°16°
Will
Ich beobachtete das Heben und Senken ihrer Schultern, als Rosalie tief ein- und wieder ausatmete. Sie drehte sich nicht zu mir um. Vielleicht überlegte sie, einfach zu gehen und gar nicht auf mich zu reagieren. Ich würde es ihr nicht einmal übel nehmen. Wäre ich gezwungen, mehr als zehn Worte mit Cameron zu wechseln, würde ich ebenfalls den Spaß am Leben verlieren. Es gefiel mir gar nicht, dass er sie aufgesucht hatte. Obwohl ich mir hätte denken können, dass er nicht clever genug war, um sie in Ruhe zu lassen. Möglicherweise hatte er das jetzt verstanden. Wenn nicht, müsste ich ihn mir mal vorknöpfen. Aber Rosalie hatte meine Hilfe offenbar gar nicht nötig. Sie konnte das allein regeln. Das hatte sie gerade ausführlich bewiesen.
Ich hatte nicht ihre gesamte Unterhaltung mitbekommen, allerdings genug, damit ich verstand, dass ich wirklich aufpassen musste, wenn ich sie reizte. Hinter dem freundlichen Lächeln und den warmen, blauen Augen lauerte ein Teil von Rosalie, der sich zu wehren wusste. Ein Teil, auf den ich mich schon freute, wenn er auf mich gerichtet war. Er war auf eine Art aufregend, die ich nicht erwartet hatte.
"Du stehst da immer noch, nicht wahr?" Rosalies Frage ging in einem Seufzen unter. Dann drehte sie sich zu mir um.
Ja, es verwunderte mich auch, dass ich geblieben war, obwohl sie nicht auf meine Aussage reagiert hatte. Normalerweise hätte ich keinen Grund, so lange auf jemanden zu warten. Vor allem nicht, wenn ich wusste, die Person hatte nicht das geringste Interesse an einem Gespräch mit mir. Doch auch hier war es mit Rosalie anders. Und es brachte mich schier um, dass ich nicht verstand, was es war, das mich an ihr so fesselte. Wüsste ich die Ursache dahinter, könnte ich etwas dagegen unternehmen. Ich mochte es gar nicht, wenn ich nicht die Kontrolle behielt. Irgendwie war alles, was mit Rosalie geschah, das exakte Gegenteil von Kontrolle.
Rosalie schaute auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Eine blonde Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Es zuckte in meinen Fingern, sie ihr wieder hinter das Ohr zu streichen. Das erledigte sie jedoch selbst.
Gequält schloss sie die Augen beim Anblick der Uhrzeit. "Jetzt muss ich auch nicht mehr hingehen."
Ich vermutete, sie sprach von einer Vorlesung, an der sie eigentlich hatte teilnehmen wollen. Es würde mich nicht wundern, wenn es Camerons Schuld war, dass sie sie verpasst hatte. Ein weiterer Grund, den Typen nicht ausstehen zu können.
Die Anspannung verließ ihre Schultern, während sie mich fragte: "Willst du mein Gespräch mit Cameron wieder analysieren und mit meinem letzten vergleichen? Oder bist du gerade nicht in deiner Rolle als Therapeut, sondern in der, in der du ein egoistisches Arschloch bist?"
Ich schmunzelte. "Ich dachte, ich bin immer ein egoistisches Arschloch."
Ein müdes Lächeln schob sich in ihre Mundwinkel. "Stimmt auch wieder."
Bis auf uns war der Gang vollkommen leer. Ich hörte schwache Stimmen, die möglicherweise aus den Aufenthaltsräumen oder der Mensa zu uns drangen. Ansonsten waren wir allein.
"Hast du keinen Kurs, zu dem du musst?" Rosalie musterte mich abschätzend. "Oder ist es dir einfach egal, wenn du ihn verpasst?"
Ich musste ein kleines Grinsen unterdrücken. Ich konnte ihr ansehen, dass es ihr missfiel, nicht einschätzen zu können, ob ich zu den Studenten gehörte, die gerne mal drei, vier Vorlesungen und Seminare ausfallen ließen.
Immerhin bedeutete das, dass ich nicht der Einzige von uns beiden war, der durch den anderen aus der Fassung gebracht wurde. Obwohl wir beide das wahrscheinlich niemals zugeben würden.
"Mein nächstes Seminar beginnt erst in zwei Stunden", klärte ich sie auf. Obwohl ich nichts dagegen hatte, in einem Semester vielleicht ein oder zwei Mal zu schwänzen, grenzte ich es doch auf ein Minimum ein. Schließlich wollte ich nicht zu viel von den Inhalten verpassen.
Sie nickte verstehend. "Und da hast du nichts Besseres zu tun, als anderen aufzulauern und ihnen zu lauschen?"
"Doch", widersprach ich ihr. "Sogar einiges. Nur ist nichts davon so unterhaltsam, wie dir dabei zuzuhören, wie du versuchst, Cameron einen Funken Verstand und vor allem Verständnis beizubringen." Ich zuckte mit den Schultern. "Bis ich etwas Spannenderes gefunden habe, werde ich also bleiben."
Rosalie verschränkte missmutig die Arme vor der Brust, die bis eben noch lustlos an ihrer Seite gehangen hatten. "Aber Cameron ist doch nicht mehr da."
"Was soll ich sagen? Du bist wohl interessant genug."
Sie schnaubte abfällig und murmelte etwas, das verdächtig nach "Du hast echt einen Knall" klang. Lauter meinte sie: "Dann tut es mir wahnsinnig leid, wenn du dir jetzt eine neue Beschäftigung suchen musst. Da ich die nächsten siebzig Minuten scheinbar nichts zu tun habe, gehe ich in die Bibliothek. Wir sehen uns dann bei unserer ersten Probe."
Fluchtartig und ohne auf eine Antwort meinerseits zu warten, lief sie an mir vorbei den Gang entlang. Ich hatte jedoch nicht vor, sie so einfach gehen zu lassen.
Ich lief ihr hinterher, bis wir auf einer Höhe waren. "Was für ein Zufall. Da will ich auch hin."
Abrupt blieb sie stehen. Überrascht drehte ich mich zu ihr um. Sie funkelte mir entgegen und hob bedrohlich einen Zeigefinger nach oben, um ihn vor meinem Gesicht schweben zu lassen. "Nein. Nein, vergiss es. Du kannst mir nicht folgen. Wir halten es so schon kaum in der Nähe des anderen auf. Wenn wir jetzt noch mehr Zeit als nötig miteinander verbringen, gehen wir uns bei den Proben an den Hals. Und genau da soll das doch nicht passieren. Vielleicht erinnerst du dich. Wir hatten eine Abmachung."
"Wenn ich mich recht erinnere, handelte unsere Abmachung lediglich davon, rein professionell miteinander umzugehen. Sie schränkt mich nicht ein, dass ich nicht in die Bibliothek gehen kann. Wenn wir es genau nehmen, verletzt du unsere Abmachung gerade."
"Wie das denn?", verlangte sie empört zu erfahren.
"Indem du mir vorschreibst, was ich tun kann. Das lässt vermuten, dass du die Macht über mich hast, das zu entscheiden. Wenn wir uns doch aber nur rein professionell kennen und verhalten, dann kann das doch gar nicht sein." Ich konnte regelrecht sehen, wie es in ihrem Kopf kochte. Dennoch konnte ich nicht anders, als ein provokantes "Oder?" noch zu ergänzen.
"Du drehst dir auch alles so hin, wie es dir gerade passt", brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Oh ja, wie sehr ich es genoss, sie so auf die Palme zu bringen.
Scheinbar gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. "Ich habe einfach recht."
Ihr Blick verlor sich nachdenklich in der Ferne. "Ich weiß echt nicht, was mich damals dazu gebracht hat, dich zu küssen."
"Ich weiß es noch ganz genau. Soll ich dich daran erinnern?" Ich ging mehrere Schritte auf sie zu, bis wir uns beinahe so nah gegenüber standen wie damals auf der Party.
Rosalies Augen weiteten sich, während sie zu mir hoch sah. Und obwohl sie schnell woanders hin schaute, konnte ich genau sehen, wie ihr Blick für eine kurze Zeit auf meinen Lippen verweilte. Es erging ihr tatsächlich wie mir. Wir wollten es nicht, doch das hielt uns nicht davon ab, einander trotzdem zu wollen.
"Nein, das brauchst du nicht", antwortete sie mir leise und mit einer raueren Stimme als noch zuvor.
Ich tat uns beiden den Gefallen und brachte wieder Abstand zwischen uns. Kurz glaubte ich, so etwas wie Reue in ihren himmelblauen Augen zu sehen.
Im nächsten Moment war das Gefühl verschwunden und sie räusperte sich. "Gut, wenn du unbedingt willst, dann gehen wir eben zusammen zur Bibliothek."
Erneut schritt sie, ohne auf mich zu warten, einfach an mir vorbei. Jetzt hatte ich wohl keine Wahl mehr, als ihr zu folgen. Auch wenn ich eigentlich keine Ahnung hatte, was ich in der Bibo machen sollte.
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Habt noch einen schönen zweiten Weihnachtsfeiertag ⛄️🎅
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