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"561, 562, 563", flüsterte ich mir leise zu, während ich langsam an den Räumen vorbei ging und immer wieder die Raumnummer mit der Nummer verglich, die ich mir notiert hatte. Bei dem Raum mit der Nummer 564 blieb ich stehen. Ich faltete meinen Zettel und steckte ihn in meine Hosentasche. Dann atmete ich tief durch, strich mir noch ein letztes Mal meine Bluse glatt, bevor ich die Tür öffnete und den Raum betrat. Obwohl die Bezeichnung "Raum" hier nicht passend war. Hinter Tür Nummer 564 befand sich ein großer Saal, der mit einer Bühne am Ende ausgestattet war. Am Rand häuften sich die verschiedensten Instrumente. An den Wänden hingen Porträts bekannter Musiker und Komponisten. Mein Musikerinnenherz machte einen freudigen Hüpfer. Es war doch die richtige Entscheidung gewesen, hierher zu kommen. Es fühlte sich richtig an.
Im Saal war es ruhig, bis auf wenige gedämpfte Stimmen, von denen ich nicht ausmachen konnte, woher sie kamen. Ich nahm mir die Zeit, um langsam durch den Raum zu schreiten und mir jede Ecke, jedes Bild genau anzusehen.
Ich war so in Gedanken, dass ich nicht mitbekam, wie sich mir jemand näherte. Erst, als jemand eine Hand auf meinem Arm ablegte, fuhr ich erschrocken herum und blickte in das Gesicht einer Frau, die ich auf Mitte dreißig schätzte. Ihr blondes Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. Unter ihren Arm geklemmt trug sie einen Ordner. Ihre blauen, freundlichen Augen musterten mich besorgt.
"Geht es dir gut? Du hast nicht auf meine Fragen reagiert."
Ihre sanfte Stimme und ihr Aussehen passten exakt auf Pauls Beschreibung, die er mir heute Morgen gegeben hatte. Vor mir stand Mrs. Lukov, die Frau, wegen der ich heute hier war. Und ihr erster Eindruck von mir war, dass ich wortlos durch die Gegend starrte und nichts sagte. Es hätte nicht besser laufen können.
"Ja", beeilte ich mich, sie zu beruhigen. "Verzeihung, ich war so in Gedanken, dass ich Sie anscheinend nicht gehört habe."
Sie nickte langsam, wirkte aber noch nicht ganz überzeugt. "Bist du zum ersten Mal hier? Dein Gesicht kommt mir nicht bekannt vor."
Ich folgte ihr, als sie ihren Ordner auf einem Tisch ablegte, der etwa drei Meter von uns entfernt stand und antwortete ihr: "Ja, ich war noch nie hier. Ich wollte fragen, ob Sie noch einen Platz für mich frei hätten."
Sie lehnte sich gegen den Tisch und musterte mich. "Welches Instrument spielst du?"
"Ich spiele nicht. Also ich habe in der Grundschule drei Jahre lang Geige gespielt, aber, um ehrlich zu sein, klang das immer grauenvoll." Das war zumindest das, was mir meine Eltern gesagt hatten. "Aber ich singe."
Mrs. Lukov zeigte keinerlei Regung in ihrem Gesicht. Ich musste an mich halten, nicht vor Nervosität mit dem Bein zu wackeln. Ich fürchtete mich davor, dass sie mich abwies. Es sollte mich nicht überraschen, schließlich war die Musik AG sehr beliebt. Doch ich hatte mich so sehr darauf gefreut, mein Singen weiter zu üben und vielleicht auch einmal vorzusingen, dass mir ihre Ablehnung einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machen würde. Mein ursprünglicher Plan war es gewesen, direkt in der ersten Woche des Studiums hier vorbeizuschauen. Aber ich war so überwältigt von allem gewesen, dass ich mir die Zeit nehmen musste, erst einmal klarzukommen. Mit einfach allem. Jetzt hatte ich aber die Vermutung, dass ich mir zu viel Zeit genommen hatte.
"Seit wann singst du?", fragte Mrs. Lukov mich nach einer Weile.
"Seit ich sieben bin. Dann immer im Schulchor. Mit Gesangsunterricht habe ich begonnen, als ich zehn war."
"Sing mir etwas vor", forderte sie mich auf.
Unsicher hakte ich nach: "Jetzt? Einfach so?"
Sie nickte. "Man sollte immer einfach so singen können, findest du nicht?"
"Naja, also ich bereite meine Stimme schon ganz gerne vor."
"Es geht nicht darum, dass du mir perfekt etwas vorsingst. Ich will wissen, ob du hast, was es braucht", erklärte sie sich. Dann holte sie erneut ihren Ordner hervor und legte ihn auf ihrem Schoß ab. Es dauerte nicht lange, bis sie fand, was sie suchte. Sie hielt mir einen Zettel hin, auf dem ein Liedtext abgebildet war. Ich schluckte schwer, als ich den Titel las.
"My Heart Will Go On von Céline Dion", las ich langsam vor.
Mrs. Lukov nickte bestätigend und lächelte mir aufmunternd zu. "Einfach so."
Meine Hand zitterte leicht, während ich den Text betrachtete. Einfach so zu singen, war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Wenn es jedoch das war, was es brauchte, damit ich ihrem Kurs beitreten konnte, würde es nicht an meiner Nervosität scheitern.
Ich setzte zum Singen an. Kaum hatte ich die ersten zwei Worte gesungen, geschah das, was ich am Singen so sehr liebte. Ich vergaß alles um mich herum. Ich dachte nicht an Mrs. Lukov oder an mein Unileben. Ich war nur darauf bedacht, die richtigen Worte in die richtige Tonlage zu bringen. Während ich sang, realisierte ich, wie sehr ich es vermisst hatte. Ich hatte nicht sehr oft die Chance, einfach so zu singen. Selbst auf meinem Zimmer war mir das meist nicht möglich, denn Elisabeths Anwesenheit erschwerte mir das.
Umso befreiender fühlte es sich an, jetzt meiner Stimme freien Lauf zu lassen. Ich war etwas traurig, als das Lied endete.
Ich blinzelte mehrmals und atmete einmal tief durch, bevor ich meinen Blick auf Mrs. Lukov richtete. Meine Hand hatte lange aufgehört zu zittern.
Die Dozentin lächelte mich an. "Also eigentlich sind wir voll. Ich brauche für meinen Chor niemanden mehr. Und ich möchte auch keinen hinaus werfen."
Meine Hoffnung verließ mich, doch sie war noch nicht fertig. "Allerdings muss ich gestehen, dass es überaus schade wäre, deine Stimme nicht weiter zu fördern. Ich habe vielleicht Verwendung für dich und sogar schon eine Idee, wie ich dich einsetzen könnte."
"Wirklich?" Ich konnte nicht anders, als begeistert zu klingen. "Das wäre super. Was auch immer Sie sich vorgestellt haben, ich bin dabei."
Sie lachte. "Die Einstellung gefällt mir. Vor ein paar Tagen hat sich jemand bei mir gemeldet, der - so wie du auch - noch mitmachen wollte. Ich könnte mir euch beide gut zusammen vorstellen. Und wer weiß? Solltet ihr harmonieren und euch gegenseitig fördern, sehe ich euch eventuell auf der nächsten offiziellen Veranstaltung auf der Bühne. Zumindest, wenn es das ist, was ihr wollt."
Sämtliche Anspannung und Sorgen der letzten Minuten verließen meinen Körper. "Das wäre super. Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie mir eine Chance geben."
Sie winkte ab. "Es wäre falsch, jemanden mit einem solchen Willen und einer solchen Begeisterung für Musik abzuweisen. Komm, ich stelle dir deinen Partner vor. Er ist gerade nebenan und testet sich am Klavier aus."
Eine Zusammenarbeit mit einem Pianisten? Ich unterdrückte ein breites Lächeln. Das könnte mir gefallen. Ich hatte bereits Erfahrung damit, von Instrumenten begleitet zu werden, bisher waren das aber nur Gitarren gewesen.
Mrs. Lukov führte mich den Saal entlang, bis wir zu einer Tür gelangten, die ich von vorne nicht hatte sehen können. Sie öffnete sie und führte mich hinein. Es war ein kleiner Raum. Er wurde größtenteils von zwei Fenstern beleuchtet, die mit schweren, roten Vorhängen verdunkelt werden konnten. Eine Wand war vollkommen verspiegelt. In der Mitte des Raums stand ein Klavier, an dem ein Junge saß, der uns den Rücken zugewandt hatte. Seine Finger schwebten über die Tasten und die paar Töne, die ich von ihm hörte, ließen mich verzaubert stehen bleiben, um ihm zu lauschen.
Mrs. Lukov lächelte und klatschte einmal in die Hände. "Ich habe ein sehr gutes Gefühl mit euch beiden." Sie wandte sich an den Pianisten. "William, ich habe die perfekte Partnerin für dich gefunden."
Die Töne verklungen und wurden durch ein Piepen in meinem Ohr ersetzt, als ich den Namen des Jungen vernahm. William drehte sich zu uns um und stockte.
"William, das ist-" Mrs. Lukov stockte. Mit einem entschuldigenden Lächeln fragte sie mich: "Wie heißt du eigentlich? Ich habe dich gar nicht nach deinen Namen gefragt."
"Rosalie. Rosalie Mohr."
"Rosalie Mohr", wiederholte sie. "Rosalie, das ist William."
Ich verzichtete, sie darauf hinzuweisen, dass wir uns schon einige Male vorgestellt wurden und auch keine Fremden waren.
William schien nicht in der Lage zu sein, überhaupt zu sprechen, so verblüfft war er von meiner Anwesenheit. Keiner von uns hatte auch nur annähernd damit gerechnet, dass wir uns hier wiedersehen würden.
"Rosalie singt und du spielst Klavier", erklärte Mrs. Lukov, als wäre das nicht offensichtlich. "Ich lasse euch den Raum, dann könnt ihr üben, wann immer ihr wollt. Am besten setzt ihr euch erst einmal zusammen und überlegt, was ihr vorspielen wollt. Nächste Woche würde ich gerne eure Vorschläge mit euch durchgehen. Bei Fragen könnt ihr euch immer an mich wenden. Ich werde regelmäßig vorbeischauen, um sicherzugehen, dass alles läuft. Noch irgendwelche Fragen?"
Obwohl mir so einige Fragezeichen im Kopf schwebten, brachte ich kein Wort heraus. Stattdessen schüttelte ich nur den Kopf. William tat es mir gleich.
"Prima. Ich lasse euch zwei alleine und bin direkt nebenan." Entweder sie bemerkte die Spannungen zwischen William und mir nicht oder sie waren ihr schlichtweg egal. Als Mrs. Lukov an der Tür angekommen war, drehte sie sich noch einmal zu uns um. "Ihr beide werdet ein tolles Team sein, da bin ich mir sicher. Ihr habt das gewisse Etwas." Damit ließ sie uns alleine.
Na wenn sie sich damit mal nicht täuschte...
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