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Die Bibliothek war sehr schnell zu einem meiner Lieblingsorte geworden. Sie erstreckte sich über mehrere Stockwerke, die über eine Wendeltreppe im Zentrum der Bibliothek zu erreichen waren. Zwischen den meterhohen Regalen, die in regelmäßigen Abständen errichtet worden waren, waren immer wieder Sitzgelegenheiten in Form von Tischen und Stühlen oder Sofas eingebaut worden. Ein warmes Licht schien durch breite Fenster in die Bibliothek, das von Kronleuchtern an der Decke verstärkt wurde. Die verschiedenen Bücher, Zeitschriften und co. waren thematisch sortiert, sodass ich mich häufig nur in einem Teil der Bibliothek aufhielt.
Im Vorbeigehen grüßte ich den für diese Abteilung zuständigen Bibliothekar, der mir schon oft bei Fragen zur Seite gestanden hatte. Irgendwann musste ich ihn nach seinem Namen fragen.
Ich warf einen raschen Blick über meine Schulter, als ich zu einer Reihe von Tischen ging, an denen ich die meiste Zeit saß. William ging hinter mir her und erschien wie die Ruhe in Person. Doch an seinen Augen, die immer wieder nach links und rechts huschten, erkannte ich, dass er nicht sehr oft hier war. Vermutlich sogar nie.
Ich führte ihn zu zwei Plätzen und zog einen der Stühle nach hinten, um meinen Rucksack dort abzustellen. In einem leisen Tonfall erklärte ich ihm: "Ich hole mir ein paar Fachbücher, in denen ich noch etwas nachlesen wollte. Du weißt sicherlich, was du willst, sonst wärst du ja nicht mitgekommen. Wir können uns gleich wieder hier treffen."
Ich war mir zu fast hundert Prozent sicher, dass er keine Ahnung hatte, was er hier sollte und vor allem, wie er sich in dieser riesigen Bibliothek zurechtfand. Doch ich wollte von ihm hören, dass er nur mitgekommen war, um mich zu ärgern.
Es wunderte mich nicht, als er keine Anstalten machte, mir die Wahrheit zu sagen. "Ist gut."
Ich bedachte ihn mit zusammengekniffenen Augen, aber er lächelte mir entgegen, als ob er sich nie wohler gefühlt hätte. Was ein Heuchler. Sollte er eben alleine schauen, wie er zurechtkam.
Ich verschwand hinter einem Regal und ging den Gang entlang, bis ich das Buch über die Einführung in die Soziologie gefunden hatte, das ich gesucht hatte. Statt direkt zu William zurückzukehren, verweilte ich noch ein wenig und flog über die Titel der Bücher. Ich packte noch eines, noch zwei, noch drei, gut, es wurden noch fünf weitere Bücher, die ich ebenfalls mitnahm. Schließlich konnte man nie wissen, in welchem Buch Informationen standen, die ich noch nicht hatte.
Voll gepackt kehrte ich zu meinem Platz zurück, an dem William nicht mehr alleine saß. Neben ihm stand Asher, dessen graue Augen zuerst den riesigen Stapel an Büchern begutachteten, den ich auf dem Tisch abstellte, und dann mich ansahen.
Ein amüsiertes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, während er mich mit einem leisen "Hi" grüßte, das ich freundlich erwiderte.
"Wie lange hast du vor, hier zu bleiben? Fünf Tage?" Eine Strähne von Ashers straßenköterblondem Haar fiel ihm auf die Stirn, als er zu dem Bücherstapel nickte.
"Wie lange brauchst du denn, um sechs Bücher zu lesen?", ärgerte ich ihn. Selbstverständlich würde ich die Bücher nur überfliegen. Um sie alle vollständig zu lesen, bräuchte ich vermutlich sogar über eine Woche.
Abwehrend hob Asher beide Hände. "Verzeihung. Mir war nicht bewusst, dass du zu den schnellen Leserinnen gehörst."
Ich schielte zu William, der exakt so saß, wie vor fünfzehn Minuten, als ich gegangen war.
"Du hast dir gar nichts zum Lesen geholt", sprach ich ihn darauf an.
Er erwiderte meinen Blick lässig. "Ich bin nicht dazu gekommen." Er deutete auf Asher. "Er hat mich davon abgehalten."
Asher schnaubte und murmelte: "Sicher. Daran lag's."
William funkelte ihn böse an. Asher tat ihm nicht den Gefallen, den Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen.
"Du brauchst mich gar nicht so anzusehen. Ich habe dich noch nie in der Bibo gesehen. Außer einmal, als wir als Erstsemester eine Führung durch die Uni bekommen haben. Danach nie wieder." Ashers graue Augen schauten nachdenklich zu mir. "Ich frag mich, warum du ausgerechnet heute hier bist."
Kurz überlegte ich, wie William es in seinem Studium bis zum dritten Semester geschafft hatte, wenn er nie in die Bibo ging. Ich vermutete aber, dass er, so wie alle Erstsemester, zu Beginn des Studiums einen kostenlosen Zugang zu allen möglichen Online-Datenbanken erhalten hatte. Wahrscheinlich arbeitete er also mit dem Internet, anstatt in den Büchern zu blättern. Das konnte ich auch verstehen, so war man deutlich flexibler und musste nicht immer wieder in die Bibo laufen. Aber bisher war das Gefühl der Seiten zwischen meinen Fingern für mich unschlagbar gewesen. Außerdem genoss ich die Stille in der Bibliothek, die in Gebäuden voller Studenten sonst nur schwer zu finden war.
William stieß Asher seinen Ellenbogen zwischen die Rippen, sodass er schmerzerfüllt aufstöhnte. Dennoch grinste Asher direkt danach wieder und schaute William unheilvoll an, als teilten die beiden ein Geheimnis, das sie wie einen Schatz hüteten.
Da ich nicht davon ausging, dass sie mich einweihen würden, setzte ich mich wortlos auf den Stuhl vor mir und griff nach dem ersten Buch, das ich mir genommen hatte.
Doch bevor ich es schaffte, mir ein Kapitel herauszusuchen, das mich interessierte, fragte Asher mich: "Kommst du heute zum Training?"
Verwundert runzelte ich die Stirn. "Warum sollte ich?"
"Als du letztes Mal da warst, hatte Mack bessere Laune. Die könnten wir heute echt gebrauchen", erklärte Asher.
"Warum sollte er nicht gut gelaunt sein? Habt ihr euer letztes Spiel nicht gewonnen?" Eine unnötige Frage, da ich bei ihrem letzten Spiel dabei gewesen war und damit gesehen hatte, wie sie die gegnerische Mannschaft geschlagen hatten.
"Doch schon, allerdings spielen wir am Freitag Abend erneut. In der letzten Saison haben wir gegen die Mannschaft verloren. Und das haushoch." Asher schaute kurz zu William, dessen Kiefer stark angespannt war. "Das war nicht so schön."
Ich nickte verstehend. Sie gingen davon aus, dass Mack deshalb heute besonders streng zu ihnen wäre. "Tut mir leid, aber das passt heute gar nicht."
Asher lächelte beruhigend. "Klar, kein Problem."
"Kann ich am Freitag zu eurem Spiel kommen?" Die Frage verließ meinen Mund, bevor ich weiter darüber nachdenken konnte.
Überrascht sah William auf. "Meinst du das ernst?"
Ich zuckte mit den Schultern. "Klar." Auch wenn ich nicht der größte Fußballfan war, so hatte ich beim letzten Spiel dennoch viel Spaß gehabt.
"Ich weiß nicht so recht. Am Freitag ist es ein Auswärtsspiel. Da fahren wir meist gemeinsam mit dem Bus hin. Mack mag es nicht, wenn wir andere Leute mitbringen, die uns ablenken könnten." Ashers Blick verlor sich nachdenklich in der Ferne, als suchte er angestrengt nach einer Möglichkeit, wie ich trotzdem mitkommen könnte.
"Wenn du willst, rede ich mit ihm", schlug er mir vor. "Ich habe so das Gefühl, dass er bei dir eine Ausnahme machen wird."
Gut, dann zog ich das Ding wohl durch.
"Danke." Ich lächelte Asher entgegen.
"Ich will euch auch nicht weiter aufhalten", meinte dieser und machte sich auf den Weg, um uns allein zu lassen.
"Warte." Williams Stimme hallte ein wenig. Er nahm seine Sachen und drehte sich dann zu mir um. "Ich werde auch gehen. Du kannst dich ohne mich sicher besser konzentrieren."
Obwohl er damit recht hatte, fand ich es doch etwas schade, dass er ging.
"William", rief ich seinen Namen so leise wie möglich, als er sich bereits auf den Weg gemacht hatte, um Asher zu folgen.
Fragend drehte er sich zu mir um.
"Hast du trotz des Spiels am Freitag noch Zeit für unsere erste richtige Probe?", wollte ich von ihm wissen. Ich würde es verstehen, wenn es nicht so wäre.
Doch er nickte mit dem Kopf. "Das kriege ich schon hin."
"Bist du dir sicher?", hakte ich nach. Ashers Worte hatten nicht gerade geklungen, als würde das Spiel am Freitag ein Kinderspiel werden. "Es ist kein Problem, wenn wir erst nächste Woche beginnen."
"Ich habe dir gesagt, dass wir das durchziehen. Und ich bleibe dabei", erwiderte er und sah mir mit einer solchen Sicherheit und Überzeugung entgegen, dass ich nur ein leises "Okay" als Antwort zustande brachte, bevor er im Gang verschwand und ich meine Aufmerksamkeit endlich meiner Lektüre widmen konnte.
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