Kapitel 19
Drei ganze Tage verbrachte der Engel im Bett und ruhte sich aus.
In dieser Zeit war Aro derjenige, der umherstreifte. Er war unruhig. Und er hatte keine Lust, sich mit Hel und ihren Albernheiten auseinanderzusetzen. Oder mit Tyriel und seinem Talent, alles auf den Kopf zu stellen.
Im Dorf warf man ihm immer noch misstrauische Blicke zu. Er verübelte das niemandem, es verstärkte aber das Gefühl, nirgendwo mehr willkommen zu sein. Kein Dämon, so mächtig er auch war, konnte vollkommen auf sich allein gestellt überleben, verhasst von seinesgleichen und sowieso von Engeln.
Einige Stunden verbrachte er in den finsteren, rauen Gängen im Gestein und ging spazieren, wenn man es denn so nennen wollte. Rascan leistete ihm Gesellschaft, aber sonst ließen ihn sowohl Hel als auch Lucifer in Ruhe.
Die Tür der einzigen Bar der Stadt quietschte. Sobald Aro eintrat, verstummte jedes Gespräch. Erst als er mit einem Gläschen Gin eine dunkle Ecke gefunden hatte, sich dort auf der schwarz gepolsterten Bank niederließ, den Kopf gegen die Wand lehnte und die Augen schloss, schienen sich die Leute wieder etwas zu entspannen.
Wie dämliche Vögel im Wald, deren kleine Herzchen er mit seiner bloßen Anwesenheit zum Rasen brachte.
Er blinzelte. Ein bläulicher Dunst waberte in der Luft, tanzte im Licht, schwerfällig und dicht, betäubte seine Sinne aber nur ansatzweise.
Zuerst hörte er hauptsächlich dem Gedudel zu, das blechern aus einem verbeulten Radio hallte. Nach und nach füllten weitere Geräusche den Raum aus. Einige interessante Worte verließen die Münder der Gäste. Interessant im weitesten Sinne, aber er nahm trotzdem auf, was er konnte. Gläser klirrten, Karten wurden auf dunkelbraune Holztische geklatscht und Geld wechselte den Besitzer.
Jede Nacht kam er wieder zurück, machte es sich in dem modernen, aber ungemütlichen, Sessel in Tyriels Zimmer so bequem wie möglich. Ignorierte Hel, die ebenfalls ins Zimmer schlüpfte. Und erzählte ihm, während ihres Abendessens, das, was er über den Tag hinweg erfahren hatte.
Alltägliches, wie der Zusammenstoß von einer kleineren Patrouille Engelskriegern mit einem Trupp Dämonen vor ein paar Tagen. Außer Kontrolle geratene Magie hatte alle in einem Feuersturm eingeäschert. Wer so etwas fabrizierte, hatte in seinen Augen diesen Tod verdient. Ein Blick in das schmale, von Trauer gezeichnete Gesicht des Engels reichte aber, um ihn zum Verstummen zu bringen und davon abzusehen, mehr Details zum Besten zu geben.
Er hatte von einigen internen Kriegen innerhalb der Reihen der obersten Dämonen gehört. Aber das war nichts Neues. Machtwechsel. Wer seine Position nicht halten konnte, war sie nicht wert. Überwiegend alte Bekannte von ihm waren nachgerutscht. Niemand, um den er sich hätte Sorgen machen müssen, niemand, der ihm Schwierigkeiten bereiten würde, sollte er sich dazu entscheiden, wieder ...
Wie viel Wahrheitsgehalt in den Gerüchten dieser abgekapselt lebenden Dämonen hier steckte, war allerdings fragwürdig.
Über sich selbst oder den Engel hörte er nichts Konkretes.
Nachdem er seinen Bericht und sein Mahl beendet hatte, war er stets etwas länger geblieben.
Es herrschte dann für ein paar Minuten Stille, eine Stille, die weder für den Dämon noch für den Engel unangenehm schien. Hel allerdings zappelte an jedem einzelnen Abend zunehmend rastloser auf dem anderen weinroten Sessel im Zimmer herum, bis sie das Wort ergriff, um die Stille auszufüllen.
Etwas später stand er auf, um das Wohnzimmer für die Nacht in Beschlag zu nehmen.
Den dritten Tag verbrachte er an der Oberfläche, saß einfach nur da, ließ seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnen und sein Gehirn an die schiere Farbenpracht. Ihm war nach Grau und Schwarz zumute und trotzdem blühte vor ihm eine bunte Wiese, während über ihm, nach anfänglichem Zögern, die Vögel sangen.
Aus seinem erhobenen Arm stoben die Schatten, zerfetzten das Gras, die Blumen und die Insekten, gruben sich in die Erde, sodass diese wild umherspritzte und eine braune Wolke für einige Momente die Sonne und die Farbe verhüllte.
Kraftlos fiel sein Arm wieder herab. Die Seelen krochen zurück, der Staub legte sich. Das bunte Schlachtfeld kam zum Vorschein.
Und Rascan, der ihn aus alten, klugen Augen ansah. Ein treues Tier.
„Was?", knurrte er.
Seine Ohren zuckten träge. Er stand kurz auf, um sich den Dreck aus dem Fell zu schütteln, dann legte er seinen Kopf wieder auf seinen Pfoten ab.
Nach ein paar Minuten setzte zaghaft das Vogelgezwitscher wieder ein.
Er ließ sich nach hinten fallen. Wie konnte alles so normal weitergehen, während er sich fühlte, als hätte er den Halt verloren?
Er wusste nicht, was zuerst passiert war: Rascans Knurren oder das erneute Aussetzen des Vogelgezwitschers.
Kaum war Aro auf den Beinen, fiel ihm die Gestalt kaum drei Meter von ihm entfernt am Waldrand auf. Der unbekannte Engel machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu verstecken, ließ in aller Ruhe seinen Blick über die zerstörte Landschaft, die Chimäre und den Dämon gleiten.
Aros Schatten schrien, genauso wie sein Instinkt. Trotzdem zwang er sich, nicht anzugreifen, räusperte sich stattdessen, was den Engel dazu brachte, seinen Blick direkt in die Augen des Dämons zu bohren. „Ähm. Hallo. Hör mal ... Ich will dir nicht wehtun. Wie wäre es, wenn wir einfach unserer Wege gehen und diese Begegnung vergessen?" Er zog seine Mundwinkel nach oben und versuchte sich an einem unbedrohlichen Lächeln.
Der Engel stieß ein leises Lachen aus, ein melodisches Musikstück. Um seine dunkelgrünen Augen bildeten sich kleine Fältchen, seine schulterlangen braunen Haare wurden vom Wind liebkost. Er war attraktiv, aber auf eine andere Art als Tyriel, nicht so zart, nicht so unschuldig.
„Bist du schwach? Dumm? Feige? Hältst du mich für dumm?"
Aro runzelte die Stirn. „Nein. Ich will nur nicht –"
Ein Sog erfasste Aro, zog ihn direkt auf den Engel zu, der ihn schon mit einer auf sein Herz ausgerichteten Lichtlanze erwartete. Er schlug die Waffe beiseite, Hitze brannte erst in seiner Hand, dann in seiner linken Schulter, wo das Licht sein neues Ziel gefunden hatte.
Feurige Finger schlossen sich um seinen Hals.
Der Engel beugte sich vor, lächelnd. „Abfall wie du muss brennen."
„Ich will nicht kämpfen", versuchte es Aro erneut, umfasste das Handgelenk der Hand, die ihn festhielt. „Bitte." Er winkte Rascan zu, zu verschwinden, doch die Chimäre rührte sich keinen Millimeter.
Ausdruckslos wurde Aro von dem Engel gemustert.
Das heilige Feuer fraß sich so plötzlich durch seinen Körper, dass er es erst nicht für das erkannte, was es war. Dann stemmte er alle Abwehrmechanismen dagegen, die ihm zur Verfügung standen. Licht und Dunkelheit führten einen Kampf in seinem Inneren, jagten sich gegenseitig hinterher, verzehrten sich. Die schwarze Flüssigkeit in den Adern begann zu brodeln, der Druck hinter seinen Augen nahm zu und er hatte das Gefühl, sein Kopf würde platzen, wie eine Melone, um die man zu viele Gummibänder geschlungen hatte. Schatten verfolgten das Licht, suchten die Quelle, fanden ...
Aufheulend zuckte der Engel zurück, landete auf dem Boden und starrte auf seine verbrannte Hand, über die sich schwarze Linien zogen, ähnlich Wurzeln in Erde.
„Ich sage es nur noch einmal, Engel: Geh." Aro sah auf ihn herab, Hass loderte in seinen Augen.
Große, grüne, unruhige Augen, die jetzt wieder ihn ins Visier nahmen. Langsam erhob der Engel sich, neigte den Kopf und –
Die Kugel aus Licht zischte am Ohr des Dämons vorbei, versengte auf ihrem Weg seine Haare und flitzte dann weiter über das Feld.
Silbernes Blut floss aus dem Schnitt im Hals des Engels. Seine Hände hatten die kleine Pistole fallen lassen, drückten jetzt auf die Wunde, bevor er es sich anders zu überlegen schien. Er stolperte gegen Aro, grub seine Finger in sein Fleisch.
Kurz darauf fiel sein Körper zu Boden, bar jeder Regung und jeder Seele.
Das Bild verschwamm vor Aros Augen, der Fremde verwandelte sich in einen kleineren, zarteren, weißhaarigen Engel, der ihn mit dem vorwurfsvollen Blick eines Toten ansah. Keuchend wich der Dämon zurück, presste sich den Handballen gegen die Stirn. Als er aufsah, lag da nur wieder der namenlose Engel.
Erst dann glitt auch er selbst zu Boden, starrte auf den Körper, bis er Rascans Wärme an seiner Seite spürte.
Hel erzählte er, was geschehen war, damit sie die Bewohner warnen oder die Leiche entsorgen oder was auch immer tun konnte.
Tyriel musste er es nicht erzählen. Nach einer extra langen Dusche suchte er den Engel wie jeden Abend auf. Kaum hatte Aro sein Zimmer betreten, war der freundliche Ausdruck von seinem Gesicht abgefallen. Er hatte die Augen geschlossen, die Luft eingesogen. Ihn dann ruhig angesehen.
„Ist alles in Ordnung? Was ist passiert?"
„Was riechst du?"
„Nyx –"
„Was riechst du?", hakte er unwirsch nach, kam auf ihn zu, seine Schritte zu laut in dem kleinen Zimmer.
„Engelsfeuer. Engelsblut. Verbrannte Haare. Verbrannte Haut."
„Kannst du dir nicht zusammenreimen, was passiert ist, anstatt so dumme Fragen zu stellen?"
Tyriels Augen wurden schmal. „Sicher, ich kann so lange Vermutungen anstellen, bis ich richtig liege. Oder, verzeih bitte den absurden Vorschlag, du pflanzt deinen Hintern auf das Bett und erzählst mir, was passiert ist."
Ein Zischen ausstoßend ließ er sich auf die Matratze fallen, betrachtete die blaue Wand und begann zu sprechen.
Nicht ein einziges Mal unterbrach der Engel ihn und am Ende stellte er seine Worte nicht infrage. Nein, am Ende sah er ihn nur besorgt an und sagte: „Ist alles in Ordnung, Nyx? Soll Hel den Arzt holen?"
Aro erwiderte nichts. Ihm wäre es lieber gewesen, Tyriel würde ihn verurteilen. Dieses Verständnis, diese Sorge fühlte sich so anders an, als alles, was er kannte. Es schmerzte und verwirrte ihn. Und es würde ihm auch in Zukunft nur Schmerz und Verwirrung bringen.
Denn was hatte er sich dabei gedacht, den fremden Engel anzusprechen? Wann war er so dumm geworden? Jetzt, da die anfängliche Euphorie verflogen war, begann er zu verstehen, wieso ihm der Teufel damals seine Erinnerungen genommen hatte, wieso er nicht mehr ein Mensch hatte sein wollen – können. Menschen überlebten nicht lange in der Welt, die sich zwischen ihrer eigenen, versteckt hinter Schleiern und in Schatten, verbarg.
Goldene Engelsaugen waren zu nah, zu forschend, als wollten sie in ihm lesen, während lange, schlanke Finger über seine Schulter strichen. Aro zuckte hoch vom Bett, verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Am nächsten Tag hielt Tyriel es nicht mehr aus.
Er wollte weiter, er wollte endlich seine Freunde befreien. Keine Argumente hielten den störrischen, arroganten Engel mehr im Bett. Anscheinend war er es nicht gewohnt, schwer verletzt zu sein. Und sehr gut im Maskieren von Schwäche.
Die beiden Dämonen waren sich einig, dass sich der Engel ausruhen musste, aber es sprach nichts dagegen, sich schon einmal zu überlegen, wie es weitergehen sollte.
Endlich wusste Aro auch, wo sich ihr Ziel befand. Zumindest ungefähr. In der Region Emilia-Romagna, über die er tatsächlich nicht mehr sagen konnte, als dass sie im Norden lag und teilweise rechts an die Küste grenzte.
Die Region war gar nicht so weit entfernt. Die Geschehnisse der vergangenen Tage hatten sie ihrem Ziel glücklicherweise Stück für Stück näher gebracht.
Oder war es kein Glück, sondern das Werk eines vorausschauenden Throns?
Hel saß über ein paar Karten gebeugt vor Tyriels Bett, stieß Aro jetzt mit dem Fuß an, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
„Ihr könntet Macks Fähre benutzen", murmelte sie, mit dem Finger über das Papier vor ihr fahrend. „Nicht weit von hier ist ein Hafen, den er häufiger ansteuert – auf dem Gebiet dieses Landschaftsschutzgebiets. Dem Parco Naturale Regionale di Bracciano Martignano. Und Emilia-Romagna liegt auf seiner Route." Sie sah auf. „Das Problem ist nur, dass er ein Vollblutdämon ist. Wenn er Cin zu Gesicht bekommt, gibt's Brathähnchen. Aber es wäre nur eine Nacht, ein paar Stunden. Alsooo gäbe es da sicherlich Möglichkeiten." Auf ihrer Unterlippe kauend musterte sie den Engel. „Machen wir einen fake Dämon aus ihm."
„Das wird nicht funktionieren", grummelte Aro.
„Wenn es unsere beste Chance ist, habe ich nichts dagegen, es zu versuchen." Der an dem Kopfteil lehnende Engel zuckte mit den Schultern.
Zufrieden grinsend richtete sie sich auf, stemmte die Hände in die Hüften. „Dann haben wir einiges zu tun, Darling."
Fünf Stunden später saß er in Hels Küche und wartete auf den Engel. Am liebsten würde er einen anderen Weg wählen, aber die Dämonenfähre würde sie am schnellsten weiterbringen. Je mehr Zeit verging, desto gefährlicher wurde es. Er konnte nicht abschätzen, wie Lucifer vorgehen würde. Oder was die Dämonen in seinem ehemaligen Versteck, seiner ehemaligen Stadt, von seinem und Tyriels plötzlichem Verschwinden gehalten hatten. Und –
Und dann ging die Tür auf. Helena trat ein und hinter ihr ...
Eine hochgewachsene Gestalt, weinrot-schwarze schulterlange Haare, schwarze Lippen, rotbraune Augen, dagegen die immer noch makellose weiße Haut. Die schwarze, geflickte und löchrige Kleidung verbarg, wie zart er war. Schwere Stiefel, weite Hosen, ein schlabberiges Shirt und ein langer Mantel. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Er roch nicht mal mehr wie er selbst. Nicht mehr nach Blumen, Regen oder Schnee, nicht nach Natur, wie alle Engel. Sondern moderig, mit einer leicht rauchigen Note.
Er fühlte sich nicht mehr nach Engel an.
„Unglaublich", hauchte Aro und fing an zu lachen, hielt dann inne, starrte weiter. Kopfschüttelnd trat er näher, umkreiste ihn. „Du bist ja doch zu was zu gebrauchen, Hel."
Sie verdrehte die Augen. „Es wäre nur besser, wenn er die Dauer eures Aufenthaltes nicht reden würde. Er ist einfach kein Dämon."
„Das macht überhaupt nichts. Es ist mir genau genommen ganz recht."
Darauf hob der Engel eine Augenbraue, trat einen Schritt näher, viel zu nahe, und schnurrte förmlich: „Pass bloß auf, was du sagst, Bastard."
Hel gluckste vor sich hin. „Das ist wirklich zu gut, ich würde gerne ein Erinnerungsfoto machen." Sie legte Daumen und Zeigefinger beider Hände aneinander, um einen Rahmen zu bilden, durch den sie sie beobachten konnte. „Jetzt fehlt eigentlich nur noch ein finsterer Blick."
Lächelnd zog Tyriel sich zurück. „Ach, ich bin lange genug mit Nyx gereist." Ruhig atmete er durch, er sah sie komplett ausdruckslos an. Dann imitierte er Aro, blickte so übertrieben zornig, angewidert und hasserfüllt drein, dass Hel lachend zusammenbrach.
„Er sieht genauso aus wie du! Wie du in hübsch!"
„Ich sehe so überhaupt nicht aus", murrte Aro finster, zog ihn hinter sich her in Hels Zimmer und vor den riesigen Spiegel.
Beide sahen auf ihre Spiegelbilder, die fast die exakt selbe Miene zeigten. Ihre Augen trafen sich und die Mundwinkel des Engels begannen zu zucken.
Aros Gesichtsausdruck wurde einen Ticken finsterer. „Hmpf ... Tsk. Eine ziemlich billige Imitation ..."
Kopfschüttelnd betrachtete sich der Engel. „Das ist wirklich ungewohnt."
Er musterte den Engel, doch er konnte nicht recht einschätzen, wie Tyriel sich gerade fühlte.
„Du bist ein wunderschöner Engel", meinte er, verzog dann seine Lippen zu einem spöttischen Lächeln. „Und du gibst auch einen wunderschönen Dämon ab."
Der andere schnaubte nur.
„Was denn, das war ein Kompliment!"
„Wie vielen Männern hast du jemals gesagt, sie würden wunderschön aussehen?"
Hm. „Keinem", erwiderte er bedächtig. „Und auch keiner Frau", fügte er vorsichtig an. „Und wenn wir schon mal dabei sind, zu mir hat das auch noch niemand gesagt. Seltsam, nicht wahr?", schob er trocken nach.
Hel, die ihnen gefolgt war, beäugte ihn kritisch. „Eigentlich nicht."
Mit einem Wedeln seiner Hand riss ihr ein Schattenhauch die Beine unterm Körper weg.
„Jetzt musst du ihn nur noch als dein Eigentum markieren", murmelte sie, während sie sich erhob und dem Dämon einen finsteren Blick zuwarf.
Diesen Ausdruck des Engels konnte er sehr wohl einordnen. Wie ein in die Enge getriebenes Tier. „Als Eigentum markieren?", wiederholte er langsam.
„Klar. Damit kein anderer Dämon versucht, Hand an dich zu legen."
Aro schüttelte den Kopf. „Wir werden uns sowieso überwiegend in unserer Kabine aufhal..."
„Es wäre sicherer. Du weißt, wie manche sind."
„Der Höhere kann sich verteidigen und –"
„Und dann werden sie wissen, was er ist", unterbrach sie.
„Und wie wird das aussehen?", wollte Tyriel wissen.
„Ach, ganz unspektakulär: Er wird dich beißen und fertig."
Natürlich war das nicht so einfach, wie sie es beschrieb. Aber im Prinzip lief es darauf hinaus.
Zweifelnd sah der Engel ihn an, nickte zu seiner Überraschung dann. Vielleicht auch weniger überraschend.
„Wir müssen weiter. Kannst du es sofort machen?"
Für einen Moment schloss er die Augen, massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die pochenden Schläfen. „Ja. Natürlich."
Zögernd trat er hinter den Engel, schob den Mantel und das Shirt von seiner linken Schulter, nahm die Haare beiseite und beugte sich näher. Seine Lippen waren über der zarten weißen Haut seines Halses. Tyriel erschauerte. „Es tut mir leid", murmelte er, packte den Engel und drückte ihn an sich. Und grub seine Zähne in das Fleisch.
Sofort strömte Blut in seinen Mund, wundervoll und süß und klar und voller Energie, es raubte ihm fast die Sinne. Gierig sog er nach mehr. Es war nicht sein Hunger, den er verspürte, aber das machte keinen Unterschied. Nyx' Zunge fuhr über seine Zähne, bis die Haut aufriss und sich sein Blut mit dem des Engels vermischt. Seine ausgezehrten Schergen regten sich zunehmend in ihm, erzitterten vor Hunger – Hunger war jedoch nur ein Grund, weswegen ihr Meister erzitterte. Er wollte ihn. Und jetzt gehörte er ihm ...
Und dann vernahm er das leise Wimmern, wurde sich des Engels gewahr, der sich zitternd an ihn lehnte und seine Finger in Aros Arm bohrte. Er konnte seine Angst riechen, und er wusste sofort, er hasste diesen Duft an seinem Engel.
Angewidert von sich selbst ließ er etwas von ihm ab, umfasste ihn sanfter, als Stütze, nicht als Fessel, und murmelte schließlich die benötigten Worte gegen den Hals des Engels. Fertig.
Voller Schmerz schrie Tyriel auf, schrie Worte in der alten Sprache der Höheren und sackte zusammen, riss Aro dabei mit sich. Die Wunde an seinem Hals hatte sich geschlossen, aber die Adern verfärbten sich von der Stelle des Bisses ausgehend schwarz, überzogen die Hälfte seines Gesichtes, seine Schulter, verschwanden unter seinem Shirt.
„Hel!" Selten war in seiner Stimme solche Panik mitgeschwungen. Aber das war nicht normal, so sollte das nicht sein.
Sie befühlte seine Stirn, biss die Zähne zusammen. „Vielleicht weil, ich weiß nicht, weil er ein höherer Engel ist – ich dachte – ich wusste nicht – Scheiße!"
„Cin. Bitte!" Sein Innerstes war kalt und gelähmt vor Angst.
Tyriels Augen öffneten sich wieder. Die braunroten Kontaktlinsen schwammen jetzt in pechschwarzem Nichts.
Und dann war der Spuk vorbei, das Licht verbrannte die Dunkelheit, die Augen schlossen sich, die schwarzen Adern verblassten.
Zurück blieben schwarze verschnörkelte und verworrene Linien am Hals des Engels, die ihn als markiert kennzeichneten.
Keuchend öffnete Tyriel seine Augen, sah direkt in die des Dämons, der ihn immer noch in einer halben Umarmung festhielt.
Und Aro wusste es, er wusste, dass dem Engel bewusst war, dass er für einen Moment die Kontrolle verloren hatte.
Wie hatte ihm das passieren können?
Dumme Frage.
Vor Anstrengung stöhnend drehte sich Tyriel so, dass er den Kopf an Aros Schulter lehnen konnte.
„Bitte mach das nie wieder", flüsterte er.
„Es tut mir leid", stieß der Dämon starr aus. „Ich wusste nicht – ich hätte niemals –"
„Nyx." Er richtete sich abermals auf, sah ihn direkt und offen an. In seinem Blick lag keine Wut, keine Abscheu, noch nicht einmal Angst. „Es ist schon gut. Ich verzeihe dir." Und sein Kopf sank wieder gegen ihn. „Ich bin nur müde ..."
Aro suchte Blickkontakt zu Hel, wollte sie anschnauzen. Sie hob allerdings abwehrend die Hände und verschwand aus dem Zimmer. Die leicht grünliche Färbung ihres Gesichtes war ihm nicht entgangen. Schnaubend blickte er ihr nach.
„Sie will doch nur helfen, iól. Sei ihr nicht böse."
Auch hier machte es sich der Engel wieder zu einfach, machte es Hel zu einfach.
Das hier war doch alles Irrsinn.
Leise lachend schüttelte Aro den Kopf.
„Was ist so lustig?"
„Mein erstes Markierungsritual hatte ich mir anders vorgestellt."
Fast schon niedlich, wie geschockt ihn der Engel ansah. „Dein Erstes? Das wollte ich nicht. Wieso hast du nichts gesagt? Das war rücksichtslos von mir. Verzeih mir, bitte."
„Halt die Luft an. Es ist egal. Mehr Zurschaustellung als alles andere."
Sein Blick zuckte über Aros Gesicht, als würde er etwas suchen. Dann lehnte Tyriel sich wieder an ihn.
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