[ 5 | Schatten auf der Seele ]
»Ich weiß, vielleicht willst du diese Geschichte überhaupt nicht hören. Aber ich habe niemanden, dem ich sie sonst erzählen kann.
Vor vielen, vielen Jahrtausenden, so vielen, dass ich sie nicht mehr gezählt habe, als Razna'ac noch von Frieden und Glück beherrscht war, als Menschen und Elfen eins waren, wurden sieben Phönixe aus einer einzigen Flamme geboren. Sie wachten über die Welt, und wenn sie starben, so verbrannten sie und erhoben sich aus ihrer eigenen Asche erneut.
Diesen Teil der Geschichte kennst du bestimmt, denn es ist der schöne Teil, der, der seit Ewigkeiten als Märchen weitererzählt wird - scheinbar immer noch, sonst würdest du mich nicht erkennen.
Nach Jahrtausenden starb der erste Phönix, Caron. Seine Asche wurde vom Wind verweht und entzündete sich niemals wieder, und mit diesem Tag begann das Elend. Phönix für Phönix verglühte und von ihm blieb nichts zurück als ein Name und eine Rauchfahne, die sich mit dem Wind verlor. Auch mein Seelenverwandter, Ranys, fiel und ließ mir nur einen Haufen Asche.
Und jetzt bin nur ich übrig, als letzter Phönix. Und seitdem kreise ich über Razna'ac, ich sehe zu, wie sich Menschen und Elfen bekriegen, wie die Weidegründe der Drachen in Ödnis verwandelt werden und wie diese Welt zugrunde geht...«
Die Stimme des Phönixweibchens brach, verlor sich in der kühlen Brise.
Nya konnte die ganze Zeit nichts als zuhören und betroffen schweigen. Sie konnte sich kaum ausmalen, wie viel Leid Ayshar hatte erfahren müssen in ihrem unvorstellbar langen Leben. So kurz klang die Geschichte, die sich über Jahrtausende erstreckte. Die goldenen Augen der Unsterblichen waren tief und trauernd, aber gleichzeitig seltsam leer, und erzählten auch ohne Worte eine eigene Geschichte - eine Geschichte, die selbst eine Million Worte nicht ansatzweise einfangen konnten.
Doch das Mädchen sagte nichts, einfach, weil sie keine Worte fand.
In Ayshars Blick lag nun eine Mischung aus Reue und dieser seltsamen Leere. Als wünsche sie sich jetzt schon, sich Nya niemals geöffnet zu haben - und das konnte sie dem Phönix nicht verdenken. Schließlich hatten ihr ihre Mütter so oft eingebläut, nicht mit Fremden zu reden, dass es ihr unvorstellbar erschien, einem sofort ihr Herz auszuschütten.
Einige Sekunden lang schwiegen sie beide. Die herzzerreißenden Worte hingen zwischen ihnen in der kühlen Morgenluft, bis Nya das Wort ergriff, einfach nur, um dieses traurige Schweigen zu durchbrechen. Und weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte, sagte sie einfach: »Es tut mir leid.«
Irgendwie erschien es ihr völlig unpassend, viel zu schwach für die einsame Unsterbliche und ihren leeren Blick.
Nya wusste nicht, ob sie selbst unsterblich sein wollen würde. Sie liebte das Leben mehr als alles andere, und jeden Sonnenaufgang freute sie sich so über das Vogelzwitschern und Evalcons Brummen. Das Mädchen konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ihr Leben irgendwann zu Ende sein sollte.
Aber ebenso unvorstellbar - und schrecklich - war die Vorstellung, dass alle, die sie liebte, nach und nach sterben würden, all ihre Freunde, ihre Familie, ihr Wald...
Dabei fiel ihr etwas Seltsames an Ayshars Geschichte auf. Etwas, das nicht mit allem anderen zusammenpassen wollte. Nya wollte sich noch zurückhalten, weil es irgendwie unsensibel war, in so einem Moment eine solche Frage zu stellen, doch bevor sie darüber nachdenken konnte, waren die Worte schon aus ihrem Mund herausgerutscht.
»Warum sind denn überhaupt die anderen Phönixe gestorben? Ich dachte, ihr werdet immer wieder aus eurer Asche geboren?«
Ihr Gegenüber zuckte leicht zusammen und senkte den Kopf, den trüben Blick ins Nichts gerichtet.
»Wenn ich wüsste, wie sie die Pforte nach Valar durchschreiten konnten, würde ich alles dafür tun, um ihnen zu folgen. Das habe ich bereits. Aber ich weiß nicht, warum sie es konnten.«
Wie erstarrt blickte sie die Gefiederte an. Dass Ayshar traurig war, das hatte Nya schon gewusst, aber konnte sie eine solche Aussage ernst meinen?
»Du... du willst... sterben?«
»Ich will, dass meine Asche auf ewig Asche bleibt, statt sich neu zu entzünden. Ich will Frieden, statt dabei zuzusehen, wie die Bewohner dieser Welt sie zerstören.«
Ihre Stimme klang hohl und schwer, doch ihre Worte sprach sie so ernst und ehrlich, dass Nya ein Schauer über den Rücken lief.
Sie selbst konnte sich nicht vorstellen, eines Tages zu sterben. Der Tod war etwas Schreckliches, selbst, wenn nach ihm Valar wartete. Er zerriss Leben und Familien und kam immer viel, viel zu früh, und Ayshar sehnte sich nach ihm?
»Aber... wenn du morgens die Sonne aufgehen siehst, wenn du die Vögel singen hörst, wenn du siehst, wie schön die Welt ist - spürst du dann denn nichts? Keine Freude? Keine Hoffnung?«, fragte sie jetzt fast flehend.
»Nein«, kam es jedoch steinern zurück. »Ich spüre nichts.«
Wie, um sie zu verspotten, explodierten in Nya die Gefühle förmlich - Unglauben, Angst, Bedauern und Trauer tobten durch ihr Herz wie ein Wirbelsturm. Sie kramte in ihrem Kopf nach passenden Worten, doch fand nur Leere. All das war so unwirklich, so unvorstellbar. Spielten ihr ihre Sinne einen Streich? Träumte sie nur oder sprach sie gerade tatsächlich mit einem Phönix, der sich den Tod wünschte?
»Wie... wie kann das sein?« In ihrem Kopf schwirrten tausend Fragen herum wie ein Bienenschwarm.
Wieder herrschte für einige Sekunden Stille. Mittlerweile hatte sich die Sonne über die Baumwipfel erhoben - wahrscheinlich grasten die Rehe gerade auf der wunderschönen Lichtung, auf der Nya normalerweise auch zu dieser Zeit war. Nur heute nicht, und sie dachte kaum länger als einen Herzschlag daran, was sie normalerweise tat, denn an dieser Unterhaltung erschien ihr rein gar nichts normal.
»Wieso fühlt ein Stein nichts?«, sagte Ayshar ausdruckslos.
Verwirrt runzelte das Mädchen die Stirn.
»Ein Stein ist... ein Stein eben. Er kann nichts fühlen. Er lebt nicht.«
Ihre Gedanken wanderten zurück zum vergangenen Abend, und ein Schauer schlich ihr den Rücken hinunter, als sie meinte, einen Teil zu verstehen.
›Ich lebe nicht. Ich bin nur noch‹, das hatte der Phönix kurz nach seinem Fall gesagt. Er hatte abgestritten, noch den Namen Ayshar zu tragen. An jenem Abend hatten diese Sätze sie nur verwirrt, Nya hatte sich nicht vorstellen können, dass die Unsterbliche sie wirklich ernst meinte.
Aber jetzt bekamen sie mit einem Mal eine ganz andere, eine schreckliche Bedeutung. War der Phönix etwa eine Art Untote, weder wirklich tot noch lebendig? Die Fragen in ihrem Kopf explodierten schier.
Die Gefiederte nickte nur. »Dann sieh mich als einen Stein. Einen Stein, der im Feuer schmelzen will, um seinen Frieden zu finden.«
Nya sah ihrem Gegenüber in die tiefen, seltsam leeren Augen und Trauer krallte sich in ihr Herz. Wie musste es sich anfühlen, nicht zu fühlen? Eine seltsame Frage, und sie wusste nicht, ob es darauf überhaupt eine Antwort gab. Aber Ayshar sah so betrübt, so gebrochen aus, dass Nya sich den Kopf darüber zerbrach, wie sie dem Phönix helfen konnte.
»Wenn du noch einen Tag auf Razna'ac hättest, genau einen Tag, bevor du stirbst, was würdest du tun?«, versuchte sie es, fast der Verzweiflung nahe. Vielleicht konnte sie ihr Gegenüber doch irgendwie unterstützen - zumindest musste sie es versuchen.
»Ich habe niemals nur einen Tag. Ich bin unsterblich, du erinnerst dich?«
Eiskalt blockte der Phönix ihren Versuch ab und drehte den Kopf weg. Aber Nya war noch nicht bereit, einfach so aufzugeben.
»Aber wenn es so wäre! Benutz deine Fantasie«, bohrte sie nach. »Was wolltest du schon immer mal tun? Wo wolltest du immer mal hin?«
»Nirgendwohin. Ich war überall in Razna'ac. Ich habe alles gesehen.«
»Das glaub' ich nicht!«, protestierte das Mädchen. »Es gibt immer etwas zu sehen. Jeden Tag, wenn die Sonne aufgeht und die Vögel ziehen, und jeden Abend, wenn der Mond sich auf dem Wasser spiegelt.«
Ayshar schwieg.
»Also gut«, seufzte Nya. »Dann lass mich dir etwas zeigen. Etwas, das du noch nie gesehen hast!«
Und in Gedanken fügte sie ›ein Wunder‹ hinzu, klammerte sich verzweifelt an die Hoffnung, dass Ayshar wieder leben konnte.
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