, die ihr tödliches Netz spann.
Kips Klamotten sowie seine Haare waren durchnässt und Tartara fand es im Nachhinein ungewohnt, wie er trocken ausgesehen hatte. Er hatte gewirkt wie ein Seemann, der seit Jahren nicht mehr rausgefahren war. Rastlos, als würde ein Teil von ihm fehlen, und stets auf der Suche nach etwas, das er scheinbar nicht erreichen konnte. Jetzt jedoch, da seine Augen blau zwischen seinen langen Haarsträhnen hervorblitzten, da schien er wie das personifizierte Meer, das sich mit aller Macht aufbäumte.
Und da wurde Tartara eines klar. Glasklar. Wie eine beschlagene Kugel, die nun aufklarte und durch die sie nun hindurchblicken und ihren Weg erkennen konnte. Sie wusste, was sie tun wollte.
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