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"Jetzt schau mir mal tief in die Augen und sag mir die Wahrheit", forderte Elisabeth mich auf.
Ich grinste und tat, wie sie mir aufgetragen hatte. Zwar konnte sie das nicht sehen, doch genau das machte ihre Aufforderung für mich umso amüsanter. Es war spät abends und wir lagen beide im Bett. Wir hatten uns auf die Seite gelegt, sodass wir einander ansahen, zumindest in der Theorie. Denn in der Realität war es stockdunkel, sodass ich gerade so meine eigene Hand sehen konnte.
Da wir beide nicht schlafen konnten, hatte ich die Zeit genutzt, um mit Elisabeth zu bereden, was heute mit William passiert war. Ich bekam immer mehr das Gefühl, dass sie unseren Pakt für eine ganz schlechte Idee hielt.
"Glaubst du ernsthaft, dass ihr euch beide an euren Deal halten werdet? Oder denkst du, dass ihr euch innerhalb weniger Sekunden an den Hals springen werdet?" Ihre Stimme ließ vermuten, dass sie sich bereits auf eine Antwort festgelegt hatte.
Ich musste wohl erwähnen, dass ich ihr gegenüber nicht ganz ehrlich gewesen war. Alles, was mit Küssen, Hautkontakt oder Verlangen in jeglicher Hinsicht zu tun hatte, hatte ich einfach rausgelassen. Elisabeth dachte nun, dass es bei William und mir lediglich darum ging, einander nicht anzufeinden, weil wir uns - aus welchem Grund auch immer - nicht ausstehen konnten.
Mir war sehr bewusst, dass meine Halbwahrheiten nicht lange gut gehen konnten. Spätestens, wenn Elisabeth William einmal sah, würde sie ihn von der Party erkennen und wissen, dass er derjenige war, den ich geküsst hatte. Sie würde schnell verstehen, warum er und ich tatsächlich Schwierigkeiten miteinander hatten und dass die Missverständnisse zwischen uns lediglich die eine Seite der Medaille waren.
Aber bis sie das selbst herausfand, würde ich es niemandem erzählen. Das gab mir Zeit, selbst mit allem klarzukommen. Obwohl mir eine zweite Meinung vielleicht helfen könnte, die Situation besser einzuschätzen... Mal sehen, sollte es sich ergeben, Elisabeth gegenüber zufällig und beiläufig alles zu sagen, würde ich es vielleicht tun. Aber noch nicht heute.
"Ich weiß es nicht", antwortete ich ihr ehrlich. "Wir sind doch zivilisierte Menschen. Es sollte uns eigentlich nicht schwer fallen, uns daran zu halten. Schließlich profitieren wir beide davon."
Ich wusste nur noch nicht, was William davon hatte. Natürlich konnte er gut Klavier spielen, das hatte ich bereits mitbekommen. Aber wenn er dieses Hobby weiter verfolgen wollte, warum fing er erst jetzt damit an? Er studierte im dritten Semester, was bedeutete, dass er theoretisch bereits genügend Zeit gehabt hatte, sich für die Musik AG zu bewerben.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er erst jetzt damit begann, weil er die Zeit und Langeweile dafür hatte. Er spielte Fußball während des Studiums. Und ich kannte zwar den Trainingsplan der Mannschaft nicht, vermutete aber, dass sie mindestens zwei, wenn nicht sogar drei Mal die Woche trainierten. Dazu jetzt auch noch mehrere Stunden in der Woche mit dem Klavierspielen zu verbringen, musste seinen Zeitplan noch mehr strapazieren. Wann konnte er denn da noch Zeit zum Lernen aufbringen? Ich war mir schließlich jetzt schon nicht sicher, ob ich alles unter einen Hut bringen konnte. Und meine Freizeitbeschäftigungen waren wirklich überschaubar.
"Zivilisierte Menschen würden sich erst gar nicht so verhalten, wie ihr es tut", warf Elisabeth ein.
"Wir springen einander doch nicht an, wenn wir uns sehen", verteidigte ich mich. Die Doppeldeutigkeit meiner Aussage war mir sehr wohl bewusst.
Elisabeth schnaubte leise. Ich hörte ihre Decke rascheln, als sie sich bewegte.
"Ich gebe euch noch zwei Gespräche, bevor ihr einander anspringt."
Ich uns auch...
Ich verzog die Miene und war froh, dass Elisabeth das nicht sehen konnte. Was war bloß los mit mir? Ich kannte William überhaupt nicht. Empfand ich ihn körperlich als so anziehend, dass mir der Rest egal war? Oder hatte unsere Unterhaltung auf der Party gereicht, um Vertrauen zu ihm aufzubauen, das auch sein unverständliches Verhalten die letzten Male, als wir uns gesehen hatten, nicht zerstören konnte?
Vielleicht hatte meine Verwirrung auch gar nicht mit William zu tun. Es könnte doch sein, dass mein Studium und meine neue Lebenssituation meinen Körper aus dem Gleichgewicht brachten, weswegen ich mich bei William ausleben wollte, um wieder runterzukommen. Das würde es sein. Von allen Erklärungen gefiel mir diese am meisten. Denn sie bedeutete, dass, sobald ich mich an alles gewöhnt hatte, mir alles, was William anging, egal wäre. Eine befreiende Vorstellung.
"Ich meine es ernst", bekräftigte Elisabeth, als ich ihr nicht antwortete. "Die anderen sehen das übrigens genau so."
"Na super", murmelte ich. "Könnt ihr mir nicht gut zureden, dass ich mit William nur Anfangsschwierigkeiten hatte, die sich jetzt wieder legen werden?"
"Ich befürchte nicht", meinte sie und klang ernsthaft mitfühlend. "Außerdem sind wir doch dazu da, um dich auf das Schlimmste vorzubereiten. Wenn ab jetzt also tatsächlich alles besser wird, bist du umso erfreuter, weil du damit nicht gerechnet hast."
"Ihr glaubt aber nicht, dass jetzt alles besser wird?", hakte ich nach und wickelte meine Bettdecke enger um mich.
"Nicht wirklich. Paul ist der Einzige, der hoffnungsvoll an die Sache herangeht. Aaron hingegen gibt euch, so wie ich, nur noch zwei Gespräche. Isabel ist der Ansicht, dass ihr euch nach einem Gespräch fetzen werdet. Bei Mellie bin ich mir nicht so sicher. Sie hat sich aus der Diskussion eher rausgehalten. Ich glaube, sie meinte, dass ihr euch möglicherweise nur anfeindet, weil ihr nicht zugeben wollt, dass noch andere positive Gefühle zwischen euch herrschen." Elisabeth war anzuhören, dass sie nicht verstand, was Mellie damit hatte andeuten wollen. "Keine Ahnung, wie sie darauf kommt."
Darauf ging ich nicht ein. Es verwunderte mich vielmehr, dass Mellie so etwas vermutete. Was hatte sie gesehen, dass sie zu dieser Schlussfolgerung kam? Schließlich wusste sie nichts von unserem Kuss.
"Moment mal, heißt das, ihr habt quasi Wetten abgeschlossen? Wie lange dauert es, bis Rosalie und William an die Decke gehen?"
"Jap", bestätigte sie meine Vermutung. "Wir wetten zwar nicht um Geld, aber es zählt wohl trotzdem als Wetten."
Entrüstet, aber auch etwas amüsiert, richtete ich mich auf und schmiss mein Kopfkissen auf Elisabeth. Aufgrund der Dunkelheit sah sie meinen Angriff nicht kommen. Sie quiekte erschrocken auf, als mein Kissen sie mitten auf dem Gesicht traf.
"Es freut mich sehr, dass meine Komplikationen euch so viel Spaß bereiten."
Sie kicherte. "Was soll ich sagen? Des einen Drama ist des anderen Freude."
"Hätte ich noch ein Kissen, würde ich es auch auf dich schmeißen", schimpfte ich.
Plötzlich landete ein Kissen in meinem Schoß. "Danke."
Ich warf es erneut auf Elisabeth, die dieses Mal allerdings vorbereitet war und sich nicht mehr so sehr erschrak.
"Wieso nennst du ihn eigentlich William?", fragte Elisabeth mich, während sie sanft auf mein Kissen trommelte.
"Was meinst du?", hakte ich verwirrt nach.
"Die anderen haben mir erzählt, er hat sich euch als Will vorgestellt. Wieso kommst du also dazu, ihn William zu nennen?"
Das war mir bisher noch gar nicht aufgefallen. "Als wir uns zum ersten Mal gesehen haben, hat er sich mir mit William vorgestellt. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, warum."
"Hm", war alles, was Elisabeth darauf antwortete.
Stille legte sich über uns. Ich gähnte. Wäre ich nicht so müde, würde ich darüber nachdenken, was es bedeutete, dass William sich mir mit seinem vollen Name vorgestellt hatte. Doch das war eine Überlegung für einen anderen Tag.
"Kann ich mein Kissen wieder haben?", fragte ich leise.
Elisabeth lachte, bevor sie mir mein Kissen wieder zuwarf und ich mich mit einem wohligen Seufzen darauf niederließ.
"Gute Nacht", murmelte ich in die Dunkelheit.
Ich glaubte noch zu hören, wie sie mir ebenfalls eine gute Nacht wünschte, doch ich war bereits eingeschlafen.
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