Kapitel 8
Ein dicht geknüpftes Netz aus Seelen umgab kuppelförmig ihre Übungsfläche am Fluss, diente als Alarmanlage und schirmte jeglichen Magiegebrauch nach außen hin ab.
Die nächste Stunde versuchte er, dem Engel beizubringen, wie man mithilfe von Energien fliegen konnte.
Zugegeben, es war schwierig, aber nicht unmöglich.
Mentyriel sah das anders.
Er versuchte es verbissen, aber mehr als das wurde es nicht: Es blieb bei kläglichen Versuchen. Kaum verwunderlich, eigentlich. Engel brauchten keine Zauberei zum Fliegen. Und Dämonen mussten meist lange Zeit trainieren, um sich ohne Flügel stabil in der Luft halten zu können. Außerdem wollte der Engel jeden verdammten theoretischen Schritt des Vorgehens wissen, was der eher praxisorientierten Herangehensweise der Dämonen widersprach. Nyx wusste, wie es sich anfühlen musste. Fertig. Er konnte beim besten Willen nicht alles bis ins kleinste Detail erklären.
Dass der Engel nicht bei Kräften war, machte es nicht besser. Andererseits waren die Grundzüge des Zaubers aber leider auch nicht gerade anstrengend. Er hatte Schmerzen, aber der Umgang mit Magie schien Tyriel kaum auszulaugen und hinderte ihn nicht, es wieder und wieder zu versuchen und ihn wieder und wieder mit Fragen zu löchern.
Engelstypisch starrsinnig und eingebildet.
Momentan spielte Nyx mit dem Gedanken, es auf die Dämonen-Art zu versuchen. Man nehme eine hohe Klippe und schubse den Lehrling hinunter. Es gab keine bessere Methode, jemandem das Fliegen beizubringen.
Als Tyriel es ein letztes Mal versuchen wollte, war er so frustriert, dass ihn der Zauber durch die Luft katapultierte. Mehr aus Reflex versuchte Nyx ihn aufzufangen, doch der Schwung war zu groß. Der Engel krachte in ihn hinein, bohrte ihm dabei ein Knie in den Bauch, und sie gingen beide zu Boden.
„Die Eleganz der Engel." Der Dämon lächelte ihn zähnezeigend an, schubste ihn von sich und richtete sich wieder auf.
Tyriel ballte die Hand zur Faust und ließ sie zu Boden sausen. „Es funktioniert nicht, es wird niemals funktionieren!"
Er hatte einen Engel selten so emotional erlebt. Geschweige denn diesen so wütend.
„Doch. Wenn wir jeden Tag üben, dann solltest du in den nächsten hundert bis zweihundert –"
Entrüstet stieß er ihm die Hand in die Seite. Ziemlich fest, Nyx stolperte ein paar Schritte zur Seite.
„Du musst mir nicht gleich die Rippen brechen, Ratte. Nur weil du in einer Sache nicht sofort perfekt bist." Er hatte überlegt, ihm zu sagen, dass er erstaunlich schnell Fortschritte machte. Doch jetzt entschied er sich dagegen.
„Ich bin in vielen Dingen nicht perfekt", lachte der Engel, während er langsam auf den Fluss zuschlenderte.
Nyx verfluchte sich. Natürlich hatten diese Worte die Ratte aufgeheitert. Er würde in Zukunft besser darauf aufpassen müssen, was er sagte.
Mentyriel fuhr fort: „Aber diesen speziellen Zauber werde ich bis zur Perfektion trainieren, egal wie lange es dauert. Es würde allerdings schneller gehen, wenn du mir spezifischer erklären könntest, wie man die Luft manipulieren muss, um den gewollten Auftrieb –"
„Tsk. Es würde schneller gehen, wenn du einfach das tun würdest, was ich dir sage", konterte er.
Kopfschüttelnd stieß er ein Lachen aus, sah grinsend zu dem Dämon zurück. „Auch daran werde ich arbeiten." Er wandte sich wieder dem Wasser zu, trat näher heran. Dann fing er an, geschickt auf den Steinen zu balancieren, die hier und da die Wasseroberfläche durchbrachen.
Selbst wenn Mentyriels Fröhlichkeit noch etwas aufgesetzt wirkte, ging es ihm scheinbar besser. Nach einigen hundert Jahren lernte man, hinzunehmen, was das Schicksal einem brachte. Oder zumindest, dass es unveränderlich war. Meistens. Sein Illusionszauber sorgte jetzt wieder dafür, dass er perfekt aussah. Was den Dämon darauf schließen ließ, dass das flügellose Täubchen ziemlich dämlich und eitel war.
Ein lautes Platschen ließ ihn zu der Stelle blicken, an der der Engel sich gerade noch befunden hatte. Keuchend saß er da im Wasser, einen seiner empörten Gesichtsausdrücke zur Schau stellend. Die gefielen ihm an dem Engel am besten.
Nyx konnte gar nicht anders, er brach in schallendem Gelächter aus und trat näher ans Wasser.
„Ich hätte ja keinen Beweis benötigt, dass du nicht perfekt bist, aber sehr nett von dir", japste er. „Könntest du das wiederholen? Ich habe es nicht gesehen."
Zwei Hände umschlossen seinen Arm und rissen heftig daran. Fast hätte er das Gleichgewicht verloren und wäre selbst im Wasser gelandet. Allerdings nur fast. Der Engel hatte aber offenbar nicht vor, so einfach aufzugeben.
Völlig durchnässt lagen sie schließlich beide am Ufer, die Brust des Engels hob und senkte sich noch immer schnell und um seine Lippen spielte ein Lächeln.
Das erinnerte ihn schon mehr an das Zusammenleben mit Dämonen. Nur waren Kämpfe gegen Dämonen oftmals weitaus weniger albern und hatten ein Ziel. Seine Meinung zu verteidigen, seinen Stand oder seine Ehre.
Wahrscheinlich hatte er sich schon lange nicht mehr so ... Wie fühlte er sich?
Er musste zugeben, er empfand etwas weniger Hass, dem ungewöhnlichen, verrückten Engel gegenüber. Er war fast wie ein Dämon. Nur mit besseren Manieren und ohne die Absicht, sich seine Position unter den Nagel zu reißen. Nyx musste sich keine Sorgen darüber machen, eines Nachts aufzuwachen und die Klinge des Engels am Hals zu spüren. Mentyriel schien auch nichts gegen seine Gegenwart zu haben. Noch nie hatte er Abscheu oder Ablehnung in dessen Blick gesehen, noch nie direkt gegen ihn gerichteten, ungerechtfertigten Hass. Er war anders als die Engel, mit denen er sonst zu tun hatte.
Vielleicht, weil er ein Thron war? Jetzt wünschte er sich doch, mehr über die Angehörigen der ersten Hierarchie in Erfahrung gebracht zu haben. Sie hatten etwas zu tun mit Entscheidungen, Schicksal, Ursache, Wirkung, blablabla. Als er gegen sie gekämpft hatte, waren sie ihm nicht besonders erschienen.
Nyx war allerdings auch bewusst, dass er selbst sich verändert hatte. Weil er keinen Kontakt mit Lucifer aufnehmen konnte? Etwas in seinem Innern stimmte nicht, es gab weniger Zorn, weniger Dunkelheit. Das Fehlen der Dunkelheit hatte früher Schmerzen mit sich gebracht, eine schreckliche Sehnsucht und Einsamkeit. Seine ältesten Erinnerungen hatten ihn gequält, an die Zeit, in der noch rotes Blut durch seine Adern gepulst war, in der Leben in ihm gesteckt hatte. Ein Herzschlag. Aber jetzt ... „Vielleicht wäre es nicht so schlimm ..."
„Hm?"
Er hatte nicht bemerkt, dass er den letzten Satz laut ausgesprochen hatte.
Nicht schlimm, sich zu erinnern. Nicht schlimm, nie wieder an den Teufel gekettet zu sein. Was dachte er da überhaupt? Mehr als zwei Tage mit dem Verrückten und er verlor selbst schon den Verstand. Über sich den Kopf schüttelnd blickte er zu dem Engel herüber.
„Nichts. Ich habe nur laut gedacht."
„An was?"
„Wieso sollte ich dir alle deine Fragen beantworten, Engel?" Schnaubend stand er auf, suchte sich einen Weg zu einem der größeren Steine im Fluss, auf dem er sich niederlassen konnte. Er schloss die Augen, konzentrierte sich auf das vor sich hin plätschernde Wasser. Und versuchte, seinen Gedanken zu entkommen.
Diese Unruhe in seinem Inneren nagte an ihm, wie Maden, die ihre Tunnel durch sein Fleisch gruben. Müsste er einen Zeitpunkt benennen, an dem das alles angefangen hatte, es wäre der Kampf gegen den Engel, gegen Mentyriel, gewesen. Diese eine Berührung, dieser eine seltsame mitleidige Blick des Engels.
Wer konnte ihm garantieren, dass der Engel nicht ein falsches Spiel mit ihm trieb?
Noch am selben Tag setzten sie ihren Weg fort. Mittlerweile hatte Tyriel seinen Pullover komplett wiederhergestellt, aber fliegen konnte er immer noch nicht. Schrecklich unnütze nützliche Zauber, die er da meisterhaft beherrschte.
Sie waren jetzt schon einige Zeit unterwegs, als Mentyriel stehen blieb, lauschend.
Auch Aro nahm die Geräusche wahr, ein leichtes Rascheln in der Luft. Unzufrieden verzog er sein Gesicht.
„Das sind meine. Ich habe sie auf den Flügel angesetzt. Sie sind auf dem Weg zu uns. Wir werden ihnen wahrscheinlich nicht mehr entkommen können." Stümperhafte Schatten. Sie hatten bis jetzt mehr Glück als Verstand gehabt.
Tyriel schnalzte mit der Zunge. „Wir können uns ihnen aber auch nicht entgegenstellen. Im Moment nicht."
„Also hast du einen besseren Vorschlag, Engel?"
„Wir müssten nah genug sein."
„Nah genug für was?"
Doch da murmelte der Engel schon eine Formel, ließ einen lichtschimmernden Dolch entstehen.
„Tyriel!", fauchte Nyx.
Die Engel waren nah. Da trat auch schon der Erste aus dem Unterholz. Und ein zweiter, dritter, vierter.
Tyriel fuhr mit dem Dolch senkrecht durch die Luft, ließ eine schwebende, goldschimmernde, knisternde Linie zurück.
„Haltet sie auf!", kreischte einer der Krieger, sein Gesicht rot vor Wut.
Zornig formte Nyx einen Schutzwall, wohlwissend, dass er keine Chance hatte.
Lichtgeschosse flammten auf sie zu.
Doch bevor sie die beiden erreichen konnten, zog der Engel den Dämon in totale Finsternis.
Mit einem dumpfen Laut landeten sie auf felsigem Untergrund. Der leuchtende Riss, die Wunde im Raum über ihnen, schloss sich. Vollkommene Schwärze umfing sie.
Während der Engel, zitternd und um Atem ringend, liegen blieb, sah sich Nyx um. Seine Augen ließen ihn nach ein paar Sekunden der Anpassung nicht im Stich. Ausmachen konnte er trotzdem nicht viel, sie mussten sich in einer weitläufigeren Höhle befinden. Es herrschte unnatürliche Stille. Und es roch nach Stein und Feuchtigkeit und ... Es roch uralt, anders konnte er es nicht beschreiben.
„Wo sind wir?" Selbst seine Stimme klang seltsam gedämpft.
„Wer wagt es!", donnerte es durch seine Gedanken.
Nyx kannte diese Art der magischen Signatur.
Ihm wurde schaudernd klar, wo sie sich befinden mussten. Bei den Zwielichtbringern. Im schlimmsten Fall in ihrer eigenen kleinen Dimension, in der nichts existierte als Schwärze, Tod und ihre Stadt.
Nur einmal in seinem Leben war er einem der Anhänger über den Weg gelaufen. Und es war keine angenehme Begegnung gewesen. Viel zu gut erinnerte er sich noch daran, wie es sich anfühlte, physisch und psychisch auseinandergerissen zu werden.
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