[ 1 | Vom Sturm verweht ]
Kreise.
Rund, gleichförmig, makellos.
Es waren Kreise, die ihre Flammenspur seit dem ersten Zeitalter über den Himmel zog. Kreise, in denen sie über Felder und Wälder schwebte. Kreise, die ihre Wolkenpfade bildeten.
Kreise der Ewigkeit. Denn sie zog diese Kreise seit Anbeginn der Zeit, als Razna'ac noch von Eis und Feuer beherrscht und die Elfen und Menschen vereint gewesen waren. Die Zeiten hatten sich gewandelt, das Feuer war erstickt worden von der Kälte des Krieges. In Blut war das Land getränkt, mit jedem Sonnenaufgang mehr.
Die Welt, wie sie sie kennengelernt hatte, in all ihren Farben und Wundern, existierte nicht mehr. Freunde waren vergangen, ihre Knochen verblasst.
Das Einzige, was für immer blieb, waren die Kreise.
Sie schwebte dahin, weder tot noch lebendig, als ein Schatten des mächtigen Feuervogels, der sie einst gewesen war. Man hatte sie als Ayshar gekannt. Doch jetzt war ihr Name vergangen, denn wer brauchte einen Namen, wenn niemand da war, der ihn hörte? Wenn niemand mehr da war, der ihn tragen konnte?
Alle Phönixe, die sie gekannt hatte, hatten irgendwann ihren Frieden gefunden. Bei jedem von ihnen war das Feuer erloschen und nichts als Asche geblieben, Asche, die sich nicht wieder entzündete. Asche der Ruhe.
Nur sie kreiste noch immer über Razna'ac. Allein, in Kreisen.
An manchen Tagen, wenn der Himmel besonders dunkel war, war sich das Phönixweibchen ganz sicher, dass Walyn, die Mutter der Erde, sie verflucht hatte.
Gerade zog sich unter ihr wie ein dunkles Band eine Straße entlang, zwischen gewaltigen Bäumen und Wiesen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Irgendwann einmal hätte sie das wohl als schön empfunden, aber jetzt spürte sie einfach nichts.
Dieses Nichts war es, das sie jeden Tag tiefer fallen ließ, obgleich ihr Körper noch immer hoch am Himmel schwebte. Ebendieser Körper war die Hülle dessen, was einst gestrahlt hatte wie tausend Himmel und jetzt dunkel war wie eine Neumondnacht.
Dieses Nichts zog sie in die Finsternis hinein. Die Leere in ihrer Existenz. Kreise, jeden Tag, Wälder, Weiden, Welten unter ihr, verschwommen zu einem einzigen grauen Schleier, der ihre Sinne trübte und ihre Gefühle hinter sich verbannte.
Und alles, was sie noch zu fühlen vermochte, war der Wunsch danach, dass dieses einsame, gleichförmige Dasein ein Ende hatte. Ein Wunsch, der ihr verwehrt bleiben würde. Für immer. Bis die Welt vollkommen zerfallen und die Wälder zu Staub geworden war und Blut statt Wasser in den Flüssen schäumte.
Gab es überhaupt noch Flüsse? Gab es noch die Irrlichter, die durch die Wälder waberten, die Weiden, wo die Drachen grasten?
Sie wusste es nicht und es machte auch keinen Unterschied, schließlich würde früher oder später all das zerfallen. Untergehen.
Der Phönix, den man einst als Ayshar gekannt hatte, richtete den goldenen Blick auf den Horizont, an dem sich eine schattenschwarze Wolkenwand auftürmte und einen Sturm prophezeite. Es war ihr egal. Dann würde sie eben tiefer ihre Kreise ziehen, wenn sich ein Gewitter zusammenbraute.
Für die Menschen und Elfen von Razna'ac mochte es irgendwie besonders sein, wenn sie über ihnen kreiste. Weil sie der letzte der Phönixe war, die einst den Himmel in Brand gesteckt hatten. Die Letzte, die Einsame, die Verlorene.
Tiefes Donnergrollen erschütterte die Welt. Immer weiter verdunkelte sich der Himmel und Winde rissen an ihren feurigen Schwingen, versuchten, den Feuervogel aus der Luft zu reißen. Die ersten Regentropfen fielen eiskalt auf ihr flammendes Gefieder und verdampften sofort in der Sturmluft.
Geschickt durch Jahrtausende in der Luft stemmte sie sich gegen den Wind, richtete ihre Flügel schräg gegen die raue Luft und brachte sich mit zwei mächtigen Schwingenschlägen in eine geeignete Position.
Und wenn sie sich einfach fallen ließ? Ein Spielzeug des Windes wurde, bis er sie auf den Boden sandte?
Dann würde sie zerschellen an den Felsen unter ihr. Ihr Feuer würde erlöschen und nichts als Asche hinterlassen. Doch noch bevor der nächste Tag anbrach, würde sich aus der Asche ein neuer Körper formen, dem vorigen gleich, nur narbenlos und neu entflammt.
Es war aussichtslos - das hatte sie schon vor einem Jahrtausend begriffen, zweihundert Jahre, nachdem der letzte Phönix gefallen war und sie allein zurückgelassen hatte.
Erneut zwei Schläge ihrer brennenden Flügel, bis sie einen günstigen Luftstrom erreichte, der die fast von allein trug. Solch heftige Winde waren unberechenbar und wandelten sich schneller als das Gemüt eines Irrlichts, also blieb sie wachsam. Der Phönix musste nicht schlafen, nicht fressen, nicht ruhen, und so schwebte sie seit vielen Jahren knapp unter den Wolken, so viele, dass sie aufgehört hatte, zu zählen.
Als würden sich alle Wolken des Himmels auf ihr entladen, landeten tausende Regentropfen, kalt wie Gletscherwasser, auf ihrem Gefieder. Die Flammen zischten und flackerten, und das Phönixweibchen spürte, wie seine Kräfte schwanden.
Eine gewaltige Windböe riss sie aus ihrem Luftstrom und brachte sie aus dem Gleichgewicht.
Mittlerweile hatte sich der Himmel fast nachtschwarz gefärbt, grelle Blitze zuckten über ihn und nicht ein Sonnenstrahl vermochte es noch, durch die dicke Wolkenwand hindurchzudringen. Der Phönix konnte sich nicht erinnern, im letzten Jahrhundert solch einen heftigen Sturm erlebt zu haben- aber vielleicht waren solche Erinnerungen ebenso vergangen wie ihre Hoffnung. Eiskalt war die Luft, der Regen ebenso, und der orkanhafte Sturm riss dem Feuervogel im Himmel herum. Wie einen fallenden Stern presste die Naturgewalt sie hinab.
Ihre Schwingen waren stark, viel stärker als die jedes sterblichen Vogels, doch der Sturm war stärker. Hin und her rissen sie die Winde, auf und ab, und sie konnte nichts dagegen tun. Nichts, außer sich treiben zu lassen, denn es machte so oder so keinen Unterschied, was sie tat.
Und so trieb sie zwischen den Winden, und früher hätte sie vielleicht Angst empfunden oder Freude. Doch jetzt war da nur diese kalte, undurchdringliche Leere. Das Nichts. Doch für ein paar Momente schien dieses Nichts seltsam friedlich. Denn sie fiel.
Immer tiefer fiel der Phönix, machte keine Anstalten, die Schwingen auszubreiten, denn es war egal, was sie tat. Unter ihr kamen Bäume - oder was auch immer das war - näher und näher, und erst kurz vor dem Boden machte sie ein paar halbherzige Flügelschläge, ehe ihr Blätter und Äste gegen den Kopf schlugen.
Der Frieden war vorüber - und der Aufprall so hart, dass es ihr die Luft aus den Lungen presste. Schmerzhaft hart war der Boden, und der Wald darüber hatte ihren Sturz kaum abfangen können.
Und das war ihr egal. Denn die Schmerzen würden vergehen, wie auch alles andere vergangen war, außer die ewigen Kreise. Wie der Frieden in diesem Königreich vergangen war.
Einige Herzschläge lang lag sie einfach nur da, ihr flammender Körper gefallen wie ihr Geist schon vor langer Zeit. Um sie herum herrschte absolute Stille, selbst der Donner schwieg.
Dann, irgendwann, öffnete sie ihre goldenen Augen, und sie blickte geradewegs in das strahlende Gesicht eines kleinen Mädchens, das Anstalten machte, sie zu umarmen.
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