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Die nächste Woche flog geradezu an mir vorbei. Ich war so gefangen in Seminaren und Vorlesungen, dass ich mir über beinahe nichts anderes Gedanken machen konnte. Natürlich lag das zum Teil auch daran, dass ich in meinen Stunden so gebannt an den Lippen meiner Dozenten hing, dass ich die Anzahl der feinen Härchen um ihren Mund herum hätte zählen können. Ich konnte absolut nicht nachvollziehen, wie einige meiner Kommilitonen in den Vorlesungen Candy Crush oder Hay Day spielen konnten. Mich würde das viel zu sehr ablenken, als dass ich noch anderen Dingen Aufmerksamkeit schenken könnte.
Da ich unbedingt keines der Worte meiner Dozenten verpassen wollte - wer wusste schon, was ich für die Prüfungen alles gebrauchen konnte - schrieb ich alles auf, was mir sinnvoll erschien. Was mitunter dazu führte, dass ich am Abend meine eigene Schrift nicht mehr entziffern konnte. Manche Dozenten flogen geradezu durch ihre Folien, sodass ich einen Satz beendete, um im gleichen Moment den nächsten Stichpunkt zu beginnen.
Es war sehr anstrengend. An zwei Tagen der vergangenen Woche war ich mit Kopfschmerzen ins Bett gegangen. Aber ich war voller Hoffnung, dass es nicht mehr lange dauerte, bis ich mich ans Studieren gewöhnte. Das war zumindest der Ausblick einer Studentin im fünften Semester gewesen, die uns in der Einführungswoche einige Tipps gegeben hatte. Zugegebenermaßen hatte sie in uns innerhalb einer halben Stunde so viel Angst und Sorgen geschürt, dass sie uns in den letzten fünf Minuten ihrer Rede alle positiven Aspekte des Studiums nannte, die es nur gab. Dennoch hätte es mich nicht gewundert, wenn einige der Erstsemesterstudenten den Raum einfach verlassen hätten und nie wieder zurückgekehrt wären.
Trotz der Kopfschmerzen, Müdigkeit, Überanstrengung, Blasen an den Fingern, Sorgen und Zweifeln freute ich mich jeden Tag aufs Neue, wenn mein Wecker klingelte. Ehrlich gesagt, glaubte ich auch nicht, dass sich daran jemals etwas ändern würde. Dafür fühlte ich mich hier einfach viel zu wohl.
Was unter anderem auch damit zusammenhing, dass Elisabeth seit ein paar Tagen meine Zimmernachbarin war. Ursprünglich hatte ich mir ein Zimmer mit einer anderen Studentin geteilt. Wir hatten uns gut verstanden und ich zweifelte nicht daran, dass wir eine tolle Zeit gehabt hätten. Als mich meine Freundinnen jedoch einmal besucht hatten und Elisabeth erzählt hatte, mit wem sie sich ein Zimmer teilte, schlug meine ehemalige Zimmernachbarin uns vor, zu tauschen. Das Mädchen in Elisabeths Zimmer war eine gute Freundin von ihr und sie würde sehr gerne mit ihr in einem Zimmer schlafen. Elisabeth und ich hatten damit überhaupt kein Problem, sodass die beiden einen Tag später umzogen. Und obwohl ich das andere Mädchen ziemlich gemocht hatte - wir hatten nicht sehr viel miteinander zu tun gehabt, außer uns am Abend mal zu fragen, wie unser Tag war -, genoss ich Elisabeths Anwesenheit doch mehr. So stellte sich heraus, dass sie sehr gut darin war, meine Schrift zu entziffern.
Im Großen und Ganzen dachten meine Freunde ähnlich über das Studium wie ich. Mellies Hände sahen nach den Vorlesungen ähnlich aus wie meine, während das Einzige, was Elisabeth sich notiert hatte, das Datum des heutigen Tages war. Allerdings merkte sie sich alles, was die Dozenten ihr erzählten. Völlig ohne es sich im Nachhinein anzusehen. Ich beneidete sie ein wenig darum. Wenn ich so an die Stunden herangehen würde, könnte ich zwei Tage später schon nicht mehr sagen, was überhaupt das Thema der Vorlesung gewesen war. Aber gut, gegen meinen Lerntyp konnte ich nun mal nichts machen.
Nachmittags trafen wir uns als Gruppe, so oft es eben ging. Unsere Treffen halfen mir sehr, von den stressigen Stunden davor wieder herunterzukommen und an andere Dinge zu denken. So berichtete uns Isabel mehrmals von ihrem unvergleichbaren Abend mit ihrem Typen am Tag der Party. Der Junge hatte wohl ordentlich Eindruck bei ihr hinterlassen. Sie hatte die Geschichte mit ihm mittlerweile so oft wiederholt, dass ich das Gefühl hatte, selbst dabei gewesen zu sein.
Jedoch hatte Isabels Geschichte auch einen schlechten Aspekt für mich. Jedes Mal, wenn sie von den Küssen des Jungen erzählte, schoss Elisabeths Blick zu mir. Ich wich ihm immer wieder aus. Glücklicherweise hatte sie mich nicht noch einmal gefragt, was es mit William auf sich hatte und wieso ich einfach verschwunden war, um keine halbe Stunde später wild mit einem quasi Fremden rumzuknutschen. Das war ein Gespräch, dem ich, so glaubte ich, gerne aus dem Weg gehen würde. Alleine schon, um nicht erneut mit Erinnerungen daran konfrontiert zu werden. Ich vermutete, dass Elisabeth das verstand, ohne dass ich es ihr hatte sagen müssen. Anders konnte ich mir nicht erklären, wieso sie mich nicht erneut danach gefragt hatte. Schließlich gehörte meine Begegnung mit William zweifelsfrei zu den interessantesten Dingen, die mir bisher passiert waren. Nicht, dass ich das irgendjemandem jemals beichten würde.
Gerade war Montag unserer dritten Woche hier. Es war einer der wenigen Tage, an denen wir die Mittagspause zusammen verbrachten. Ich war so hungrig, dass ich den anderen einfach nur zuhörte, während ich Löffel um Löffel des Nudelgerichts in mich schaufelte.
Aaron und ich hatten eben ein Seminar zusammen gehabt und er berichtete von der Schrift unseres Dozenten Mr. Brannt.
"Natürlich hatte er keine Folien vorbereitet. Davon halte er nichts. Stattdessen vertraue er nur auf seine Tafelbilder und auf die Mitarbeit von uns, sobald er eine Frage an uns stelle. Damit habe ich ja grundsätzlich kein Problem. Aber ich sage euch, nichts konnte man lesen. Gar nichts. Rosalie und ich haben alleine fünf Minuten gebraucht, um das Wort Und zu entziffern", beklagte er. "Er macht auch keine kurzen Atempausen, sodass man wenigstens die Chance hätte, seine Tafelbilder abzuschreiben. Nein, er springt von einem Thema zum nächsten und wischt auch ebenso schnell die Tafel wieder sauber, damit er Platz für neue, tolle Kreidezeichnungen hat. Mir graut es jetzt schon vor unserem nächsten Seminar mit ihm. Ich muss mir echt etwas überlegen, damit ich den Anschluss nicht verliere."
"Was ist mit Rosalies Aufzeichnungen?" Paul deutete auf mich. "Sie schreibt doch immer ziemlich schnell mit." Wir hatten ebenfalls ein paar Vorlesungen und Seminare zusammen.
"Das schon", stimmte Elisabeth ihm zu. "Aber hast du dir ihre Mitschriften mal angeschaut? Da kannst du noch weniger erkennen als bei eurem Dozenten."
Mittlerweile hatte ich aufgegessen, sodass mein Magen nicht ständig knurrte und ich mich verteidigen konnte. "Eigentlich ist meine Handschrift wirklich schön und gut lesbar. Aber ich habe anders wirklich keine Chancen, auch nur annähernd alles Wichtige aufzuschreiben, das gesagt wird."
Isabel nickte zustimmend. "Geht mir auch so. Auf meinem Laptop befinden sich am Abend so viele Wörter, die ich einfach mittendrin beendet habe, um neue zu schreiben. Es ist furchtbar."
Während meine Freunde sich weiter über ihre Mitschriften austauschten, begann mein Handy, zu klingeln. Es war meine Mutter.
"Entschuldigt", unterbrach ich sie, "ich gehe kurz telefonieren."
Sie nickten und ich verließ die Mensa, um mich in eine einigermaßen ruhige Ecke zu stellen.
Dann nahm ich ab.
"Na mein Schatz. Wie geht es dir?" Die Stimmen meiner Eltern begrüßten mich freudig. Es war das erste Mal, dass wir seit dem Beginn meines Studiums miteinander telefonierten. Allerdings hielt sie nichts davon ab, mir beinahe jeden Tag zu schreiben und mich zu fragen, ob ich zurechtkam.
"Hey, nachdem ich gerade etwas gegessen habe, wieder deutlich besser", erwiderte ich lächelnd.
"Sag bloß, du hast die Stunden davor nichts gegessen. Du weißt doch, dass der Körper Energie braucht, um weiter zu arbeiten. Sonst wirst du müde und überanstrengst dich. Hast du denn keine Zeit, zwischen deinen Seminaren etwas zu essen? Oder nimmst du dir nichts zu essen mit? Reicht dein Geld nicht, um dir Essen zu kaufen?" Meine Mum stellte mir noch sieben weitere Fragen, die ich alle beantwortete, um sie zu beruhigen.
Als einziges Kind meiner Eltern hatte ich manchmal das Gefühl, dass sie nie aus dem Stadium der Helikopter-Eltern herausgefunden hatten. Auch nicht, als ich vor über einem Jahr volljährig geworden war. Ich zweifelte daran, dass sie jemals akzeptieren würden, dass ich auch alleine für mich sorgen konnte.
Es vergingen etwa zehn Minuten, in denen ich mehr Fragen beantwortete, als meinen Eltern welche stellen zu können. Zwischendurch gelang es mir doch ein, zwei Mal, sodass ich zumindest herausfinden konnte, dass es ihnen gut ging.
Ich nutzte eine Atempause meiner Mum, um dazwischen zu gehen. "Meine Pause ist gleich zu Ende. Ich muss wieder zurück und mein Tablett noch wegräumen."
"Natürlich, natürlich." Es entstand eine kurze Stille und ich sah regelrecht vor mir, welchen Blick sich meine Eltern gerade zuwarfen. "Wir telefonieren wieder?"
"Ja", antwortete ich und machte absichtlich keine Angabe zu dem Wann.
Doch bevor ich auflegen konnte, fiel meinem Vater noch ein: "Hattest du bereits Gelegenheit, die Fußballmannschaft zu sehen?"
Mein Dad hatte ebenfalls hier studiert, jedoch war das schon einige Jahrzehnte her. Die Uni hier war mitunter bekannt für ihre Fußballmannschaft, der Dad damals angehört hatte. Er war mit dem Trainer der Mannschaft gut befreundet.
"Noch nicht", gestand ich. Mir hatte bisher die Zeit gefehlt. "Aber ich mache das in den nächsten Tagen. Keine Sorge." Ich wusste, wie viel es meinem Dad bedeutete. Auch wenn er es nicht zugab, er vermisste die Zeit als Spieler.
"Sehr schön. Grüß Mack von mir. Er soll den Jungs ordentlich einheizen, damit sie auch nur annähernd so gut werden, wie wir es damals waren."
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