CS.1_Die Leere im Herzen
Sie reagierte geistesgegenwärtig und schoss empor.
Ihr wäre eigentlich der Weg in die Tiefe am Liebsten gewesen, dorthin, wo es ein wenig dunkler wurde und das schattenhafte Wasser sie langsam verschluckt hätte. Dann hätte die Seeschlange sie nicht gesehen. Dort hätte sie sich sicherer gefühlt. Tief in ihrem Innersten war ihr allerdings klar, dass das zu lange gedauert hätte. Es ging nun einmal schneller, wenn sie sich mit zwei schnellen, kräftigen Schwimmzügen empor beförderte statt sich langsam nach unten sinken zu lassen.
Die Giganten schossen auf den Urozean zu, in jene Richtung, in der sich Tartara noch wenige Herzschläge zuvor befunden hatte. Sie rasten auf den Strudel zu und in den Strudel hinein. Binnen kürzester Zeit waren sie von der Strömung verschluckt worden und nicht mehr zu sehen.
Tartara schwamm einige Meter tiefer, das Garn fest umklammert. Mittlerweile fühlte sie sich sicherer, wenn sie die Macht der Ozeane anwendete. Es war nicht mehr jene fremde Macht, die sie nie benutzt und trotzdem verteidigt hatte. Es war ein Teil von ihr geworden und das schon lange, bevor sie zu diesem Abenteuer aufgebrochen war.
Wie von selbst begann das Garn wieder, leicht zu schimmern, ehe es in den Fluten verschwand. Tartara wusste nicht recht, was mit Manannan war. Sie hoffte, dass die Göttin wieder in das weite Meer schießen würde und die Seeschlange abgehängt hatte. Tartara würde es wohl nicht herausfinden, was zwischen den beiden Giganten in den nächsten Minuten geschah, denn sie schwamm weiter. Musste weiter schwimmen. Strecke schaffen. Es zu Ende bringen.
Die Fische hatten zwar nicht gewartet, doch jetzt waren sie mit einem Mal wieder alle neben ihr. Tartara war besonders froh darum, als sie ein lautes Grollen hörte wie ein Donner, der über die Ländereien zog oder wie Kanonendonner, der über die Wellen rollte. Die Seeschlange musste sich irgendwo in diesem Strudel befinden und Tartara glaubte, sie war gerade ziemlich dicht neben ihr, sie und das Ungeheuer nur durch die strömende Wand getrennt, die die Seeschlange jedoch nicht aufzuhalten vermochte.
Die Orcas und Haie und Wale und Seeschildkröten waren bei ihr, dichter noch als die Fische und die Quallen, und Tartara bekam es ganz deutlich mit, als ein Teil der Seeschlange aus dem Urozean herausgeschossen kam. Das Hinterteil, die Flosse, die zerstörerisch durch die Fluten schnitt.
Der Wal, den die Attacke getroffen hatte, stieß einen Schnalzlaut aus. Seine Schwebeflug durch das Wasser wurde holprig, er wurde zur Seite gestoßen. Tartara spürte den schweren Körper gegen sich prallen.
Mit einem Mal war da ein Orca dicht neben ihr, der daraufhin an Tempo zulegte, allerdings noch so, dass er kurz vor ihr schwamm. Er wartete darauf, dass sie seine Rückenflosse ergriff. Er wollte sie ziehen!
Tartara warf einen letzten Blick auf den Wal und ergriff dann die Rückenflosse des Orcas. O, wie ihre Hände schmerzen würden! Es war ja gar nicht so einfach, sich an einer Flosse festzuhalten, die beinahe so groß wie sie selbst war.
Er trug sie um den Urozean, schnell, wie sie selbst nicht sein konnte, allerdings langsam genug, dass sie das goldene Garn noch vernünftig in den Urozean weben konnte.
Irgendwann, und sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, teilte sich die strömende Wand aus Wasser vor ihr und ein Schatten schoss pfeilschnell heraus. Weil Tartara, die mit so etwas überhaupt nicht gerechnet hatte, von dem Orca einfach weiter getragen wurde, konnte sie sich nur umdrehen, um zu sehen, was da gerade passiert war.
War das Manannan nach einem siegreichen Kampf? Oder war es das Seeungeheuer und Manannan war besiegt und nun auf ewig im Urozean gefangen?
Sie wusste, sie konnte nicht riskieren, nachzusehen. Sie musste es jetzt zu Ende bringen. Der Orca war rasend schnell, so schnell, dass ihr beinahe schlecht wurde, doch sie konzentrierte sich auf das, was sie zu tun hatte. Wann immer das Garn nicht mehr schimmerte oder nicht wirklich fest im Urozean zu schwimmen schien wie verankert, dann schloss Tartara einmal kurz ihre Augen, konzentrierte sich und machte dann weiter. Es würde hoffentlich nicht schlimm sein, wenn einige Stellen fester hineingewebt waren und andere dafür weniger. Ihre Mutter hatte ihr früher erklärt, dass jede Masche sitzen musste, dass der Faden fest sein musste, damit das Kleidungsstück ordentlich werden würde. Doch der Urozean war kein Kleid und Tartara konnte nicht zurückgehen und noch einmal an der Stelle erneut anfangen, wo sie den Faden ein wenig verloren hatte und das Garn nur locker in der Strömung hing.
Alles schien um Tartara herum zu verschwimmen, als der Orca sie um den Urozean herumtrug. Ihr wurde nicht schwindlig, dazu hatte der Strudel zu wenig den Charakter eines Karussells und er war auch zu groß, als dass sich seine Umrundung wie ein Orbit anfühlte, doch das Tempo bereitete ihr trotzdem leichten Schwindel.
Als sie ein paar Mal blinzelte und ihre Sicht wieder aufklarte, riss sie die Augen auf. Sie konnte kaum glauben, was sie da neben sich sah.
Sie gab dem Orca ein stummes Signal, und der Meeresriese wurde langsamer, sodass Tartara ihr Werk betrachten konnte.
Der Urozean, die Strömung, die Schiffe in ihren Untergang riss, spülte unendlich langsam an ihr vorbei. Sie fragte sich, warum ihr das eben noch nicht aufgefallen war, doch wahrscheinlich lag das an dem Tempo, dass der Schwertwal, der sie gezogen hatte, an den Tag gelegt hatte.
Ihre Finger schmerzten. Nicht nur die, mit denen sie das Garn in den Strudel gewebt hatte, auch die anderen, die sich an der Rückenfloss des Orcas festgehalten hatte. Sie ließ von dem Tier ab und war froh, so unendlich froh und erleichtert, dass das Wasser sie trug und auffing, sodass sie sich ansehen konnte, was sie getan hatte. Ob sie überhaupt erfolgreich gewesen war.
Die schwarzen Flecken, die noch vor ihren Augen getanzt hatten und die sie zunächst für die Geister des Geisterrufers gehalten hatte, verschwanden langsam und Tartara begann beinahe zu weinen vor Glücklichkeit und Erschöpfung. Sie begann tatsächlich zu weinen und ihre Tränen vermischten sich sofort mit dem Meer.
Vermischten sich mit dem Meer, das nicht mehr um seine Bewohner bangen musste.
Der Urozean lag beinahe still da, sein ohrenbetäubendes Tosen war erstorben.
Das Garn schimmerte noch leicht, doch es würde aufhören und wieder seine normale Farbe annehmen und bis in alle Ewigkeit den Urozean dort halten, wo er jetzt war. Den Urozean und... Tartara kniff ihre Augen zusammen. Schwamm ein wenig näher. Sie konnte die Konturen erkennen, doch sie waren ihr unbekannt und so musste sie sich vergewissern. Das Garn würde den Urozean dort halten. Den Urozean und seinen Wächter. Die Seeschlange, die wie eine Ranke um einen Baum um den Strudel geschlungen war, seine Länge einmal um ihn herumreichend.
Man konnte das Maul sehen, die leuchtenden Augen, die Schuppen des Halses. Regungslos, versteinert.
Es war vorbei. Es war tatsächlich vorbei. Sie hatte es geschafft!
Warum nur fühlte sie sich dann so elendig? Das Meer lastete mit einem Mal schwer auf ihr, als wolle es sie zum Grund des Bodens hinabdrücken und Tartara konnte ihren Blick auch nicht von den Augen der Seeschlange abwenden. Sie hatten geleuchtet, hellweiß geglüht, als sie das Ungeheuer erweckt hatte. Jetzt starrten sie sie regungslos an, ruhig, abwartend. Vergebend und um Vergebung bittend?
Nein, das musste sie sich einbilden! Die Erschöpfung, die sie übermannte, spielte ihr einen Streich. Tartara schloss ihre Augen und als sie sie wieder öffnete, war sie sich sicher, dass sie sich den Ausdruck in den Augen des Ungeheuers eingebildet haben musste.
Tartara hätte gerne einen Moment für sich gehabt, aber sie war auch unendlich froh, dass sie mit einem Mal umringt wurde von den Fischen, die sie in ihren Schwarm aufgenommen hatten, von Manannan, von Uisce, von den anderen Wellenlichtern, von denen sie gedacht hatte, dass sie sich bereits in alle Himmelsrichtungen verteilt hatten. Es lenkte sie ab und sie war froh, sie alle unversehrt zu sehen. Das heißt, fast alle.
Es brach ihr fast das Herz, als sie sah, wer fehlte.
Dann jedoch war Uisce da und er legte die Arme um sie. Eine beruhigende Umarmung. Der Geruch von Salz und Weite und Freiheit. Und sie stieß durch die Wasseroberfläche, kaum noch Herrin über ihren eigenen Körper.
Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit atmete sie die salzige Luft ein. Atmete frei, ohne dass die Angst vor dem Urozean ihr das Herz zusammenschnürte.
Da war ihr Onkel und er trug sie durch das Wasser, weil ihr die Kraft dazu fehlte. In der Ferne sah sie Kata, doch sie wollte so weit weg von der Hafenstadt wie nur irgend möglich. Uisce lenkte sie auch gar nicht dorthin, doch allein der Blick dorthin hatte ausgereicht. Sie wollte nicht dorthin. Auch wenn es bedeutete, dass sie noch ein wenig warten musste, bis sie sich ausruhen konnte.
Irgendwann löste einer der Orcas Uisce ab und Tartara hielt sich an der Rückenflosse fest. Sie bekam kaum mit, dass der Schwarm sich noch nicht aufgelöst hatte und sie auch noch weiterhin begleitete. Die Wellenlichter mischten sich unter die Fische und konnten locker mit ihnen mithalten.
Der Geisterrufer hingegen fiel ein wenig zurück und Tartara pfiff einmal leise. Daraufhin schob sich einer der Orcas unter den Geisterrufer, der überrascht von ihm mitgetragen wurde, ehe er sich auf dessen Rücken gemütlich machen konnte. Wobei von gemütlich nicht wirklich die Rede sein konnte. Man wurde mitgeschleift und musste selbst darauf achten, dass der eigenen Körper nicht dauernd gegen den Leib des Tieres schlug. Tartara fand mittlerweile, dass sie das Schwimmen auf dem Orca ganz gut meisterte. Sie hatte es nun ja auch schon ein paar Male gemacht.
Der Orca schwamm so dicht unter der Wasseroberfläche, dass Tartara selbst über den Wasserspiegel hinweg glitt, die Gischt neben ihr aufspritzend, das Meer vor ihr endlos glitzernd.
»Sag mal, Tartara...«
Sie blickte zur Seite. Der Geisterrufer war neben ihr, sein Orca schoss dicht neben ihrem durch die seichten Wellen. Unsicher, was er von ihr wollte, wartete sie ab, Fragen in ihren Gedanken.
»Hast du auf deinem Schiff noch Platz für einen alten Mann und seine Freunde?«, fragte er leise, doch Tartara vernahm seine Worte dennoch. Schuldgefühle nagten an ihr, als sie an das Geisterschiff zurückdachte, das nun auf ewig im Inneren des Urozeans gefangen war. Neben ihm schosssen die Geister durch das Wasser, wirkten von oben beinahe wie die Orcas in Miniaturversion, schwarze Schatten, die durch die Wellen huschten und deren Konturen man ob ihrer Schnelligkeit kaum erahnen konnte.
Unschlüssig wandte sie ihren Blick wieder nach vorne. »Ich weiß nicht einmal, ob die Triton es geschafft hat«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Sie hatte nicht darüber nachdenken wollen. Jetzt jedoch war es an der Zeit, ihr Schiff zu suchen und entweder segelte es noch heil über die Weltmeere oder es lag in Splittern und zertrümmert am Meeresboden.
Doch sie wusste, sie konnte noch nicht wirklich über den Verbleib der Triton nachdenken. Durfte sich noch keine Hoffnung erlauben. Zunächst einmal würde sie den Wellenlichtern, die ihr folgten, den weiten Ozean zeigen.
Sie hörte ihre leisen Gesänge, wie sie untereinander miteinander sprachen, nicht stumm, aber ohne Worte. Die Wellenlichter schienen grenzenlos begeistert zu sein, dass sie schwimmen konnte, so schnell, wie sie wollten, in welche Richtung sie auch immer wünschten und so lange geradeaus, bis es ihnen zu langweilig wurde. Es war, als hätte man Vögel aus ihren Käfigen gelassen. Mit unsicheren Flügelschlägen erkundeten sie ihre neue Umgebung, konnten ihre gewonnene Freiheit noch gar nicht so richtig fassen.
Tartara wusste nicht so recht, was genau sie jetzt tun sollte.
Die Wellenlichter jedoch schienen eine Sache genau zu wissen. Nämlich, dass sie in ihrer Nähe bleiben würden. Vielleicht hatten sie gesehen, dass sie das Seeungeheuer aufgehalten hatte und dass sie die Macht über die Ozeane besaß oder womöglich waren sie auch einfach dankbar, weil sie einen der ihren geheilt hatte.
Oder aber sie hatten ihre Meinung geändert und glaubten, dass es für sie doch ein Leben hier draußen gab.
Glaubten, dass Tartara diejenige war, die sie in ein neues Zuhause führen würde.
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