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Verwirrt warf ich einen Blick hinter den Jungen. Doch die Wand hinter ihm war vollkommen leer. Hätte er selbst ebenfalls eine ruhige Minute gebraucht, hätte er sich wahrscheinlich nicht so nahe zu mir gestellt. Er wollte zu mir.
Also sah ich ihm stumm entgegen und wartete, bis er etwas sagte. Aber er öffnete seinen Mund nicht. Kein Laut kam von ihm. Er stand einfach vor mir und schaute mich an.
Er verwunderte mich. Wir kannten uns schließlich überhaupt nicht. Warum also verriet er mir nicht, weshalb er mir gefolgt war?
Nachdem weitere Sekunden in Stille zwischen uns vergingen, entschied ich mich, die Zeit zu nutzen, um ihn ein wenig zu begutachten. Er trug eine dunkle Jacke, unter der ich ein graues Shirt erkennen konnte. Auch seine Hose war dunkel, möglicherweise schwarz. Seine Kleidung passte zu seinen dunklen Haaren, die an den Seiten etwas kürzer geschnitten waren. In der Dunkelheit glaubte ich zu erkennen, dass seine Haare leicht gelockt und unfrisiert waren. Sie umrandeten sein Gesicht, das von einem leichten Bartwuchs definiert wurde. Ich arbeitete mich bis zu seinen Augen vor, deren Farbe ich nicht erkennen konnte. Es würde mich nicht verwundern, wenn sie ebenfalls schwarz waren. Was mich jedoch besonders faszinierte, waren die Tattoos, die sich unter seinem Shirt hoch bis zu seinem Hals schlängelten. Die dunkle Tinte zierte seine helle Haut in geschmeidigen Linien, manche stärker, manche weicher. Ich fragte mich, an welchen Stellen seines Körpers er noch Tattoos trug, die gerade durch seine Kleidung verdeckt waren.
"Du starrst mich an", waren die erste Worte, die er mit seiner rauen Stimme zu mir sagte.
Ich hob die Augenbrauen in die Höhe. "Du bist mir gefolgt, ohne zu wissen, wer ich bin. Was ist gruseliger?"
"Du hast mich angesehen, als würdest du mich am liebsten an Ort und Stelle verschlingen."
"Und du hast dich wie ein Creep und Stalker in der Dunkelheit zu mir gestellt."
"Wäre ich ein Stalker, würde ich dich kennen. Dann wäre ich dir also nicht gefolgt, ohne zu wissen, wer du bist. Damit wäre das hier auch nicht mehr gruselig."
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. "Also gibst du zu, dass es gruselig ist?"
Er zog einen Mundwinkel leicht in die Höhe. "Ich gebe zu, dass ich mich etwas geschickter hätte anstellen können."
"Um was zu tun?", hakte ich nach. "Mich umzubringen?"
"Es wäre ziemlich unklug, dich zu töten, während nur wenige Meter von uns entfernt eine Party ist und jeder deine Schreie hören würde."
"Das ist es, was dich an meiner Aussage gestört hat? Nicht die Tat des Tötens, sondern dass du erwischt werden könntest?" Man hörte mir meine Fassungslosigkeit deutlich an.
"Ich bin lieber skrupellos als dumm", stellte er klar und lehnte sich gegen die Hauswand.
Ich beobachtete das Heben und Senken seiner Brust, während er atmete. "Das wäre dann wohl mein Stichwort, wieder in die Nähe anderer Menschen zu gehen, um deiner Skrupellosigkeit nicht noch weiter Feuer zu geben."
Sein leises Lachen bescherte mir eine feine Gänsehaut im Nacken. "Keine Sorge, ich habe nicht vor, dir etwas zu tun. Dein Abend war schon aufregend genug."
Augenblicklich sank meine Laune. Die Unterhaltung mit ihm hatte mir geholfen, nicht mehr an Cameron und seinen Kuss zu denken. Doch die Erinnerung kehrte gerade mit voller Wucht zurück.
"Das hast du wohl gesehen, was?", fragte ich ihn trocken.
Er nickte. "Habe ich. War sehr bewegend."
Ich runzelte die Stirn. "Was war bewegend?"
"Deine Rede. Ich bezweifle, dass Cameron irgendeines deiner Worte verstanden hat, aber immerhin hast du es versucht."
"Machst du dich gerade über mich lustig?" Ich konnte es nicht fassen. Erst folgte er mir und jetzt besaß er die Dreistigkeit, sich über mich zu amüsieren?
"Nein."
Ich glaubte ihm nicht.
Ich lockerte meine Arme und lehnte mich mit einiger Entfernung ebenfalls an die Hauswand. "Warum bist du mir dann gefolgt?"
"Deine Reaktion hat mich fasziniert", gab er zu. Es überraschte mich, dass er mir überhaupt antwortete. Ich hätte erwartet, dass er mich wieder nur still ansah.
"Warum? Denkst du nicht, jeder hätte so reagiert, wie ich es getan habe?"
"Ich bin mir sicher, die meisten hätten es scheiße gefunden, wenn ihnen so etwas passiert wäre. Aber ich denke nicht, dass sie so vehement deutlich gemacht hätten, warum der Kuss nicht in Ordnung war. Natürlich war es beschissen von Cameron, keine Frage. Doch bei dir kam es so rüber, als hätte der Kuss dich mehr mitgenommen, als es vielleicht bei anderen der Fall gewesen war. Oder irre ich mich?"
"Du scheinst ja schon einige Leute gesehen zu haben, die ungewollt geküsst wurden", wich ich ihm aus.
"Das ist keine Antwort auf meine Frage", entgegnete er mir.
Fast musste ich grinsen. Natürlich hatte er meine Ablenkung durchschaut.
Wenn er sich schon so intensive Gedanken darüber gemacht hatte, konnte ich ihm gegenüber auch ehrlich sein. "Nein, ich denke, du irrst dich nicht."
"Warum ist es für dich ein größeres Ding, als es für andere vielleicht wäre?" Er gab sich keine Mühe, seine Neugierde zu verbergen.
"Bist du in deiner Freizeit als Therapeut unterwegs?"
"Begegnest du Fragen immer mit Gegenfragen?"
"Fragst du immer fremde Menschen aus, die dich nicht kennen?", konterte ich.
Seine vollen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. "Ich heiße William. Und du?"
Die Art, wie er seinen eigenen Namen sagte und mich währenddessen anlächelte, zog mich in seinen Bann. Er faszinierte mich, obwohl ich nicht mehr von ihm wusste als seinen Namen.
"Rosalie."
"Beantwortest du jetzt meine Frage, da wir uns nun kennen?" William gab nicht auf.
Vielleicht war es das, was mich dazu brachte, ihm wahrheitsgemäß zu antworten. Sein Interesse an meiner Reaktion. Die Zeit, die er sich nahm, obgleich wir uns erst seit zehn Minuten kannten.
"Dieses Studium sollte ein Neuanfang für mich sein", begann ich. "Fernab von den Regeln und Grenzen meiner Familie. Es sollte der Teil meines Lebens sein, den ich vollkommen selbstbestimmt lebe. Selbst entscheiden, mit wem ich befreundet bin, was ich am Wochenende mache, wie ich meine Freizeit verbringe. Wen ich küsse. Ich möchte diese Zeit genießen, als freie Person, die ihr Leben so lebt, wie sie es will. Und keine fünf Tage, nachdem ich dieses Leben beginne, nimmt mir einer meine Entscheidungsfreiheit. Und das nicht einmal aus einem guten Grund. Wegen eines dummen Spiels und zu viel geflossenem Alkohol."
Nach einer kurzen Stille schlug William vor: "Vielleicht siehst du es einfach als kleinen Rückschritt. Etwas, das passiert, wenn man neue Wege geht. Damit du jetzt wieder nach vorne schauen kannst."
Ich war ihm dankbar, dass er mich nicht über meine Vergangenheit ausgefragt hatte. Ich hatte keine schlechte Beziehung zu meinen Eltern. Wahrscheinlich auch, weil ich sie nicht daran teilhaben ließ, was tatsächlich in mir vorging.
"Keine so schlechte Idee. Aber vielleicht kannst du dir vorstellen, dass so etwas wie ein Kuss schon ein großes Ding ist. Klar bedeutet er nicht die Welt. Aber im Gegensatz zur Entscheidung, was ich heute Abend essen will, hat er schon deutlich mehr Gewicht." Oder auch eine Umarmung. Auch die hätte ich als übergriffig empfunden, aber sie stellte für mich dennoch einen Unterschied zu einem Kuss dar. Dass ich gerne die Kontrolle über mein Leben behielt, machte es für mich nicht gerade leichter, es zu vergessen.
William legte den Kopf an der kühlen Wand ab, sodass sein Blick auf den Sternenhimmel gerichtet war. Er wirkte nachdenklich. "Hmh, ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Allerdings ist es schon passiert. Du kannst es nicht wieder rückgängig machen. Und es bringt nichts, dir über etwas Gedanken zu machen, auf das du sowieso keinen Einfluss mehr hast."
Ich drehte meinen Kopf, bis ich sein Gesicht ansehen konnte. "Sei ehrlich: Du bist ein Therapeut, oder?"
"Nein." Er lachte. "Und alle, die mich kennen, würden dich wahrscheinlich für verrückt erklären, wenn du ihnen das erzählst."
Ich kam nicht dazu, ihn zu fragen, warum er das dachte. Im nächsten Moment stieß er sich von der Wand ab und kam einen Schritt auf mich zu, sodass wir einander gegenüberstanden.
"Vielleicht würde es dir auch helfen, den Abend mit einer erfreulicheren Erinnerung abzuschließen."
Ich runzelte die Stirn. "Wie stellst du dir das vor?"
"Ich könnte dafür sorgen, dass du nicht mit einem schlechten Gefühl an diesen Abend zurückdenkst. Ich kann dir helfen, seinen Kuss zu vergessen."
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