9 - free falling
Gonna leave this world for a while...
Natürlich meinte die Welt es nicht gut mit ihm. Zwei Tage lang lag er hustend und schwitzend im Bett. Auf die Frage seiner Mutter, wie er sich das hätte einfangen können, antwortete er mit „keine Ahnung, wahrscheinlich einfach Sommergrippe." Dass er sie anlog war offensichtlich. Normalerweise tat er das selten. Vielleicht war es lächerlich, doch er wollte nicht wie sein Onkel Peter enden, in dem seine Familie Dinge in ihm und Tim sah, die eigentlich nicht da waren, auch wenn es dafür ja keinen Grund gäbe – eigentlich.
Der dritte Tag, den Stegi mit rumliegen und schlafen verbringen sollte, war der langweiligste von allen gewesen. Die ersten hatte er stundenlang einfach geschlafen, doch jetzt war er gesund genug, um nicht mehr schlafen zu können und doch noch zu krank, um interessante Dinge zu tun, genauer gesagt, um sich mit Tim zu treffen. Das war das, was ihm am Meisten fehlte.
Der dritte Tag hatte langweilig begonnen und schien es auch zu bleiben. Stundenlang hatte er die Wand angestarrt und seine Gedanken schweifen lassen, bis plötzlich ein Stein nach dem anderen gegen sein Fenster flog. ‚Tim', schoss es ihm sofort durch den Kopf. Viel zu schnell hastete er zum Fenster. Das tat seinem, noch immer schwachen, Kreislauf nicht gut, doch in diesem Moment war ihm das reichlich egal. Wankend lief er zum Fenster, gegen das noch immer Steine flogen. Als er das Fenster öffnete, duckte er sich reflexartig vor einem weiteren fliegenden Stein.
„Willst du mich umbringen, oder was?", rief er in den Garten hinunter. Mittlerweile hatte er sich aus dem Fenster gelehnt und sah auf Tim hinab. „Immer. Wenn das deine doofe Erkältung schon nicht macht, dann muss ich halt ran." Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah grinsend zu Stegi hinauf. „Nett, danke", Stegi verdrehte die Augen, „und jetzt? Willst du jetzt hier rauf klettern? Oder warum klingelst du nicht?" „Hab gestern nen Buch gelesen, da hat der hübsche Junge sich immer zu seiner Freundin geschlichen, weil ihre Eltern die Beziehung nicht erlaubt haben und..." „Und du siehst dich eher in der Rolle des hübschen Jungen, als in der der Freundin mit den strengen Eltern? Wenn dann ist das definitiv umgekehrt", stellte Stegi entschieden fest. „Meinetwegen auch das", Tim trat einen Schritt auf die Hauswand zu und sah kritisch zu dem kleinen Schuppen hinüber, der knapp unter Stegis Fenster stand. „Eigentlich müsste das doch klappen", murmelte Tim und tastete die Regenrinne, sowie die Schuppenwände ab. „Tim, stopp. Du gehst jetzt einfach zur Tür und ich mach dir auf, das hier ist keine romantisches Liebesdrama. Wir sind ganz normale Menschen, die ganz normal über Türen in Häuser gelangen. Wir benutzen verdammt nochmal nicht die Regenrinne!"
Tim antwortete lange Zeit nicht, suchte nur weiter die Wände nach einem geeigneten Vorsprung ab und begann schließlich an der Wand des Schuppens hinauf zu klettern. Schließlich hatte er es ohne Probleme geschafft und saß auf dem Dach des kleinen Schuppens. Grinsend sah er zu Stegi hinauf, dieser stand nur kopfschüttelnd im Fenster. „Vielleicht sind wir ja doch in einem Liebesfilm", Tim sah ihn fordernd an, „ansonsten hätte ich jetzt einfach an der Tür geklingelt." Seine Augen blitzen im Sonnenlicht, er fand das ganze so aufregend, einfach in Stegis Zimmer zu klettern und in seine Augen zu schauen, in denen sich so viele Emotionen spiegelten. „Du bist verrückt, Tim." Tim lachte nur, setzte seinen Fuß an einen Wandvorsprung und klammerte sich an die Regenrinne. Seinen einen Fuß auf dem Vorsprung, den anderen bereits auf dem Fenstersims, hing Tim an Stegis Hauswand und mittlerweile stand dieser nur noch lachend im Zimmer, so verrück sah Tim aus, wie er da hing und völlig entschlossen war zu ihm zu gelangen. „Ich fühl mich grad wie Rapunzel und du bist mein Prinz, Timmi." „Sei leise Stegi, wir wollten einen Liebesfilm, kein Märchen. Und jetzt hilf mir lieber hoch." Er hielt Stegi seine Hand hin, dieser griff danach und zog ihn die letzten Meter ins Haus.
„Und jetzt?", Stegi sah Tim mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Nix, ich wollte sehen ob's dir besser geht." „Tut es. Und jetzt gehst du einfach wieder, oder was?" „Vergiss es, du hast mich schon noch etwas länger an der Backe."
Dramatisch wankte Stegi zu seinem Bett und ließ sich fallen. Tim kniete sich neben ihn. „Sicher, dass es dir gut geht?", fragte Tim ihn besorgt. „Hm", murmelte Stegi, „Ich hab nur quasi nichts gegessen heute. Mein Kreislauf ist so am Arsch." „Dann lass uns was zu essen machen? Habt ihr was da?" Da Stegi seit über zwei Tagen kaum aus seinem Zimmer gegangen war, schlug er vor in die Küche zu gehen und nach zu schauen. Tim hielt Stegi eine Hand hin, die dieser ergriff und Tim zog ihn aus dem Bett. Währenddessen meckerte Stegi Tim an, er solle ihn noch etwas liegen lassen. Nur fünf Minuten, dann würde er aufstehen. Aber Tim ließ ihm keine Gnade. „Stegi, du bist so unglaublich faul", kommentierte Tim Stegis Meckern und lief voraus die Treppen hinunter. Murrend folgte Stegi ihm. „Tim ich bin krank, hab bitte etwas Mitleid." „Du bist gesund genug um mich anzumotzen, dann bist du auch gesund genug um in die Küche zu gehen", Tim wandte sich Stegi zu, „Aber wenn's dir damit besser geht, dann kann ich dich gerne in die Küche tragen." Er lief zurück zu Stegi und ging in die Hocke, damit dieser auf seinen Rücken springen konnte. Lachend nahm Stegi das Angebot an und Tim trug ihn – etwas schwankend – die Treppe hinunter, durch den Flur, in die Küche. Dort ließ er ihn unsanft fallen und gerade wollte Stegi erneut anfangen zu meckern, als Tim ihm hastig einen Finger auf die Lippen legte. „Pst", flüsterte Tim, „deine Mutter."
Bedacht darauf keinen Laut von sich zu geben, spähte Stegi um die Küchenecke ins Wohnzimmer. Die Beiden waren sich stumm einig geworden, dass es besser wäre, seine Mutter nicht von Tims Anwesenheit wissen zu lassen. Zum einen, da Stegi offiziell noch immer krank war und sich deshalb am Morgen vor den Hausarbeiten gedrückt hatte – seine Mutter hatte ihm das zwar abgenommen und wirklich gelogen war es ja nicht, doch er wollte sie nicht reizen, in dem er sich, krank wie er war, mit einem Freund traf – andererseits hatte er seit einigen Tagen das Gefühl, seine Mutter würde zwischen Tim und ihm mehr als reine Freundschaft vermuten und für diese Arten von Spekulationen, wollte Stegi erst recht keinen Anlass bieten. „Sie ist in der Stube", wisperte Stegi Tim zu, „wir sollten wieder nach oben gehen." „Oder flüchten", die Aufregung blitze in Tims Augen auf. „Du liest zu viele Romane, Tim." „Na und? Komm schon Stegobert." Tim sah ihn flehend an, Stegi konnte nicht anders als zu zu stimmen. „Okay, dann los."
Leise schlichen sie durch den Flur. Stegi zog seine Schuhe an und folgte Tim, welcher schon an der Tür stand.
„Wo wollen wir überhaupt hin?" Sie standen an ihrer Kreuzung und Stegi sah hinauf in den wolkenlosen Himmel. „Keine Ahnung", er richtete seinen Finger auf einen der Wege, die von der Kreuzung abgingen, „Ein. Blatt. Fällt. Ab. Vom. Baum. Her. Ab." Sein Finger sprang von einem Weg zum nächsten und landete schließlich auf einem der Abzweige, die geradeaus in die Berge führten. Er griff nach Stegis Hand. „Da lang." Stegi schüttelte lachend den Kopf, folgte seinem Freund aber den Weg entlang, in Richtung der Berge.
Nach einigen Minuten, in denen sie nebeneinander den Weg entlang gelaufen waren, sich über Gott und die Welt unterhalten und an jeder erneuten Weggabelung mit Hilfe des Ein-Blatt-Feld-Ab-Spiels einen Abzweig gewählt hatten, ließ Stegi Tims Hand los und zeigte in den Himmel. Tim sah ihn verdattert an, doch Stegi lachte nur. „Die Schwalben, Tim", raunte er wissend, „Sie fliegen tief." Er sprach so ernst, durchbohrte Tim mit einem warnenden Blick und sagte dann langsam, aber bestimmt: „Es. Wird. Regnen." Dann begann er zu lachen, da Tim ihn noch immer verwirrt anstarrte und mit jeder verstreichenden Sekunde zu realisieren begann, worauf Stegi hinaus wollte. „Stegi, das sind Naturgesetz, nimm das bitte ernst." Beleidigt lief er voraus, blieb an der nächsten Ecke stehen und zählte erneut ab, in welche Richtung sie gehen würden. „Tut mir leid, Timmi. Aber meinst du nicht, dass es etwas ungünstig wäre, wenn es jetzt anfängt zu regnen? So mitten im nirgendwo?"
Ja, nirgendwo, das war wahrscheinlich die beste Bezeichnung für den Ort an dem sie sich befanden. Durch Tims eigenartige Art den Weg zu bestimmen, wusste keiner von beiden, wo sie sich nun befanden und auch nicht, wie sie dort hingelangt waren. Geschweige denn wie sie zurückkommen würden.
„Außerdem", begann Tim von weiter vorne zu sprechen, „war das zwar eine Schwalbe, allerdings deuten hochfliegende Schwalben daraufhin, dass das Wetter gut wird." „Jaja, Mr. Lexikon." Stegi verdrehte die Augen, immerhin würde es nicht regnen.
Sie hatten ihren Weg fortgesetzt und standen nun irritiert nebeneinander an dem Ort, an den der Zufall sie geführt hatte. „Wir werden vielleicht nie wieder zurückfinden, aber wenn wir irgendwo für immer bleiben müssen, dann bitte hier." Tim nickte zustimmend und sah sich fasziniert an diesem Ort um.
Sie standen vor einem kleinen See, welcher im Sonnenlicht glitzerte und in den ein Wasserfall mündete. Er war von grauen Steinen umgeben, die von Moos überwachsen waren und alles in allem, hatte dieser Ort etwas Magisches, es schien als würde ein Zauber darauf liegen. Stegi war fasziniert von diesem Platz, im tiefblauen Wasser spiegelte sich der blaue Himmel und unter ihnen lagen die winzig erscheinenden Städte, weit entfernt das gewaltige Meer.
Stegi ließ sich am Ufer nieder, beobachtete Tims Spiegelbild in der Wasseroberfläche und wie dieser sich schließlich neben ihm niederließ. Ihre Hände lagen auf den kalten Felsen, ihre Finger nur wenige Centimeter von einander entfernt. Tims Spiegelbild lächelte Stegi entgegen und Stegi grinste zurück.
Er war so versunken in Tims Lächeln und seine eigenen Gedanken, dass er gar nicht bemerkte, wie Tim seine Hand vom Stein nahm und an Stegis Rücken legte. Fragend wandte er seinen Blick vom Wasser ab und sah zu Tim, der ihn fröhlich angrinste. Er hatte noch nicht einmal in seine Augen gesehen, als Tims Hand gegen seinen Rücken drückte und er, mit einem überraschten Aufschrei, ins Wasser fiel. „Du kannst es echt nicht lassen." Stegi war prustend wieder aufgetaucht und sah beleidigt zu Tim hinauf. Dieser reichte ihm die Hand, bedacht darauf ihn wieder zu sich zu ziehen. Stegi allerdings hatte andere Pläne und zog Tim zu sich ins Wasser. „Du kannst doch nicht ernsthaft erwarten, dass du trocken bleiben darfst", grinste Stegi Tim an, nachdem dieser prustend wieder aufgetaucht war. „Ich hatte Hoffnung", lachte Tim zurück.
„Wenn ich jetzt wieder krank werde, dann hol ich mir nen Anwalt", Stegi ließ sich auf dem Rücken über das flache Gewässer treiben, „Und falls du krank wirst: Ich pflege dich sicher nicht gesund." Abwehrend hob Tim die Hände. „Ich werde es überleben." Damit begann er Stegi mit Wasser vollzuspritzen und jagte ihn über den ganzen, kleinen See, nachdem Stegi versuchte vor dem kalten Wasser zu fliehen. „Ich hasse dich, Tim", fluchte Stegi, als er wieder einmal von den Wasserstrahlen getroffen wurde. „Ich liebe dich auch, Stegi."
Eine ganze Weile jagten sie sich gegenseitig über den See, bis ihnen schließlich kalt wurde und sie zurück ans Ufer schwammen. „Meintest du nicht neulich noch sowas wie ‚Nächstes Mal gehen wir nackt schwimmen'? Wäre mir deutlich lieber gewesen – es ist arschkalt." „Spar dir das Gemecker, hätte ich dich ausziehen sollen, bevor ich dich ins Wasser schmeiße?" „Du hättest mich auch einfach nicht ins Wasser schmeißen können?" „Nee."
Außeratem hatten sie das Ufer erreicht und ihre Hosen und Oberteile zum Trocknen in die Sonne gelegt.
„Meinst du nicht, wir sollten langsam einen Weg zurück suchen", begann Stegi nach einigen stillen Minuten zu sprechen, „ich hab immer noch nichts gegessen und langsam wirklich Hunger." „Du hast immer Hunger Stegi, aber ja, wir sollten uns auf den Weg machen." Sie zogen ihre mittlerweile getrockneten Klamotten an und liefen in die Richtung aus der sie gekommen waren. Immer wieder kamen sie an Abzweige, die sie noch nie zuvor gesehen hatten und an solche, von denen sie nicht sagen konnten, ob sie hier noch immer richtig waren, doch schließlich waren sie von den Bergen in zumindest bewohntes Gebiet gelangt. Von hier aus konnte es nicht mehr all zu weit sein. „Du Tim", meinte Stegi schließlich, „Ich glaube meine Mutter wird mich umbringen, weil ich einfach abgehauen bin." Nachdenklich nickte Tim. „Ja, das könnte sein." „Wow, du bist mir eine große Hilfe. Ich sag ihr einfach du hast mich entführt, dann bringt sie vielleicht dich um und nicht mich." Tim verdrehte die Augen. „Dann würdest du auch sterben, ohne mich kannst du doch nicht leben." „Okay, okay das ist ein Argument", stimmte Stegi ihm zu, „Du allerdings auch nicht ohne mich. Also, wir brauchen eine Lösung." „Vielleicht hat sie ja gar nicht gemerkt, dass du weg warst", überlegte Tim, „ich mein die letzten Tage hast du auch nur im Bett gelegen und so lange waren wir auch nicht weg." „Das glaubst du doch selbst nicht."
„Da ist die Kreuzung", schrie Tim aufgeregt, „Stegi, wir haben es nach Hause geschafft, gleich sind wir da." Stegi konnte Tims Freude nur begrenzt teilen, vor seinem inneren Auge sah er schon den wochenlangen Hausarrest und die Strafarbeiten, die seine Mutter ihm aufzwingen würde, weil er ohne Bescheid zu sagen geflüchtet war. Er rang sich trotz allem ein Lächeln ab, der Ausflug war es schließlich definitiv wert gewesen und wenn er Glück hatte, würde er die Unterstützung seiner Schwester haben und Gnade bekommen, sie mochte Tim schließlich.
Deshalb viel es Stegi an diesem Tag besonders schwer sich von Tim zu verabschieden, ab jetzt müsste er sich alleine seiner Familie stellen und ohne Tim fühlte er sich keines Wegs so sicher, wie wenn er an seiner Seite stand. Er konnte sich nicht einmal mehr erklären, warum er seiner Idee zugestimmt hatte.
„Na dann, wir sehen uns falls du's überlebst." Tim lächelte Stegi aufmunternd an, bevor er sich umdrehte und hinter etlichen Häusern verschwand. Stegi sah ihm, mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, nach.
Sie würden ihn schon nicht umbringen.
Wer hätte es gedacht? Ich lebe noch.
Mal sehen wie lange ihr diesmal warten müsst ups
[2342 Wörter]
Songtext:
free falling - Mean Mr Mustard
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