14. Dezember: Verwirrende Gefühle
Harry hatte das Gefühl, dass die Mauern von Hogwarts noch nie so drückend gewesen waren. Die vertrauten Korridore wirkten plötzlich enger, die Luft schwerer, und jeder Schritt hallte in einer Weise wider, die ihn in seinen Gedanken nur noch tiefer versinken ließ.
Nachdem der Mistelzweig verschwunden war und Draco ihn mit einem undefinierbaren Blick verlassen hatte, war Harry geradewegs hinausgegangen. Die Große Halle und das Murmeln der Schüler hatten ihn überwältigt. Jetzt, allein auf einer der verschlungenen Treppen des Schlosses, ließ er sich mit einem Seufzen auf eine Stufe fallen.
Sein Kopf war ein einziges Chaos. Der Kuss – so kurz und gezwungen er auch gewesen sein mochte – fühlte sich immer noch seltsam lebendig auf seinen Lippen an. Er hob eine Hand, fuhr sich durch das zerzauste Haar und versuchte, das warme, kribbelnde Gefühl zu verdrängen, das bei der Erinnerung daran aufstieg.
Es war nur ein Zauber, sagte er sich zum hundertsten Mal. Es hat nichts bedeutet. Es konnte nichts bedeuten.
Doch je öfter er diese Gedanken wiederholte, desto weniger überzeugten sie ihn. Warum hatte er dann dieses eigenartige Ziehen in der Brust gespürt, als Draco ihn angesehen hatte? Warum fühlte sich der Kuss... richtig an?
Er starrte durch das nahegelegene Fenster in die schneebedeckte Dunkelheit. Alles schien so ruhig draußen, und doch tobte in ihm ein Sturm.
Draco hingegen hatte sich in den Slytherin-Gemeinschaftsraum zurückgezogen, doch die vertrauten Smaragdgrüntöne und das leise Knistern des Kaminfeuers schafften es nicht, ihn zu beruhigen. Er saß in einem der schweren Ledersessel, die Beine angewinkelt und den Kopf auf die Knie gestützt, während seine Gedanken wild durcheinanderliefen.
Was war das gerade?
Der Kuss hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Natürlich war er gezwungen gewesen – ein dummer Zauber, der ihn und Potter in diese peinliche Situation gebracht hatte. Aber warum war es dann nicht einfach nur peinlich gewesen? Warum hatte sich dieser Moment für einen Sekundenbruchteil so... bedeutungsvoll angefühlt?
Er schnaubte leise. „Ich werde verrückt.", murmelte er zu sich selbst und vergrub das Gesicht in den Händen.
Potter. Immer wieder landeten seine Gedanken bei Potter. Es war nicht nur der Kuss – es war alles, was in den letzten Tagen passiert war. Die Aufgaben, der Weihnachtsball, die Gespräche. Draco hatte sich eingeredet, dass er Potter hasste, dass die gegenseitigen Sticheleien und der alte Groll immer Bestand haben würden. Aber jetzt war etwas anders.
Potter hatte ihn auf eine Weise überrascht, die Draco nie erwartet hätte. Da war eine Wärme in seinen Augen, ein Hauch von Ehrlichkeit, der Draco gleichermaßen faszinierte und beunruhigte. Und der Kuss...
Draco schüttelte heftig den Kopf, als könnte er die Gedanken einfach wegwischen. „Es war nichts. Es war nur ein Kuss."
Aber selbst als er es sagte, wusste er, dass er sich selbst belog.
Harry saß immer noch auf der Treppe, als Hermine ihn schließlich fand.
„Da bist du ja!" sagte sie, als sie näher kam, ihre Stirn in Sorge gerunzelt. „Ron hat dich überall gesucht."
Harry zuckte nur mit den Schultern.
Hermine ließ sich neben ihn fallen, strich ihren Umhang glatt und sah ihn mit ihrem durchdringenden Blick an. „Okay, was ist los? Und komm mir nicht mit ‚Nichts', Harry. Ich kenne dich."
Er wollte protestieren, doch ein Blick in Hermines Augen zeigte ihm, dass er keine Chance hatte, ihr etwas vorzumachen. Mit einem schweren Seufzen fuhr er sich wieder durch die Haare.
„Es ist... der Kuss." murmelte er schließlich, wobei seine Wangen erneut heiß wurden.
„Der Kuss?" fragte Hermine, doch ihre Stimme klang weder überrascht noch spöttisch, sondern einfach nur neugierig.
Harry nickte. „Es war... seltsam. Ich meine, es war nur wegen des Mistelzweigs, und es war Draco Malfoy. Aber..."
„Aber?" hakte sie sanft nach.
„Es hat sich nicht so angefühlt, wie es sollte.", gestand Harry. „Es hat sich... richtig angefühlt. Und ich verstehe nicht, warum."
Hermine schwieg einen Moment, dann legte sie eine Hand auf Harrys Arm. „Vielleicht ist es an der Zeit, dass du dir selbst eingestehst, dass Draco Malfoy nicht mehr der Junge ist, mit dem du dich früher immer gestritten hast."
Harry sah sie an, seine Stirn gerunzelt. „Was meinst du?"
„Ich meine, dass Menschen sich ändern können. Und du auch. Vielleicht siehst du ihn jetzt anders, weil er nicht mehr nur ‚Malfoy' für dich ist. Vielleicht ist er einfach... Draco."
Harry starrte sie an, die Worte schienen tief in seinem Inneren Widerhall zu finden.
Draco hatte sich derweil entschieden, den Gemeinschaftsraum zu verlassen. Er musste frische Luft schnappen, musste raus aus den dicken Mauern, die seine Gedanken noch schwerer machten.
Er wanderte durch die schmalen Gänge, bis er schließlich im Innenhof landete. Der Schnee lag dick auf dem Boden, und die eisige Luft biss in seine Wangen. Doch die Kälte klärte seinen Kopf nicht so, wie er gehofft hatte. Stattdessen fühlte er sich nur noch verwirrter.
Sein Blick wanderte zu den sternenbedeckten Himmel. Ein Teil von ihm wollte all das einfach vergessen, wollte sich wieder in seine Rolle als distanzierter Slytherin zurückziehen. Doch ein anderer Teil – ein leiser, beharrlicher Teil – wollte verstehen, warum dieser eine Moment so viel in ihm ausgelöst hatte.
„Potter.", murmelte er leise, sein Atem formte kleine Wolken in der kalten Nacht.
Was immer hier auch geschah, Draco wusste, dass er es nicht ignorieren konnte. Und dass es ihn mit jeder Stunde, die verging, tiefer in einen Strudel aus Gefühlen zog, die er nie für möglich gehalten hatte.
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