EIN KURZER AUGENBLICK
Es war kurz nach Zehn. Sally starrte nervös auf ihre Armbanduhr. „Wo bleibt er nur?", fragte sie leise. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. „Er kommt gleich, ganz sicher", antwortete Paul und strich ihr beruhigend durch ihr braunes Haar. „Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist? Wenn ein Monster...", Sally hörte auf zu sprechen, als Paul seinen Finger auf ihre Lippen legte. Es war wohl eine Art Mutterinstinkt, sich ständig Sorgen um das Kind zu machen. „Er hat genug Erfahrung um zu wissen, wie er mit den Viechern umgehen muss". Pauls Stimme war ganz ruhig.
Sally wusste, dass er Recht hatte.
Schon vor mehr als einer halben Stunde hätte Percy hier sein müssen. Sally hatte ihren Sohn schon so lange nicht mehr gesehen. Sie hatte gar seinen zwanzigsten Geburtstag verpasst. Dabei hatte sie ihn eingeladen nach Hause zu kommen. Sally hatte ihm sogar eine blaue Geburtstagstorte gebacken und eine Handvoll blauer Süßigkeiten bei Seite gelegt. Aber Percy steckte zu dem Zeitpunkt mitten in einem Auftrag und konnte keine Zeit für sie entbehren.
Es waren nun schon fast zehn Jahre, in denen sie ihn nur noch wenige Tage im Jahr sah. Aber es war besser so. Als Sohn des griechischen Gottes Poseidon blieb im fast nichts anderes übrig. Im Camp Half Blood war er zumindest sicher und musste sich keine Sorgen um Monster machen. Das dachte sie jedenfalls.
» «
Der Aufprall auf die Erde war hart. Percy spuckte etwas Blut, richtete sich aber dennoch wieder auf, während er nach Springflut, seinem Schwert, griff. „Annabeth!", schrie er und winkte ihr hastig zu. Sie hatte seinen Ruf bemerkt, reagierte aber zu langsam und wurde von dem Unwesen durch die Luft geschleudert. Percy rannte. Es war sein ADHS, dass er sich trotz der vielen Schrammen und Verletzungen überhaupt noch auf den Beinen halten konnte. Er war ständig voller Energie. Und schone einige Male hatte ihm das im wahrsten Sinne des Wortes sein Leben gerettet.
Percy kniete sich vor Annabeth hin. Strich ihr ihre blonden Locken aus dem Gesicht, legte dabei aber sein Schwert nicht aus der Hand. „Alles in Ordnung?", fragte er sie. „Du siehst schlimmer aus", meinte sie nur und sprang gleich darauf wieder auf. Percy musste grinsend. Er stürzte sich wieder ins Gefecht.
Noch während des Spiels „Flagge erobern" hatte Chiron, ein Zentaur, alle Halbgötter zusammengerufen. Ein nemeischer Löwe war aus unbekannten Gründen ins Camp gedrungen und wollte das tun, was alle Monster tun wollten: Halbgötter töten und fressen. Das Spiel wurde abgebrochen und gleich darauf war das Camp in Blut und Chaos versunken.
„Was hat dieses Katzenviech für eine Schwachstelle?", wollte Percy wissen, während er mit Annabeth zu einer Waffenhalterung lief, damit diese sich einen Speer schnappen konnte. Annabeth war eine Tochter der Athene, der Göttin der Weisheit und der Kriegskunst. Und sie hatte immer einen Plan. Beziehungsweise, anders als er hatte sie immer einen guten Plan. Und darauf hoffte Percy auch jetzt. „Das ist ein nemeischer Löwe. Das Vieh ist unverwundbar. Das Katzenviech hat keine Schwachstelle", meinte sie plump, ging mit dem Speer auf Angriffsposition, beobachtete den Löwen allerdings nur. Bevor sich der Sohn des Poseidon darüber wundern konnte, dass dieses Monster angeblich unverwundbar war, explodierte eine hölzerne Hütte nach einem unglaublich hellen Aufleuchten. „Verdammt", dachte sich Percy. „Da hat es Thalia, eine Tochter des Zeus, ordentlich krachen lassen. Hoffentlich war niemand in der Krankenstation". Zwischen dem ganzen Kriegsgebrüll, nahm Percy auch die laute Stimme von Chiron wahr. Er fluchte über Thalia. Umso mehr hoffte Percy, dass sich niemand in der Hütte befunden hatte.
Annabeth lief frontal auf den Löwen zu und schaffte es, die Spitze ihres Speeres direkt in eins seiner Augen zu stechen. Obwohl sie selbst gerade eben noch gesagt hatte, dass dieser Löwe keine Schwachstelle hatte, hatte sie sich kurz gewundert, warum ihre Waffe keine Sekunde später in der Mitte zerbrochen war. Das Ungetüm lief ohne irgendwelche Schäden weiter und jagte einem jungen Halbgott hinterher.
„Gibt es echt keine Möglichkeit das Vieh zur Strecke zu bringen? Irgendwo muss es doch eine Schwachstelle haben!", kam Percy zu Wort, nachdem er Annabeth aufgeholt hatte. „Ich weiß nicht", meinte Annabeth und warf den Rest ihres abgebrochenes Speeres auf den Boden. Dass die Tochter der Athene mal etwas nicht wusste, ließ Percy etwas perplex zurück. Der Löwe musste echt keine Schwachstelle haben. „Als Herakles, du weißt schon, der Held, ihn damals mit seinen Pfeilen abgeschossen hatte, waren sie auch einfach vom Fell abgeprallt. Da hatte er gemerkt, dass das Vieh unverwundbar war. Aber als er dem Löwen eine massive Keule auf den Schädel gedonnert hatte, war er zumindest für eine kurze Zeit etwas benommen in einer Höhle verschwunden", erinnerte sich Annabeth aus einer Erzählung der Griechischen Mythologie. „Das könnten wir doch probieren", schlug Percy vor, während er den Löwen nicht außer Acht ließ. Gerade eben jagte er Clarisse, einer Tochter von Ares, hinterher. „Die kann er ruhig noch ein Weilchen verfolgen bis wir einen Plan haben", dachte Percy, während er sich daran erinnerte, wie sie ihm einmal seinen Kopf in die Toilettenschüssel gedrückt hatte. „Clarisse wird ihn auf Trab halten", behauptete der Sohn des Poseidon dann und nahm sich die Zeit um Annabeth einen Blick zuzuwerfen. Ihr hübsches Gesicht war von einer langen Wunde verunstaltet worden. Sie hatte Glück gehabt, dass das Vieh ihr keine Auge ausgekratzt hatte. „Herakles hat den Löwen mit seinen eigenen Krallen aufgeschlitzt", erzählte Annabeth einfach weiter, ohne auf Percys Äußerung einzugehen. „Nur diese Krallen waren dazu in der Lage, die Haut des Löwen zu verletzen". „Wie gut, dass wir keine Krallen haben", sagte Percy ironisch und festigte seinen Griff um Springflut. „Aus welchem Material waren diese Krallen? Himmlischer Bronze?", wollte Percy dann wissen und wandte seinen Blick den anderen Halbgöttern zu, die sich in den Kampf stürzten. „Das glaube ich nicht", antwortete die Tochter der Athene dann. „Dann hätten unsere Waffen schon längst etwas bewirkt". „Gut", meinte Percy. „Dann haben wir ein gewaltiges Problem".
» «
Das Rauschen des Meeres unterbrach die Stille. Sally beobachtete, wie Ebbe und Flut verrückt spielten. Rasante Wellen rasten auf die Küste zu. „Das Meer ist aufgebracht", bemerkte Sally und sah zu ihren Zehen hinab. Nasser Sand klebte daran. „Ich habe es schon lange nicht mehr so hektisch erlebt", sprach sie beunruhigt weiter. Worüber Poseidon sich so sehr aufregen musste? Oder war es doch Percy? Sally setzte sich mitten in den Sand. Mittlerweile war es ihr egal, dass unzählige Sandkörner an ihr klebten. Manche Welle reichten ihr bis an den Bauchnabel. Ihre Kleidung triefte, doch auch das kümmerte sie nicht.
Sally warf erneut einen Blick auf ihre Uhr. „Wenn er bis halb Elf nicht erscheint, können wir gehen", fasste sie dann Paul zuliebe denn Entschluss, obwohl sie noch den ganzen Tag hier hätte warten können. Sie wollten ihren Percy unbedingt sehen. Denn nach einem Treffen konnte sie sich nie sicher sein, ob sie ihren Sohn jemals wieder sehen würde.
» «
Obwohl der nemeische Löwe direkt auf Percy zurannte, blieb der Sohn des Poseidon einfach stehen. „Algenhirn, bist du jetzt völlig wahnsinnig?", rief Annabeth ihm zu, während sie versuchte die Aufmerksamkeit des Löwen auf sie zu lenken. Das war das ziemlich erste Mal, dass ihr guter Plan keine Wirkung erzielte. Der Löwe beharrte darauf, Percy erst in den Himmel und dann in die Unterwelt zu katapultieren. Das Monster war nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Der Sohn des Poseidon aber rührte sich keinen Millimeter. Er hatte so etwas wie einen Geistesblitz. Kurz bevor sich die Krallen des Unwesens auf ihn stürzen konnten und die riesigen, scharfkantigen Zähne das Fleisch des Halbgotts zermalmten, ergriff Percy doch die Flucht. Und das wie!
Percy hörte Annabeth schon in Gedanken schimpfen: „Was hast du dir dabei gedacht?" Oder: „Wenn du so unbedingt sterben willst, kannst du auch einfach Clarisse fragen!" Percy rannte. So schnell, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. „Wo willst du hin?", hörte er Chiron rufen, doch er reagierte nicht darauf. Percy hatte einen Plan. Wenn auch einen unüberlegten und vielleicht schlechten. Nun gut, er war ziemlich sicher unüberlegt und schlecht. Aber es war der einzige Plan, den er hatte.
Ein paar Mal wäre Percy fast gestolpert, doch sein Adrenalin hielt ihn doch im Gleichgewicht. Das Adrenalin, das Grummeln des Monsters und das Fletschen der Zähne. Er rannte an seiner Hütte, der Poseidon-Hütte, vorbei, hinauf auf die Klippe. Da tat er dann etwas sehr Dummes. Er blieb stehen und wandte dem Löwen seinen Rücken zu. Sein Blick glitt hinab. Er befand sich ein paar Meter im zweistelligen Bereich über dem See, der vom Wald und der Barriere umringt war. Percy schloss die Augen. Er konzentrierte sich auf das Wasser vor ihm, versuchte dabei die Geräusche des Monsters, das nicht weit hinter ihm sein musste, auszublenden. Er spürte, wie eine elektrische Energie begann durch seine Adern zu fließen. Dann schaffte er es, das Wasser aus dem See zu kontrollieren. Eine gigantische Wassermenge flog aus dem See hinauf zu ihm und kesselte Percy in einer Art Schutzschild ein. Gerade als er sich zum Löwen umdrehte, sah er, wie dieser frontal auf ihn zusprang.
Diesmal waren es die Krallen des Löwen, die an der Wasserwand abprallten. Das Monster keuchte auf. Percy sah, wie Chiron, Annabeth und mindestens ein Dutzend anderer Halbgötter auf ihn und das Monster zu rannten. Das Unwesen war durch die Schritte der Anderen abgelenkt und drehte sich zu ihnen um. Im selben Moment schoss die Wassermenge, die Percy soeben geschützt hatte, auf das Monster zu und kreisten diesen ein. Genau, wie Percy erwartet hatte, zuckte dieser zusammen. Er ließ die Wassermenge mitsamt den Löwen abheben, schickte die blasenförmige Wasserkugel auf den See und ließ die Wassermenge sich genau dann auflösen, als der Löwe sich ungefähr über der Mitte des Sees befand. Es dauerte nicht lange, bis der Löwe ins Wasser geplumpst war. Es war genau die richtige Stelle. Es war zu weit bis zu einem Ufer. Der Löwe würde es nicht mehr aufs Land schaffen, dazu hatte er zu wenig Kraft, da war sich Percy sicher. Er würde ertrinken.
„Wie zum Teufel bist du denn auf diese Idee gekommen?", wollte Annabeth wissen. Sie war die Erste, die sich traute, das Geschehen von eben anzusprechen. Percy ließ sich erschöpft auf das Gras fallen. Der Einsatz seiner Macht war immer wieder sehr kraftraubend. Diesmal war es Percy, der mit den Schultern zuckte. Annabeth kniete sich zu ihm nieder. „Eine Löwe ist nichts anderes als eine große Katze. Und Katzen hassen Wasser", erklärte Percy und musste dann grinsen. Es gefiel ihm einmal einen besseren Plan gehabt zu haben als Annabeth. „Das hast du super gemacht!", lobte Annabeth ihn darauf hin und wuschelte ihm einmal durch sein dunkles Haar. Percy gab ihr einen kurzen Kuss auf die Wange. „Ich weiß, Neunmalklug, ich weiß!"
» «
„Komm, wir gehen", beschloss Sally dann, erhob sich aus dem Sand und klopfte sich ihre kurze Hose sauber. Paul nickte nur kurz, schnappte sich dann ihre Hand und ließ ein letztes Mal den Blick über das Meer schweifen. Mittlerweile hatte es sich beruhigt. Es tobte nicht mehr. Die Wellen waren jetzt ganz ruhig unterwegs. Sally drehte sich nach rechts, warf einen kurzen Blick auf das Flugzeug im Himmel und sah dann zu Pauls Auto. Gerade als sie ansetzen wollte zu gehen, kam ihr ein Gedanke. Sie musterte das Flugzeug. Es war pechschwarz. Als sie dann die vier Beine des Flugzeugs sah, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Das war Blackjack. Percys Pegasus. „Er kommt! Er kommt doch noch!", rief sie erfreut. Paul sah ihre Augen funkeln.
Der Pegasus landete keinen Meter von Sally und Paul entfernt. „Percy!" „Mum", erwiderte dieser, als er von Blackjack abstieg. „Ich bin doch hoffentlich nicht zu spät?", grinste Percy, während er seiner Mutter in die Arm fiel. „Nur ein bisschen", erwähnte Sally hochglücklich. „Wo warst du denn solange?", wollte sie nun doch wissen, während ihr Sohn auch Paul kurz in den Arm nahm.
„Ach, ich musste nur kurz das Camp retten", winkte Percy und zwinkerte ihr zu.
„Jetzt bin ich ja da".
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro