GV.2_Der Fluch des Gorvan
Ein wenig unschlüssig stand Tartara auf der Treppe mit nur drei Stufen und verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere.
Die Tür war noch geschlossen und von innen drangen Geräusche und lautes Gelächter an ihr Ohr. Diejenigen, die sich dort drinnen an dem Tisch befanden, schienen ihren Spaß zu haben. Tartara war eingeladen, mit den Inselbewohnern zu essen, bevor sie wieder in das benachbarte Gebäude ging, um die Bücher und Schriften zu studieren. Sie hatte am Abend noch flüchtig die anderen kennengelernt, die auf sie alle freundlich gewirkt hatten. Dennoch hielt sie etwas davon ab, den Raum zu betreten und den anderen am Esstisch beizuwohnen. Das waren Menschen, die keine Gegenleistung, nicht einmal ein Danke, erwarteten dafür, dass sie in den angesammelten Büchern stöbern durfte, dass sie für die Nacht einen warmen Platz zum Schlafen bekommen hatte, dass sie hier aufgenommen und versorgt wurde.
Letzendlich stieß sie doch die Tür auf und fand sich am Ende eines langen Tisches wieder, zu dessen Seiten bereits die fünf Inselbewohner und Kip saßen und Essen in sich reinschaufelten. Tartara begann, sich ein bisschen weniger unwohl zu fühlen, als sie sah, dass der Junge ähnlich zurückhaltend gegenüber der ganzen Freundlichkeit war.
In diesem Moment bemerkte Cathal sie, der sie gestern aufgesucht hatte, als es zu dämmern begann und ihnen Wasser zum Trinken bereitstellte. »Guten Morgen«, rief er und winkte ihr zu, »setzt dich doch.«
Zögerlich ging sie um den Tisch herum und setzte sich neben Cathal auf die lange Bank. »Danke«, sagte sie, als er ihr einen Teller und einen Becher hinschob. Daraufhin stockte er einmal kurz in der Bewegung, ehe er dann nach Besteck griff und auch dieses vor ihr ablegte. Tartara warf ihm einen analysierenden Blick zu. Scheinbar war es nicht nur Doran, der es kategorisch ablehnte, ein Danke zu benutzen oder zu hören, sondern auch Cathal und womöglich die anderen Inselbewohner ebenso.
Ihr Magen knurrte, als sie einen Blick in die Holzschalen warf, die dort auf dem Tisch standen. Wie lange war es wohl her, dass sie das letzte Mal etwas gegessen hatte? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie fühlte sich zunächst ein wenig unwohl, so viel von den Insulanern zu beanspruchen, doch als sie sah, wie auch Kip sich nicht mit dem Essen zurückhielt, schlug sie zu und griff nach allem, was ihr in die Hände fiel. Beeren, Trinken und Fisch, süßlich, durstlöschend und salzig. Belebend.
»Cathal wollte gerade die Geschichte des Gorvan erzählen«, meinte Kip zwischen zwei Bissen, nachdem er gesehen hatte, dass ihren Hunger gestillt hatte und nun nur noch halbherzig nach den kleinen Beeren griff. Sie waren von einem blassen orange, kaum größer als eine Erbse und schmeckten süßlich, schmeckten so herrlich nach salziger Luft und Tänzen zur Sommersonnenwende.
Der Mann setzte eine ernste Miene auf. »Sein Name sollte lieber vergessen werden und ist eigentlich nicht für fremde Ohren bestimmt.«
»Kip hat mir ein wenig von dem erzählt, was ihr erlebt habt und was noch vor euch liegt. Vielleicht hilft euch es weiter, wenn ihr über sein Schicksal lernt. Oder hält euch möglicherweise von Dummheiten ab«, fuhr der Mann fort.
»Einst waren wir mehrere, zwölf Frauen und Männer, die aus ihrer Heimat fortgesandt wurden. Wir waren nur ein Teil von vielen, die mit der selben Mission hinausfuhren. Unser Ziel: Die Legenden des Urozeans zu entdecken. Wir sahen ihn von der Ferne. Doch wir konnten ihn nicht erreicht. Dafür fanden wir etwas anderes. Diese Insel, die seit jeher unser Zuhause ist.«
Tartara blickte sich um, versuchte, sich diesen Raum gefüllt vorzustellen und Menschen, die der Gefahr ins Auge gesehen hatten und danach langsam die Fähigkeit wiederfanden, das kleine Glück zu verspüren, wenn schon nicht das große.
»Eines Tages jedoch verfolgte uns der Urozean. Er kam nahe, war von überall auf der Insel aus zu sehen. Eine riesige schwarze Masse aus Dunkelheit, Wasser und Kreaturen der schlimmsten Albträume.« Der Erzählende machte eine Pause. Er hatte die Augen geschlossen und schien in Erinnerungen zu schwelgen.
»Wir waren das erste Schwert, das sich gegen die Gefahr erhoben hat.«
»Es war Gorvan, der am meisten gegen den Urozean ausrichtete. Tagein, tagaus war er zu einer Höhle am Strand gelaufen, hatte dort stundenlang verweilt und war zurückgekehrt, während wir einen Wall zu bauen begonnen hatten. Einen Wall, der endlos hoch schien und von dem wir uns erhofften, dass er die Gefahr abhalten würde oder zumindest einen so großen Teil davon, dass wir unversehrt blieben. Was auch immer Gorvan dort trieb, es veränderte ihn. Zunächst stand er nur immer am Wall und blickte hinaus, wenn der Urozean sich gerade nicht zu einem endlosen Strudel zwischen Meer und Wolken erhoben hatte. An anderen Tagen kauerte er sich zitternd zwischen zwei Häusern zusammen und blickte mit veränderten Augen umher. Er wirkte wie verflucht.«
Tartara griff nicht nach der Beere, die sie hatte ergreifen wollen. Ihr war schlecht geworden. Sie erinnerte sich an den Moment auf der Triton, als eine Säule aus Wasser in den Himmel geragt war und sich dann ihr entgegengestreckt hatte.
»Als der Urozean seinen ersten Angriff startete, verblieb er nicht wie wir auf dem schmalen Pass. Er stand an vorderster Front. Und dann... befahl er das umliegende Wasser, ließ die Wellen schäumen und schuf Krieger aus Wasser und Algen und toten Fischen. Und dann prallten die Phalangen aufeinander und eine Druckwelle hat die Insel erschüttert«, erzählte der Mann. »Als wir uns hinter unserem Schutz wieder erhoben, war Gorvan fort. Sowie auch der Urozean. Seit jenem Tag hat er uns in Ruhe gelassen.«
Vergangene Hoffnung, gebliebene Verwirrung. Tartara glaubte, dies in dem Gesicht des Erzählenden zu entdecken.
»Wir verstanden nicht so recht, was genau geschehen war. Aber das war in diesem Moment egal. Der Urozean ist gewichen, wir waren sicher«, erzählte Cathal und ließ seine Finger über den Holztisch fahren, als wäre er tief in Erinnerung versunken.
»Habt ihr in der Höhle am Strand einmal nachgesehen?«, fragte Tartara nach einem Moment der Stille. Sie hatte ihre Augenbrauen zusammengezogen und versuchte, sich die Höhle in Erinnerung zu rufen, in der sie mit Kip gestanden hatte. Sie hatte ob der Macht von Wind und Gezeiten glattgeschliffene Wände besessen und die Flut hatte sie mit Wasser gefüllt. Tartaras Vermutung war es, dass sich etwas irgendwo tiefer in der Höhle befinden musste und dort, wo das Wasser gewesen war. Sonst hätte sie etwas gesehen. Hätte sie etwas sehen müssen.
»Ich selbst bin nicht dort gewesen, nein«, erwiderte Cathal, »aber es sind welche von uns dort gewesen. Sie haben nichts gefunden, was irgendwie auffällig gewesen wäre.«
Tartara warf einen Seitenblick zu Kip, der seine Augen auch auf sie gerichtet hatte. Wusste er, was sie dachte? Sie plante, noch einmal zum Strand zu laufen, sei es auch nur, um wieder am Wasser zu sein, und in der Höhle nachzusehen. Vielleicht gab es ein geheimes Versteck in dem dunklen Fels, das niemand gefunden hatte, weil dort kein Sonnenstrahl hingelangte.
»Ich werde dort nach dem Essen einmal nachsehen«, meinte Tartara dann zögerlich. Sie war sich nicht sicher, ob es eine so gute Idee war, den Insulanern davon zu erzählen. Vielleicht würde sie danach nicht mehr die Gastfreundschaft erhalten wie in diesem Moment, weil alle dachten, dass sie dasselbe Schicksal ereilen würde wie Gorvan.
Doran verschluckte sich an seinem Getränk, dann stellte er es ab und blickte sie entgeistert an. »Bist du nicht mehr ganz bei Sinnen?«
»Ja, ist sie«, meinte Kip ungerührt, »du musst wissen, auf dem Weg hierher hätte sie sich beinahe von einer der Klippen gestürzt.«
Tartara warf dem Jungen einen vernichtenden Blick zu. Andererseits war es vielleicht gar nicht schlecht, dass sie dann im Geheimen zur Höhle gingen, denn sie erkannte an Kips Blick, dass dies seine Intention war.
»Tartara?«
Sie zuckte zusammen, als Kip ihren Namen sagte. Sie war gerade in Gedanken versunken gewesen, hatte sich ausgemalt, was dort in der Höhle zu finden sein könnte. »Mhh?«, machte sie.
»Wenn du fertig mit Essen bist, können wir weiter die Schriftrollen durch-«, fing Kip an, doch Tartara legte ihr Besteck ab, schob den Teller von sich und unterbrach ihn: »Ich bin fertig.«
Dann wandte sie sich an Doran. Sie erinnerte sich an das, was er am Vortag gesagt hatte. »Wir haben beinahe alles durchgesehen und nichts gefunden. Könnten wir den zweiten Raum sehen?«
»Klar. Ich zeige ihn euch. Kommt mit!«, antwortete Doran und stand auf. Tartara erhob sich ebenfalls, überrascht. Sicher, es war ihnen bereits angeboten worden, doch so ganz hatte sie der Selbstlosigkeit des Mannes nicht getraut. Mittlerweile glaubte sie zu verstehen, warum die Insulaner ihnen die Schriftrollen bereitstellten. Sie gingen nicht davon aus, dass Tartara oder Kip sie mitnehmen können würden, denn es hatte kein Schiff vor der Küste festgemacht, mit dem man diese sicher und trocken von der Insel fortbringen konnte. Tartara schloss kurz ihre Augen. Keine Triton, die sie über die Weltmeere brachte. Keine Mannschaft, die an ihrer Seite war. Nur sie, einsam auf dieser Insel.
Niedergeschlagen verabschiedete sie sich von Cathal, dann folgte sie Kip und Doran nach draußen.
Er führte sie zu jenem Teil der Insel, an dem sie bisher noch nicht gewesen waren, den Teil, der von der Bucht und dem Strand, über den sie die Insel betreten hatten, aus auf der gegenüberliegenden Seite lag. Von der winzigen Siedlung aus hatte Tartara schon erspähen können, wie es dort aussah. Das Land fiel wieder ab, sodass man auf den weiten Ozean blicken konnte. Da waren keine Inseln, die sich aus dem Nebel schälten. Nur Wind und Wellen und Weite, soweit das Auge reichte.
Sie liefen weiter und Tartara erkannte, dass sie sich geirrt hatte. Das Land war nicht komplett flach, es gab kleine Klippen, die die Wiesen vom Meer trennten. Nur an einer Stelle fiel das Land komplett ab, sodass es eine kleine Senke gab, an der das Meer leckte. Links und rechts davon erhoben sich die Klippen und Tartara konnte in einer davon eine schmale Holztür erkennen, die relativ schief in den Angeln hing und offensichtlich ins Innere der Klippen führten. Ob dort eine ähnliche Höhle war wie die, in der Kip und Tartara bei ihrer Ankunft verweilt hatten, ehe der Sturm aufgezogen war. Ehe sie Manannan gefunden hatten.
»Ist das nicht ein wenig riskant?«, wollte Tartara wissen. Für einen Moment war sie abwesend gewesen, jetzt sah sie, wie Doran die Tür im Fels öffnete und in den Raum dahinter zeigte. Wenn nun eine Sturmflut käme, würde doch sicherlich Wasser durch die Tür gelangen und die Schriftrollen beschädigen, oder irre ich mich?
»Das Wasser ist noch nie so weit vorgedrungen«, erklärte Doran und wies die beiden an, durch die Tür zu treten. Zudem haben wir hier unzählig viele Sicherungen. »Wie ihr sehen könnt, ist da noch eine weitere Tür. Ihr werdet noch mehrere Zwischenhöhlen finden, ehe wir im Schriftenarchiv angekommen sind«, fuhr der Mann fort und griff nach einer Öllampe, die an der feuchten Felswand an einem Haken hing und entzündete sie.
»Aber das Risiko besteht?«, hakte Tartara nach. Man merkte es meist am Wind, wenn sich eine Sturmflut ankündigte und es sah nicht nach einer aus, doch ihr wurde trotzdem ein wenig mulmig bei dem Gedanken daran, dass Wassermassen in die Höhle strömten. Sie vetraute ihrer Fähigkeit, lange unter Wasser zu sein, noch nicht genug und selbst wenn sie nicht ertrinken würde, die Gefahr, dass die Wucht des Meeres ihren Körper gegen eine Steinwand warf, blieb bestehen.
»Ja, das Risiko besteht«, antwortete Doran, als er weiter durch die Höhlen trat. Tartara hörte auf zu zählen, es kam ihr wie ein endloser Gang vor, der mal breiter war, wenn sie eine Höhle betraten, und mal enger, wenn sie durch eine Tür tragen. Dann waren sie angekommen. Doran blieb stehen und Tartara ließ ihren Blick durch die Höhle wandern. Sie war verhältnismäßig klein und die Decke hing tief. Da standen schwere Truhen an den Wänden, mit aufwändig geschmiedeten Eisenbeschlägen versehen.
»Wenn ihr merkt, dass Wind aufzieht und durch die Spalten weht, dann verlasst die Höhle. Wenn es langsam dunkler wird und das nicht an der ausgehenden Öllampe liegt, dann verlasst die Höhle.« Mit diesen Worten stellte Doran die Lampe auf eine der Kisten und wandte sich zum gehen. Tartara blickte ihm nach, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war und man seine Schritte nicht mehr nachhallen hörte.
Tartara trat zur erstbesten Truhe und hob den schweren Deckel an. Zum Vorschein kam eine Schriftrolle, die Jahrhunderte erblickt haben musste.
»Meinst du, das ist ihre Art, uns von der Höhle fernzuhalten?«
»Was?«, fragte Tartara nach. Ihre Aufmerksamkeit lag auf dem Pergament, das sie langsam zu entrollen begann. Aufgeregt huschte ihr Blick hin- und her, als sie die ersten verblichenen Zeilen zu lesen begann.
Kip trat an sie heran. »Dass wir hier sind, um nicht auf der anderen Seite der Insel zu sein? Um nicht die Höhle zu erkunden?«
»Kann schon sein. Andererseits habe ich ja auch danach gefragt«, murmelte Tartara, während sie sich weiterhin auf die Zeilen konzentrierte. »Hier steht, wie man das goldene Garn lösen kann. Mit einem speziellen Klang.«
»Ich finde, wir sollten dort nachsehen und um die Insel herum schwimmen, um dahin zu gelangen? So werden sie uns nicht bemerken. Bist du dabei? Eins, zwei Regeln brechen?«, fragte Kip und griff nach dem Pergament, das Tartara aus ihren Händen gab.
»Genau dasselbe wollte ich dich auch gerade fragen.«
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