Teil 04
Lauter als beabsichtigt ließ Jay die Glastür der Dusche hinter sich zufallen, sodass das Glas in seinem Rahmen zu vibrieren schien. Einen Moment lang verharrte er still, lauschte auf mögliche Rufe seiner Eltern, aber er hörte lediglich das dumpfe Brummen der Waschmaschine. Erleichtert rubbelte er sich mit dem Handtuch die schwarzen Haare trocken und streifte sich anschließend sein Shirt und die Jogginghose über. Er hatte ausnahmsweise recht kalt geduscht, um die Hitze des Joggens aus seinen Wangen zu bekommen und seine Gedanken neu sortieren zu können. War das vorhin wirklich der Junge vom Weihnachtsmarkt gewesen? Oder hing er in seinen Gedanken noch immer an diesem unglücklichen Ereignis fest, sodass er sich etwas eingebildet hatte? Immerhin hatte er keinen wirklichen Blick auf ihn werfen können, ohne auffällig stehen zu bleiben. Aber er war sich fast schon sicher gewesen, die braunen Strähnen wiederzuerkennen, die blaue Mütze und die abgenutzten Vans. Es war doch kein Zufall, dass noch jemand diese Kombination besaß und dann auch noch so ähnlich aussah, oder? Es musste einfach dieser Junge gewesen sein.
Ob dieser ihn auch erkannt hat? Oder hatte er sich zu sehr auf seinen Hund konzentriert? Immerhin wirkte dieser schon ziemlich eindrucksvoll, vor allem für jemanden wie Jay, der wirklich kein Hundemensch war.
Er hatte nichts gegen die schwanzwedelnden Gefährten, aber er verstand die Faszination nicht wirklich, die manche Menschen diesen Tieren entgegenbrachten. Da kuschelte er lieber zuhause mit Ork und hörte sich das leise Schnurren der Katze an. Sie waren ohnehin viel pflegeleichter, denn ständig mit einem Hund spazieren zu gehen, war nicht unbedingt Jays Lieblings-Vorstellung. Ein Hund schien viel mehr Verantwortung mit sich zu bringen als eine kleine Katze. Seine Eltern würden aber ohnehin nie der Idee eines Hundes im Haus zustimmen, dafür waren sie viel zu sehr auf Ordnung und Sauberkeit fixiert. Ein kleines Familienmitglied, welches noch mehr Haare verlor als Ork es schon tat, schien der persönliche Albtraum seiner Eltern zu sein.
Fast so ein großer Albtraum wie ihr eigener Sohn, dachte er, als er sein Zimmer betrat und auf eine leere Tüte Chips trat. die laut knisternd protestierte. Irgendwann würde er schon aufräumen, nur nicht jetzt. Jegliche Motivation dafür schien zu verschwinden, sobald er das Chaos wieder vor Augen hatte und sich in Erinnerung rief, dass seine Mutter sein Zimmer sicher durchsuchen würde, sobald es betretbar wurde. Also lieber abwarten, bis es ungefährlicher wurde oder er einen besseren Platz hatte, um seine privaten Sachen zu verstecken. Eine Diskussion über Geschlechterrollen und wie peinlich es war, ein Kleid als Junge zu besitzen, wollte er lieber vermeiden.
Er hasste es, mit seinen Eltern zu streiten, auch wenn man es wohl kaum so nennen konnte. Meistens schrie seine Mutter herum, sein Vater saß mit einem tief enttäuschten Blick daneben und Jay kämpfte mit den Tränen. Ein Mal war es so weit gekommen, dass seine Mutter eine Schere genommen und seine Haare so kurz geschnitten hatte, dass sie wirr von seinem Kopf abstanden. Danach hatte er sich zwei Monate lang nur noch mit Mütze aus dem Haus getraut und heimlich alle Scheren aus der Küche verschwinden lassen. Bisher war das noch niemandem wirklich aufgefallen...
Seufzend ließ er sich auf sein Bett fallen und drehte sich auf den Rücken. Mit einem leisen Laut verband sich sein Handy mit der kleinen Stereoanlage, die irgendwo unter einem alten Hoodie auf der Fensterbank stand. Laut Musik hören durfte er zwar nicht, aber er mochte es, sie leise im Hintergrund spielen zu lassen. Nach kurzem Zögern wählte er eine von Spotify regenerierte Playlist aus, die gleich mit "Dance with somebody" von Mando Diao begann. Irgendwann war es zu einem kleinen Hobby von Jay geworden, sich Lieder einzuprägen, ihre Namen und die Künstler dahinter. Er mochte das Gefühl, direkt nach den ersten paar Sekunden zu wissen, auf was er sich da eingelassen hatte. Es war eine angenehme Beschäftigung während langer Autofahrten geworden und auch wenn er sein Wissen nie wirklich teilte, erfüllte es ihn mit einem stolzen Gefühl, wenn er das Lied richtig deutete.
Nur mit Nils konnte er manchmal die Songtitel laut aussprechen, aber selbst dieser war nicht immer wirklich begeistert darüber. Übel nehmen konnte Jay ihm das aber nicht, also blieb er sein privates Hobby.
Sobald die Musik lief, wechselte er von Spotify zu Instagram und überflog kurz seine Benachrichtigungen. Meistens waren es nicht viele, wenn überhaupt, vielleicht Nachrichten von Sarah und Mitteilungen über irgendwelche Posts. Jay folgte auch nicht besonders vielen Menschen und die wenigen, die er von diesen nicht persönlich kannte, waren meistens Freunde von seinen Freunden. Er war eher einer der stillen Beobachter, die zwar stundenlang scrollen konnten, aber selten etwas mit einem Like versahen oder mit anderen Leuten teilten. Sein eigener Account bestand auch nur aus einem Bild von Ork und einem Bild von ihm selbst, zusammen mit Ork. Das war der Tag gewesen, an dem er das Kätzchen bekommen hatte, und irgendwie hatte er den Moment teilen wollen.
Doch diesmal fiel ihm noch eine andere Benachrichtigung ins Auge, die wirklich zu den seltensten gehören musste, die er jemals bekommen hatte. "RainydayS folgt dir jetzt", stand dort neben einem dazugehörigen Profilbild. Ein wenig irritiert tippte er auf den Accountnamen, denn normalerweise schreiben ihm seine Freunde vorher, wenn jemand seinen Instagram-Namen wollte.
Das Profilbild zeigte eine Zeichnung eines Frosches in gelb, violett und weiß, der auf zu einer Schale geformten Händen saß. Die Pronomen dey/deren waren angegeben, was Jay dazu brachte, die Augenbrauen verwirrt zusammenzuziehen. Er hatte zwar schon mal von solchen geschlechtsneutralen Pronomen gehört, aber bisher immer nur im Englischen. Er kam sich seltsam blöd vor, sich nie gefragt zu haben, wie man sowas im Deutschen ausdrücken konnte. Sein Blick wanderte von den Pronomen weg und stattdessen auf die eigentlichen Posts zu, in der Hoffnung, somit mehr über diese Person herauszufinden. Und warum sie ihm nun folgte, immerhin fiel ihm niemand in seinem Umkreis ein, der so ein Profil haben würde.
Tatsächlich wurde er recht schnell fündig und als er die dunkelroten Haare entdeckte, erklärten sich seine Fragen auch. Seine neuen Nachbarn, die extra vorbeigekommen waren, um sich vorzustellen. Sie hatten ihr Kind mitgebracht, wenn man es noch so nennen konnte. Allerdings meinte Jay sich daran zu erinnern, dass dabei ein anderer Name gefallen war. Aber er war auch nicht lange genug dabei gewesen, um sich wirklich sicher zu sein. Außerdem schien - er scrollte rasch nochmal nach oben - Rain sich anders zu fühlen, als dey vorgestellt wurde. Dementsprechend war es ohnehin egal, was deren Eltern gesagt hatten, oder? Auch wenn es für ihn ungewohnt war und er nicht wirklich viel über dieses Thema wusste, war er sich dennoch bewusst, dass jeder Mensch so gesehen werden sollte, wie er sich fühlte. Jay wünschte sich immerhin auch, dass seine Eltern es einfach akzeptieren würden, dass er seine Haare lieber länger trug und den Namen Jonas nicht wirklich mochte.
Gedankenverloren sah er sich weitere Posts an, ein wenig interessiert daran, was genau Rain in der Gegend so trieb. Immerhin war er hier noch recht neu und dementsprechend wusste er noch nichts wirklich mit sich anzufangen. Hoffentlich würde sich das ändern, sobald die Schule im neuen Jahr wieder anfangen würde und er neue Freunde fand. Neben Nils, der jetzt zwar in seiner Nähe wohnte, aber kaum Zeit zu haben schien.
Jay wollte sein Handy gerade wieder weglegen, als ihm plötzlich ein Bild ins Auge sprang. Überrascht lehnte er sich ein wenig nach vorne und blinzelte ein paar Mal. Auf dem Bild befand sich eine regelrechte Masse an Menschen, die alle bunte Fahnen trugen oder Regenbogen auf den Wangen hatten. Doch im Vordergrund des Bildes standen Rain, deren Haare zu diesem Zeitpunkt anstatt rot noch schwarz gefärbt waren. Dey hatte eine Flagge um die Schultern gewickelt, die die gleichen Farben präsentierte wie der Frosch auf dem Profilbild. Ein vergnügtes Lachen lag auf deren Gesicht und dey hatte einen Arm um die Schultern eines Jungen gelegt.
Aber nicht einfach irgendein Junge, sondern der von dem Weihnachtsmarkt, mit dem schwarzen Hund. Er hatte ebenfalls eine Flagge in der Hand, allerdings war diese hellblau, rosa und weiß gestreift, bereits übersät mit verschiedenen Unterschriften. Neugierig zoomte Jay ein wenig weiter an das Bild heran, ein aufgeregtes Kribbeln in den Fingerspitzen. Mittlerweile konnte es kaum noch Zufall sein, oder? Dass sie einander ständig begegneten, zumindest fühlte es sich für Jay so an.
Ausnahmsweise schien der Junge keine Mütze zu tragen und stattdessen hingen seine dunkelblonden Haare in leicht lockigen Strähnen nach unten. Sie waren gerade so lang genug, um bis zu seiner Nasenspitze zu reichen und verdeckten halbwegs die Augen.
Enttäuscht musste Jay feststellen, dass sich die Augenfarbe auf dem Bild nicht erkennen ließ. Dafür aber das warme Lächeln auf den Lippen des Jungen und die dabei entstehenden Grübchen.
Fasziniert starrte Jay das Bild an und war kurz davor, einen Screenshot davon zu machen, aber dann bemerkte er die Schrift unter dem Bild. Neugierig las er sich den kleinen Text durch: "Endlich wieder CSD mit meinem Lieblingskind @littleWolfstarChild! Happy Pride!!"
Jays Mundwinkel zuckten leicht hoch, als er diesen Benutzernamen sah. Wolfstar? Entweder noch ein sehr großer Zufall oder der Junge in dem Bild bezog sich wirklich auf Remus Lupin und Sirius Black aus Harry Potter.
Neugierig ließ er sich zu dessen Account weiterleiten und tatsächlich, es war der Junge von dem Weihnachtsmarkt. Auch hier waren Pronomen angegeben: "he/him". Darunter stand zusätzlich ein Name, worauf Jay innerlich ein wenig gehofft hatte. Irgendwie nahm es dem Ganzen das etwas unrealistische Gefühl, wenn er den Namen seiner neuen Bekanntschaft wusste. Es war wie eine kleine Versicherung, dass alles wirklich passiert war und kein zufällig sehr realistischer Traum. "Elijah" sprach er es leise aus und schloss kurz nachdenklich die Augen. Der Name passte irgendwie, sodass es nicht wirklich schwer war, die Bilder in seinem Kopf mit ihm zu verbinden. Rasch stand er auf und holte sein Notizbuch, in das er bereits die kleine Skizze von Elijah gemalt hatte, und schlug die passende Seite auf. Hastig nahm er sich einen Stift und versah die Seite endlich mit dem richtigen Namen.
Erst dann nahm er sich die Zeit, sich auch diesen Account genauer anzusehen. Tatsächlich fand er dasselbe Bild, welches er auch schon bei Rain gefunden hatte. Es gab noch ein paar ähnliche Bilder von dem CSD und einige von verschiedenen Hunden. Wirklich viel von sich selbst schien Elijah jedoch nicht zu posten, als wäre er zu unsicher für solche Öffentlichkeit. Vielleicht fand er auch einfach kein Interesse daran, Jay hatte immerhin auch nicht viel von sich auf Social Media hochgeladen.
Er wechselte von Instagram zu Ecosia und gab in das Suchfeld "CSD" ein. Jay wollte kein Stalker sein oder Ähnliches, aber es interessierte ihn einfach, was genau sich hinter diesem Ereignis versteckte. Normalerweise hielten seine Eltern ihn von solchen Sachen fern, sodass er irgendwann einfach das Interesse daran verloren hatte, aber jetzt drängte es sich ihm beinahe schon auf. Er musste es schon irgendwie nachschauen und das hing sicherlich nicht nur mit seiner Neugierde gegenüber Elijah zusammen.
Dieser verwirrte ihn ohnehin ein wenig, oder eher seine Faszination für den eigentlichen Fremden. Fand er ihn wirklich so cool? Und warum blieb dessen Gesicht die ganze Zeit in seinem Unterbewusstsein hängen? Wahrscheinlich aufgrund der seltsamen Umstände, diesem ständigen Wiederbegegnen in dieser kurzen Zeit. Vielleicht lag es auch daran, dass Elijah der einzige war, der Jay in dieser Stadt bisher wirklich aufgefallen war und nicht in der Masse an Menschen versank.
Es dauerte nicht lange, und er war viel zu tief in den verschiedenen Artikeln versunken, die über CSDs berichteten oder alle möglichen Bezeichnungen erklärten. Es war eine ganze Menge an Informationen, die Jay beinahe schon zu überfluten schienen, sodass er sich irgendwann ein anderes Notizbuch dazu holte und sich ein paar Sachen aufschrieb.
Natürlich war es ihm nicht völlig fremd, dass es queere Menschen gab und dass es noch mehr Orientierungen als nur schwul und lesbisch gab, aber mit so vielen Möglichkeiten hatte er irgendwie nicht gerechnet. Es war beinahe so, als würde er mit jedem Klick tiefer in eine völlig andere Welt rutschen. Dabei schwebte ihm die ganze Zeit das Foto von Rain und Elijah vor, wie glücklich die beiden gewirkt hatten, wie stolz sie die Flaggen hielten. Ein seltsamer Stich durchfuhr ihn bei dem Gedanken - ein Anflug von Neid? Dafür, dass sie einfach so natürlich dabei wirkten. Als wären sie völlig im Einklang mit dem, wer sie waren, wie sie waren. Jay dagegen fühlte sich seltsam fremd in seiner Haut, seltsam angestrengt dabei, er selbst zu sein. Je mehr er las und je mehr er aufschrieb, desto mehr machte sich das Gefühl in ihm breit, dass ihm selbst etwas fehlte. Ein wichtiger Teil seiner eigenen Identität, die andere schon gefunden hatten.
Aber was? Was genau fehlte ihm? Er hatte doch eigentlich alles, was man brauchen konnte, er war nie gemobbt worden, er hatte Freunde, Eltern, Menschen, die ihn mochten.
Aber was mochten sie an ihm? Besaß er überhaupt wirklich eine Identität? Er hatte noch nie so wirklich darüber nachgedacht, dass er erschreckend wenig besaß, was ihn ausmachen konnte. Wie eine Figur in einem Buch, die nicht wirklich ausgearbeitet wurde.
Der Gedanke wirkte irgendwie beängstigend und bevor er sich noch fester in seinem Kopf verankern konnte, schloss er die Tabs und warf sein Handy auf einen Haufen Klamotten auf dem Boden. Er war nicht mit all diesen Sachen verbunden, wahrscheinlich bildete er sich dieses Gefühl einfach nur ein. Es war die Aufregung, jemanden gefunden zu haben, den er zuvor noch nicht gekannt hatte. Die Aufregung über etwas Neues, mehr war es nicht. Sie würde verschwinden, sobald er sich ein wenig ablenken würde und in einer Woche würde er sich wahrscheinlich nicht einmal mehr daran erinnern, sich jemals so gefühlt zu haben.
Kopfschüttelnd ließ er auch die Notizbücher wieder fallen und kletterte dann aus seinem Bett.
Er wollte ein wenig Distanz zwischen sich und dieses Thema bringen und am einfachsten fiel es ihm, wenn er dafür auch räumlichen Abstand aufbaute.
Jay schloss seine Zimmertür ordentlich hinter sich und lief weiter in die Küche. Sollte er nochmal rausgehen und sich die kalte Luft zum Vorteil machen? Sie würde ihn sicherlich auf andere Gedanken bringen können. Seufzend schnappte er sich ein Aufbackbrötchen, das am Morgen übrig geblieben war, und schrieb seinen Eltern dann einen Zettel, dass er nochmal rausgegangen war. Sie wussten gerne, wo er war, und auf seinem Handy befand sich eine App, mit der sie seinen Standort ermitteln konnten, aber das ließ er diesmal zuhause. Er wollte nicht so lange wegbleiben, dementsprechend würde er es wohl kaum brauchen. Auf Musik hatte er erstmal auch keine Lust mehr, denn er brauchte ein wenig Ruhe, um seine eigene Gedanken zu sortieren, deswegen gab es keinen Grund, das kleine Gerät mitzunehmen.
Etwas ziellos streifte Jay draußen durch die recht leeren Straßen und blinzelte hin und wieder zu dem grauen Himmel hoch. Dort ließ sich nicht einmal die Sonne blicken, also würde es wohl sehr schnell dunkel werden. Noch ein Grund, um bald wieder umzudrehen, aber noch hatte er Zeit. Kein wirkliches Ziel vielleicht, aber er hatte die Stadt ohnehin noch genauer kennenlernen wollen. Ein ungeplanter Spaziergang war dafür doch die beste Möglichkeit, oder?
Ein paar Minuten später fand er sich auf einer Art Platz wieder, umgeben von Cafés und anderen kleinen Läden, die hauptsächlich auf Touristen abgestimmt waren. In der Mitte stand bereits ein großer Weihnachtsbaum, dessen Lichterkette mit den momentanen Lichtverhältnissen recht blass wirkte. Später, wenn es wirklich dunkel war, sah sie bestimmt recht schön aus, aber so lange wollte Jay hier nicht warten. Stattdessen entschied er sich dafür, einmal um den Platz herumzugehen und sich die Läden anzusehen, bevor er dann wieder nach Hause laufen würde. Vielleicht hatte seine Mutter diesmal sogar etwas gekocht oder sie würden zumindest etwas bestellen.
Gedankenverloren biss er von seinem Brötchen ab und sah sich die Dekoelemente in einem Schaufenster an, als er plötzlich lautes Lachen hörte. Neugierig drehte er den Kopf und beinahe hätte er einen erschrockenen Laut von sich gegeben. Denn in der Nähe des Weihnachtsbaums liefen Elijah und Rain über den Platz, vertieft in ein offensichtlich sehr amüsantes Gespräch.
Rains rote Haare wippten mit deren Schritten mit und dey lief ein wenig schneller als Elijah, der unter dem Arm ein Skateboard hielt und losgelöst über etwas lachte. Wie zum Beweis, dass er Elijah heute morgen wirklich im Park gesehen hatte, trottete den Beiden der schwarze Hund hinterher. Jay wollte sich gerade abwenden und in den Laden fliehen, als Elijah plötzlich den Kopf drehte und genau in seine Richtung sah. Jay erstarrte wie eine Maus, die von einer Katze fixiert wurde, und war sich plötzlich sehr seinem Outfit bewusst. Er trug immer noch die Jogginghose und die war sicherlich nicht mehr wirklich sauber, außerdem waren seine Haare noch halb nass und klebten an seinen Wangen fest, die sich plötzlich sehr warm anfühlten. Er schluckte schwer und riss den Blick dann von den Beiden los, um hastig in dem Laden hinter sich zu verschwinden.
Das konnte doch wirklich kein Zufall mehr sein, oder? Rasch duckte er sich hinter einem Regal voller Vasen und tat so, als würde er sich besonders für eine aus dunkelblauem Glas interessieren. Das seltsam warme Gefühl in seinen Wangen nahm langsam wieder ab und auch die plötzliche Spannung verschwand wieder, hinterließ nur eine leichte Verwirrung. Warum hatte er sich plötzlich so unbedingt verstecken wollen? Vor Scham? Lag es etwa immer noch an dem Unfall auf dem Markt, dass der Gedanke an den Dunkelblonden ihn in so eine Aufregung versetzte?
Jay schüttelte heftig den Kopf und schob diesen Gedanken energetisch beiseite. Er war doch absichtlich rausgegangen, um sich abzulenken, nicht um Elijah nochmal über den Weg zu laufen. Hoffentlich auch zum letzten Mal, denn jetzt war es wirklich peinlich geworden. Beschämt sah er an dem Regal vorbei, wobei er erleichtert feststellte, dass die Beiden mittlerweile wieder verschwunden waren. Vielleicht hatte Elijah ihn auch überhaupt nicht erkannt? Möglich wäre es immerhin und auch wenn ein Teil von ihm darauf hoffte, gab es auch einen kleinen Teil, der sich das Gegenteil wünschte. Wenn er selbst ständig an den eigentlichen Fremden denken musste, wäre es doch nur fair, wenn es diesem ähnlich ging, oder nicht? Er wollte auch gar nicht, dass Elijah beim nächsten Mal auf ihn zurennen und ihn nach seinem Namen fragen würde, aber wenn dieser zumindest sein Gesicht wiedererkannte, war es geteiltes Leid. Zumindest solange man es als Leid bezeichnen wollte, ständig an jemanden denken zu müssen, mit dem man bisher noch kaum geredet hatte.
Jay wusste selbst nicht so genau, ob er es als Leid empfand. Ob er es überhaupt als irgendetwas empfand, abgesehen von verwirrend. Denn das war es definitiv.
Nachdenklich biss er sich auf die Unterlippe und starrte auf ein Stofftier, das von dem Laden als Rudolf verkauft wurde. Jetzt wünschte er sich, er hätte sein Handy mitgenommen, damit er jetzt im Internet nach einer Begründung für seine Verwirrung suchen könnte. Es musste doch irgendeine sehr einfache Erklärung geben, vielleicht eine Art Schock von dem Zusammenstoß auf dem Markt? Oder es lag daran, dass Rain und Elijah das völlige Gegenteil zu allem waren, was Jay gewohnt war. Die Beiden schienen alles zu sein, wovor seine Eltern ihn zu schützen versucht hatten. Auch wenn er sich nicht sicher war, ob man es wirklich schützen nennen wollte. Es war eigentlich eher ein Fernhalten und Abschirmen, um mögliche Einflüsse auf ihn zu verhindern.
Rain und Elijah waren vielleicht das Gegenteil von "normal", aber was war das schon? Was war so wünschenswert daran, sich der Gesellschaft völlig anzupassen? Vielleicht war das genau der Grund für dieses seltsame Gefühl, dass ihm etwas fehlte. Vielleicht fehlte ihm einfach die Freiheit, seine Identität herauszufinden.
Was, wenn seine Faszination für Rain und Elijah nur davon kam, dass sie etwas hatten, nachdem er noch suchte? Vielleicht lag es nicht an ihnen, sondern an der Symbolik dahinter.
Jay schnaubte dumpf über sich selbst und stellte die Vase zurück in das Regal. Vielleicht, überlegte er, war er einfach viel zu fixiert darauf, dass es da etwas gab. Manche Gefühle konnte man auch erzwingen, indem man sich zu sehr darauf konzentrierte. Es wäre besser, wenn er sich einfach etwas anderes suchen würde, über das er sich Gedanken machen konnte. Wie die Weihnachtsgeschenke, die er noch besorgen musste. Und das ziemlich dringend, denn so langsam wurde die Zeit dafür recht knapp.
Der Themenwechsel war tatsächlich erfolgreich und trotz der zweiten Begegnung innerhalb eines Tages verschwand Elijah langsam aus seinen Gedanken und stattdessen suchte er die Läden nach etwas ab, was er seiner Mutter schenken könnte. Er wollte mit ihr demnächst nochmal einkaufen gehen, um für die weitere Verwandtschaft und Freunde etwas zu suchen, aber dabei konnte er eigentlich nichts für sie besorgen, ohne dass sie es mitbekommen würde. Für Nils und Sarah brauchte er noch etwas, auch wenn sie eigentlich vereinbart hatten, sich dieses Jahr nichts zu schenken. Aber das Gleiche hatten sie die Jahre davor auch schon behauptet und Sarah hatte ihnen jedes Mal trotzdem etwas mitgebracht. Meistens tat sie es dann ab, weil es "nur etwas Selbstgemachtes" war, aber eben dieses Selbstmachen von Geschenken war der Grund dafür, dass er ihr etwas zurückgeben wollte. Er hatte schon überlegt, etwas für sie zu zeichnen oder zu malen, aber dafür musste er sich erst die nötigen Materialien besorgen. Seine Eltern konnte er nicht darum bitten, denn sie verabscheuten seinen Spaß am Zeichnen.
Er wollte sich trotzdem neue Sachen kaufen, er musste sie dann eben verstecken. Aber er wollte unbedingt dieses Foto von Rain und Elijah zeichnen, welches er auf Instagram gefunden hatte, einfach nur, um dieses farbenfrohe Motiv zu versuchen. Außerdem wirkten die Beiden auf dem Bild so glücklich, dass es fast schon schade wäre, es nicht zu zeichnen.
Jay schüttelte den Kopf und seufzte schwer, ein wenig genervt von sich selbst. Er hatte sich so schön abgelenkt und dann war er wieder hier gelandet. Wie sollte das denn so weitergehen? Hoffentlich würde er Elijah nicht nochmal wiedersehen. Obwohl sich dieser Gedanke auch nicht richtig anfühlte. Es war, als würde jemand ihn hin und her reißen...
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