Kapitel 6
Von Sekunde zu Sekunde brodelte die Dunkelheit unbestreitbarer in seinem Inneren. Er war wütend und dabei konnte er noch nicht einmal genau festmachen auf was oder wen.
Der Engel saß in beträchtlichem Abstand von ihm entfernt an einen Baum gelehnt und sah vor sich hin. Nyx konnte schwer beurteilen, ob der Geflügelte zornig war oder gekränkt. Dämonen ließen einem ihren Zorn spüren, teilten mit ihren Fäusten mit, wenn man sie beleidigt hatte. Verziehen hatte der Engel ihm nicht, nein, er schien zu nachdenklich, vermied es, ihn anzusehen. Egal, wie er sich ihre Reise vorgestellt haben mochte, er hatte Nyx falsch eingeschätzt. Vielleicht bereute er es.
Ein Zischen entwich ihm, als er feststellte, dass er gerade versuchte, einen Engel zu verstehen. Es sollte ihm egal sein.
Nyx presste seine Handballen gegen seine Augenlider.
Wahrscheinlich musste er sich einfach nur entschuldigen. Engel standen auf solche Floskeln, das hatte er beobachtet. Er musste es noch nicht einmal ernst meinen. Taten sie auch nicht. Nur, damit er nicht ständig von seiner Magie abgeschirmt war.
Also los.
Jetzt.
Los!
„Engel. Mentyriel, meine ich. Es ... Es ..." Er kam nicht weiter, sah auf zu den Schäfchenwolken am Himmel. „Es ... tut ..." Er würde ersticken, bevor das über seine Lippen kam. Sich bei einem Engel einschleimen, das lag so weit unter seiner Würde, er –
„Es tut was?"
„Was?" Nyx' Blick zuckte zu Mentyriel.
„Mir tut es leid", sagte dieser überraschend und ganz langsam. „Ich wollte nicht deine Ehre verletzen, indem ich dich davon abhalte, meinen Cousin zu töten. Oder deine Bemühungen, mir zu helfen, herabwürdigen. Ich bin dir dankbar. Aber auch wenn du in ihm nur einen Feind siehst, bleibt er dennoch ein Freund von mir."
Seltsamerweise besänftigte ihn diese Entschuldigung überhaupt nicht. Wollte der Engel denn immer alles über sich ergehen lassen, wider seiner Worte?
„Hngrr ... Gut. Mir tut es ... nicht leid, dass ich ihn umbringen wollte. Und vielleicht bist du manchmal naiv und dumm und ... aber zumindest körperlich nicht schwach. Zumindest kannst du mit Magie umgehen. Wenn du dir Mühe gibst. Aber ... ich wollte dich nicht angreifen. Natürlich, auf gewisse Weise wollte ich das schon, aber ... Was ich meine ..." Ja, was meinte er?
„Lass gut sein." Die Worte stimmten und er schaffte es sogar, Nyx' kalten Spott nachzuahmen.
Und Nyx ließ es. Bevor er sich noch mehr blamierte. Seit wann entschuldigte sich ein Dämon? Bei einem Engel!
Aber er wollte, nein, brauchte das Vertrauen dieses Hähnchens. Er krallte seine Finger in seine Haare und schloss kurz die Augen.
„Aro." Mit diesem Wort gab er ihm Macht über seine Seele, sollte sie jemals seinen Körper verlassen.
Fragend sah er ihn an. „Entschuldige?"
„Mein wahrer Name, Engel." Aber so lange Mentyriel vor ihm starb, war das kein Problem. Und es erzielte die richtige Wirkung.
Ehrliche Überraschung spiegelte sich im Gesicht des Anderen. Respektvoll neigte er den Kopf und stand auf.
„Freut mich." Als er vor ihm stand, streckte er die Hand aus.
Augenverdrehend rappelte sich der Dämon auf, reichte ihm die seine. „Das kann ich nicht gerade sagen."
„Und hier dachte ich, wir würden es mit einem Neuanfang versuchen." Der Engel seufzte theatralisch.
Worauf Nyx die blasse Hand an seine Lippen führte und einen Kuss darauf hauchte. „Die Freude ist natürlich ganz meinerseits, Ratte des Himmels."
Die Antwort bestand aus einem hinreißenden Lachen.
Als er wieder aufschaute, konnte er den Ausdruck in den Augen des Engels nicht deuten, aber die unglaubliche Hochmut dieser Kreatur, die aus jeder Bewegung sprach, traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Wahrscheinlich war er es nicht anders gewohnt, als mit Handkuss von Speichelleckern begrüßt zu werden.
Der Dämon wandte den Kopf und ließ seine Hand fallen.
„Also, verzeihst du mir?"
So sachte die Luft ausstoßend, dass man es nicht als Schnauben bezeichnen konnte, hob der Engel seine rechte Hand, berührte ihn mit seinem Zeigefinger leicht am Kinn und zwang ihn, ihn wieder anzusehen.
„Vielleicht."
„Ha!" Sein Mund verzog sich zu einem bissigen Lächeln. Er schlug die Hand beiseite, diese sanften, spottenden Finger. „Und deine Verletzungen? Lass sehen."
„Nicht nötig."
„Angst, Engel? Mein Leben hängt von deinem ab, also lass verdammt noch mal sehen."
Mentyriels Blick bohrte sich in seinen, dann nickte er. „Wenn es denn sein muss."
Er streifte den Pullover ab, sodass der Dämon die Schnittwunde, die sich quer über seinen Brustkorb zog, jetzt besser sehen konnte. Sie blutete nicht mehr so stark, aber die Tatsache, dass sie es noch tat, war Beweis genug, wie schlecht es dem Engel ging. Zur Sicherheit wirkte er selbst einen kleinen Heilzauber und stellte mit Genugtuung fest, wie der Engel bei der Berührung mit seiner so vollkommen gegensätzlichen Magie zusammenzuckte.
„Kein Grund zur Aufregung. Momentan ist es noch in meinem Interesse, dass du am Leben bleibst."
Dann trat er um den Engel herum, strich über seine Flügel, um die Wunden dort zu begutachten. Weich unter seinen rauen Fingern, mit keinem Material zu vergleichen. Er spürte den Schauer, der durch den Anderen rann. Mehr als belustigt fuhr er nochmals über die reinen Federn, bekam als Reaktion ein leises Seufzen. Er hätte es zwar niemals zugegeben, aber ihm selbst gefiel das Gefühl. Wenn er den Engel dadurch ärgern konnte, umso besser. Doch er nahm wahr, wie Tyriel sich straffte, bevor er sich umdrehte, ihm einen tadelnden Blick zuwarf.
„Engelsflügel sind –"
Ein Surren war zu hören, leise wie das Schlagen von Libellenflügeln.
Die Zeit schien sich zu verlangsamen.
Es knackte, ein Geräusch, das Menschen als Übelkeit erregend bezeichnet hätten, für das der Dämon selbst unzählige Male verantwortlich gewesen war. Hinter dem Engel spritzte Blut auf, silberne Tropfen, die für einen Moment in der Luft hingen und mit dem Sonnenlicht spielten. Weiße Schwingen segelten sanft raschelnd zu Boden, wo sie mit einem endgültigen dumpfen Laut aufkamen.
Die Engelskrieger hatten ihm die Flügel genommen. Deutlicher konnten sie ihr Urteil nicht verkünden.
Mehr als damals bei Nyx' Angriff hatte sich das Gesicht des Engels in Panik und Verzweiflung, in purem Schmerz und blankem Horror verzogen. Sein Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Seine Augen weiß, so weit aufgerissen. Tränen liefen ihm unkontrolliert über die Wangen, fast so silbern wie sein Blut. Er krallte sich in seinen Kapuzenpullover, als würde sein Leben davon abhängen. Sank auf die Knie.
Und gab ihm damit das Ausmaß der Verletzung preis.
Wo einst zwei Paar prächtige Flügel ihren Platz hatten, befanden sich nun nur noch vier blutige Stümpfe. Selbst dieser Anblick hatte, durch die silberne Flüssigkeit, etwas makaber Künstlerisches. Vielleicht konnte das aber auch nur ein Dämon so sehen.
„Siehst du jetzt, was du davon hast?!", keifte eine neue Stimme. „Der Dämon. Deine naiven, rücksichtslosen Ideen. Dein Verhalten hat dich beschmutzt und mit dir uns alle! Verbannung ist das gnädigste Schicksal, dass solch ein Verräter wie du erwarten darf. Endgültige Vernichtung das härteste."
Zwei Engelskrieger, beide Unbekannte, landeten in einigen Metern Entfernung. Gleiche Ausstattung wie ihr Freund, dessen Bekanntschaft sie schon in der Stadt und früher am Tag hatten machen dürfen.
Da war der eine, der gesprochen hatte, und ein anderer, der mit geweiteten Augen neben ihm stand und Tyriel anstarrte.
Ihm war es egal, wer sie waren, ob Mentyriel es gut heißen würde oder nicht. Sie würden büßen.
Schwarzer Nebel loderte um ihn auf, wie Feuer. Voll kalter Wut schleuderte er die Flammen auf die Neuankömmlinge. Sie formten sich fauchend zu einer wolfsähnlichen Bestie und rissen heftig an dem Schutzwall, den die Engel errichtet hatten. Dieses Mal hielt Mentyriel ihn nicht zurück. Der saß zusammengesunken in seinem eigenen Blut, vollkommen paralysiert, unartikulierte Laute ausstoßend.
Nyx wusste, dass er nicht viel Zeit hatte. Brüllend sammelte er alle Macht, die er entbehren konnte und hetzte sämtliche Seelen in seinem Körper auf sie. Ein wogender und kreischender Wirbel umschloss die Engel, von denen nichts mehr zu sehen war. Der Geruch nach Verwesung lag in der Luft.
Hastig fuhr er herum, packte seinen Engel und zog ihn mit sich, Heil- und Schutzformeln murmelnd. Sie mussten ein Versteck finden, solange die beiden beschäftigt waren.
Offensichtlich war ihm einmal irgendjemand oder irgendetwas wohlgesonnen. Er fand einen Überhang an einem Flussufer, der Stein ragte weit vor, einen Meter über dem Boden. Nyx half dem Engel an dem herunterhängenden Grünzeug vorbei und darunter, wo sich der erdige Grund zu einer Mulde absenkte, und sorgte dafür, dass jegliches kleine Getier verschwand. Immer noch hatte Tyriel seinen zerschlissenen und jetzt blutverkrusteten Pullover in der Hand. So sanft wie möglich entwand er ihn ihm.
„Ich bin gleich wieder da. Ich werde unsere Spuren verwischen und falsche legen."
Der Engel sah ihn an, als würde er ihn gar nicht wahrnehmen. Nyx hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte. Kein Dämon würde sich jemals die Blöße geben und so zusammenbrechen. Er kroch wieder hervor, versiegelte und tarnte die Öffnung und machte sich ans Werk.
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