CB.2_Eiskalte Berührung
Viele der Matrosen, die neu zur Besatzung der Triton dazugestoßen waren, hatten sich nicht spezialisiert. So konnten sie die Ankerwinde bedienen, als Ausguck eingesetzt werden und allgemeine Befehle ausführen. Dennoch fehlte ihnen ein Untersteuermann, Offiziere, ein Navigator und ein Kochsmaat. Für letztere Stelle hatten sich bereits viele angeboten und bereiteten nun über die Tage hinweg abwechselnd etwas vor. Doch das Fehlen der nautischen Offiziere machte Tartara zu schaffen. Onóir weigerte sich, die Position des ersten Offiziers zu übernehmen, müsse er dann doch seine geliebten Aufgaben abgeben und er war auch nicht von der Kapitänin gezwungen worden. Sie verstand, dass er viel lieber die Durchführung der Fahrt plante und Seekarten verwaltete, als sich um die Überwachung und Organisation der Matrosen, auf die er noch nicht eingespielt war, an Deck zu kümmern.
Am Schlimmsten war es, dass sie keinen Untersteuermann hatten, denn wenn Glanwen etwas zustoßen sollte, wäre da niemand mehr, der das Schiff lenken konnte, außer sie selbst, die allerdings nicht viel Erfahrung hatte. Allerdings hatte Tartara gesehen, dass Narvi mehrmals interessiert zur Kommandobrücke gelaufen war und den Steuermann aufmerksam beobachtet hatte. Vielleicht würde aus diesem zusammengewürfelten Haufen irgendwann mal ein Zusammenhalt entstehen und sie würden sich aneinander gewöhnen, jede einzelne Person kennen.
Tartara blickte zum Ozean, das Wasser unter ihr still. Dann hörte hinter sich etwas umfallen und ein leises Fluchen. Als sie sich umdrehte, erblickte sie Bree, die neben einem umgestoßenen Fass auf dem Deck lag und sich den Fuß hielt. Offensichtlich hatte sie sich daran gestoßen, als sie sich an die Ältere hatte heranschleichen wollten.
»Was machst du hier? «, fragte Tartara ernst, kein bisschen mehr belustigt, dass das jüngere Mädchen sich aufrappeln musste und vor ihr aufbauen wollte, allerdings mehr als einen ganzen Kopf kleiner war als sie.
Bree blinzelte zweimal, ehe sie antwortete: »Ich wollte die Aussicht am Bug genießen und ein achtsames Auge auf das Wasser werfen, damit ich mitkriege, falls wir uns dem Urozean nähern.« Dann stellte sie sich neben das ältere Mädchen und imitierte die Pose, in der es eben dort gestanden und sich auf die Reling gestützt hatte.
Tartara stellte sich wieder an die Reling, neben sie. »Das meinte ich nicht«, erklärte sie, obwohl sie sicher war, dass Bree genau gewusst hatte, was sie meinte, »was machst du hier? An Bord? Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Mutter das gutheißen würde.«
»Na und?«, entgegenete diese schulterzuckend, »sie ist gleichermaßen deine Mutter und heißt es eigentlich auch nicht gut, dass du hier bist. Außerdem wollte ich dir noch etwas geben.« Auf diese Worte hin stieß sich Bree von der Reling ab und griff nach etwas, das hinter dem Fass lag. Hervor holte sie einen dunklen Gegenstand, der ihr wohl aus der Hand gefallen war, als sie gegen das Fass gelaufen ist. Nachdem sie jenes wieder aufrecht hingestellt und an den agnestammten Platz zurückgeschiben hatte, erkannte Tartara auch, was sie in der Hand hielt.
Es war ein Dreispitz-Hut in Dunkelblau, von derselben Farbe wie die Segel oder ihre Weste. »Oh, Bree«, hauchte sie leise, als sie ihn in die Hand nahm. Der Hut wiegte schwer in ihren Händen, schwerer als jeder Hut, den sie bisher getragen hatte. Selbst früher, als sie sich manchmal diesen Hut von ihrem Vater ausgeliehen hatte, glaubte sie, dass er leichter gewesen war. Noch eine Weile hielt sie den Kapitänshut vor sich, dann setzte sie ihn sich auf. Zuerst rutschte der Hut bis über ihre Augen, sodass sie vor sich nichts als Dunkelheit sah, dann richtete sie ihn und arrangierte ihn so, dass eine Spitze nach vorne ausgerichtet war.
»Danke«, meinte sie und das vorangegangene Gespräch war vergessen. Sie war gerührt, dass Breanna ihr den Hut mitgebracht hatte, denn jetzt konnte sie ihn am meisten gebrauchen. Nicht nur gab ihr die dunkelblaue Kopfbedeckung Mut, mit der Suche nach ihrem Vater fortzufahren, sie würde hoffentlich auch für mehr Respekt bei den Matrosen sorgen, die sie als Kapitänin angezweifelt hatten. Nicht alle der Neuen wollten einer jungen Frau folgen, auch wenn sie die rechtmäßige Besitzerin des Schiffes war. Es war nicht so, dass sie Tartara nicht leiden konnte, aber bei vielen wurde der Eindruck erweckt, dass sie lieber Glanwen als Kapitän hatten, denn wann immer er etwas sagte, wurde jenem Befehl sofort Folge geleistet, während es bei ihr durchaus längerte dauerte. Vermutlich dachten auch viele, dass sie noch nicht so viel Erfahrung in der Seefahrt gesammelt hatte, was an sich keine falsche Annahme war. Allerdings wusste sie bei weitem mehr als die neuen Matrosen.
Tartara wollte wieder achtern gehen, vielleicht Griffin oder Nala gemeinsam mit Bree besuchen, um noch mehr über die Sturmflossen herauszufinden, doch es war, als hielte etwas ihren Körper fest und hindere sie, sich vom Bug zu entfernen. Also blieb sie noch länger am Bug, während Bree sich wieder zu Nala gesellte. Unter ihr schäumte das Wasser an jenen Stellen, durch die der Kiel schnitt. Tartara spürte, wie das Wasser am Holz der Triton leckte, spürte, wie es an ihr leckte und sie war beinahe versucht, ins schäumende Nass unter ihr zu springen, dem Ruf des Wassers folgend.
Starker Wind blies ihr ins Gesicht und stachelte sie nur noch mehr an, sich ins Wasser zu begeben, gab ihr kleine Kostproben von Salz und Algen.
»Frau Kapitän?«, fragte jemand hinter ihr und der Bann war gerissen. Der Wind war fort. Tief atmete Tartara duch, versuchte die eisernen Griffe der Tentakeln des Wassers von sich zu lösen und drehte sich dann zu Griffin um, mit dem sie sowieso hatte sprechen wollen. So schnell sie konnte eilte sie achtern zur Mitte des Hautptdecks und wartete dann auf Griffin, der ihr verwundert folgte.
Tartara hoffte, dass er ihre Flucht nicht als eine Flucht vor ihm interpretierte, denn eine derartige war es nicht gewesen. Sie hatte nur dringend vom Wasser weggemusst, so sehr hatte sie der Sog des Meeres irritiert, der sie zu sich gerufen hatte. »Was gibt es?«, fragte sie und verzichtete auf die offiziele Anrede, mit der er sie angesprochen hatte.
Griffin blickte kurz zu einem an ihnen vorbeigehenden Seemann, dann richtete er ihr eine Botschaft Farrachs aus. »Er möchte dich sehen. Es gehe um die Kanonen«, meinte er. Freudig horchte sie auf. Den ganzen Tag war sie bereits an Deck gewesen, hatte sich um die Aufgaben des fehlendem ersten Offiziers gekümmert und die Matrosen beaufsichtigt, musste sich um vieles Sorgen machen ohne einen kurzen Moment von Ruhe. Ein Gespräch unter Deck waren ihr da eine willkommene Abwechslung.
Sofort begab sie sich unter Deck und lief an den unzähligen Kajüten vorbei, in denen jeweils zwei bis drei Seemänner Platz zum Schlafen fanden. Am Ende des langen Ganges befanden sich vier Kanonen und dahinter eine Treppe, die nach unten zu einem Batteriedeck führte. Sie musste sich die Vorderlader nicht näher ansehen, um zu wissen, dass sie im Falle eines Angriffs einsatzbereit waren, schließlich hatte sie, und da war sie sehr stolz drauf, Farrach an Bord, der seine Kanonen bis tief in die Nacht hinein pflegte und hütete. Der erste Kanoniermeister musste vermutlich auf einem der tiefergelegenen Batteriedecks sein und sich dort mit den Kanonen beschäftigen, denn dort waren die Kanonen entlang der gesamten Breitseite aufgestellt, nicht bloß zwei auf jeder Seite.
Fröhlich pfeifend schob der alte Seebär eine Kanone an ihren angestammten Platz, sodass dass Rohr beinahe die verschlossene Stückpforte berührte. Die Stückpforten, die von außen alle mit dem Gesicht des Wassergottes der Galionsfigur versehen waren, würden hochfahren und das gegnerische Schiff mit grässlicher Fratze ansehen, während es von den Kanonen der Triton versenkt wurde.
Stumm blieb Tartara neben der Treppe stehen und beobachtete den Kanoniermeister noch für eine Weile, dann tippte sie leise mit ihrer Stiefelspitze auf den Boden und trat zu dem in die Jahre gekommenen Mann hin. Dieser war gerade dabei, eine der Stückpforten zu öffnen, um zu überprüfen, ob sie noch einwandfrei funktionierte. Kurz wagte Tartara es, Farrach bei seiner Arbeit zu stören und blickte zum Meer hinaus, das still vor ihr dalag. Erleichtert atmete sie auf, als sie keinen Sog verspürte, der sie dort festhielt. Dann wandte sie sich wieder ab und ließ Farrach seine Arbeit beenden.
Der erste Kanoniermeister jedoch stand wie erstarrt vor der Öffnung und blickte mit geweiteten Augen hinaus. »Was?«, fragte Tartara unbehaglich, als er sich auch weiterhin nicht von dem Wasser abwandte, »was ist da?«
Stumm trat Farrach beiseite und sie musste nicht erst näher an die geöffnete Stückpforte herantreten, um zu sehen, was ihn beunruhigte. Es war nicht der Urozean, der sich da vor ihnen aufbäumte, auch wenn dies Tartaras erster Gedanke gewesen war, denn dieser war noch wit entfernt. Außerdem hätte sie es dann bestimmt an ihrer Brust gefühlt, wo der Kompasss ihre Haut kühlte. Vor der Öffnung schraubte sich eine Säule aus wild um sich wirbelndem Wasser in die Höhe, mehrere hundert Schritte nach oben, sodass sie die Triton bald überragt hatte und wie ein Seeungeheuer auf den Viermaster hinabblickte.
Von oben an Deck hörte sie Rufe von den Matrosen, die jene sich steuerbord an der Bordwand hochreckende Säule aus Wasser vermutlich ebenfalls entdeckt hatten. Tartara, die erst hinauf gehen wollte, um in dem wahrscheinlich herrschenden Durcheinander für Ruhe zu sorgen, erblickte aus den Augenwinkeln, wie sich aus der Säule Muscheln und Algen lösten, die auf die Bordwand zuflogen.
Tatsächlich kamen sie jedoch nicht auf die Bordwand zugeschossen, sondern auf die Stückpforte. Tartara und Farrach wichen zurück, stürzten zur Seite und glaubten, dem Tentakel aus Muscheln entkommen zu sein oder jetzt festzustellen, dass es sich nur um eine Illusion handelte.
Näher und näher kam der riesige Klumpen, dicht an Tartara heran und stoppte kurz vor ihrem Gesicht, um ihr dann unter ihrem kurzen Aufschrei den blauen Hut vom Kopf zu stoßen. Mehrere Meter hinter sich hörte sie ihn dumpf auf den Planken aufkommen. Tartara fühlte sich wie eine enthauptete Königin.
Als sie befürchtete, dass der Haufen sie in irgendeiner Weise attackieren würde, schob er sich langsam vor und berührte sanft ihre Haut. Er war eisig kalt, doch sie durchfuhr kein Schauer, als die Algen über ihre Arme strichen. Tartara überkam die merkwürdige Gewissheit, dass der Tentakel aus schäumendem Wasser und nach Salz riechenden Algen und vielfarbigen Muscheln sie nicht verletzen würde und versuchte, sich zu entspannen beim Beobachten der fließenden Bewegung des Eindringlings.
Dann hörte sie ein Poltern auf den Stufen und als sie einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln dorthin warf, erkannte sie die blonden und roten Haare von Griffin und Bree, die sorgenvoll das Geschehene ins Auge fassten und an den Kanonen vorbei zu ihr hinliefen. Als Tartara ihren Blick wieder auf die Masse aus Muscheln richtete, sah sie, dass dieser sich gerade zurückzog wie Ebbe, bei der sich das Wasser weiter und weiter von ihrem Haus entfernte. Dann war es vorbei und auch vor der Öffnung war keine in den Himmel ragende Wassersäule mehr zu sehen.
Schwer atmend stützte sich Tartara auf ihre Ellenbogen. Noch immer fühlte sie die Berührung der Algen an ihre Haut, spürte die Kälte des Meeres an jeder Stelle und der Geruch von Wind und Algen und Salz wollte nicht verschwinden. Heftig hoben und senkten sich ihre Schultern und sie wollten auch dann nicht damit aufhören, als Griffin und Bree ihren Oberkörper hochdrückten, sie somit in eine Sitzposition drängten und ihre die Arme hintern Rücken legten, um sie zu stützen, da sie sonst zweifelsohne wieder nach hinten gefallen wäre, so wenig Vertrauen wie sie momentan in ihre Kräfte hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Griffin und sah sie besorgt an. »Mir geht's gut, mir geht's gut«, wiederholte sie mehrmals und sei es auch nur, um sich selbst davon zu überzeugen.
Farrach schickte die restlichen Matrosen, die neugierig auf der Treppe standen und zu ihnen herüberspähten zurück an Deck, sodass nur noch er, Griffin und Bree bei ihr waren. »Was war das?«, fragte sie und ihre Stimme brach. Griffin zuckte die Schultern, während ihre Schwester die Arme nur noch fester um sie schlang. Auch wenn Tartara sich daran erinnerte, ihr immer zu sagen, wie gefährlich diese Reise doch werden würde, damit hatte sie nicht gerechnet und der Schrecken, obwohl es im Nachhinein nicht wirklich schlimm gewesen war, saß ihr noch tief in den Knochen und sie war froh, dass da ihre Freunde und ihre Schwester waren, die ihr Gesellschaft leisteten. Andernfalls hätte sie sich selbst für verrückt erklärt.
Alle schwiegen und schienen keine Antowrt zu wissen. Dann jedoch fiel Tartara das Gespräch mit Glanwen ein. Ob dieses mysteriöse Geschehen mit dem Herz des Meeres zu tun hatte? Allerdings hatte der Untersteuermann gesagt, das Meer ziehe den Kompass an und nicht andersherum.
Tartara rappelte sich auf. Jetzt musste sie Nala oder Narvi finden. Die Sturmflossen waren die einzigen, die ihr das Verhalten des Wassers erklären können würden.
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