Kapitel 18
Ein Stechen, Schmerz in seiner Schulter. Leicht zuckte er zusammen, riss die Augen auf. Er wusste nicht, was ihn aufgeweckt hatte, nur, dass er sich nicht viel ausgeruhter fühlte. Aber das war nicht wirklich schlimm, damit kam er klar.
Mit einem Engel, der sich an ihn schmiegte, hatte er schon eher ein Problem. Er lag von ihm abgewandt, presste seine Rückseite der Länge nach gegen ihn und hatte sich in der Nacht den Arm des Dämons geschnappt und über sich gezogen. Vermutete er.
Er spürte zu viel. Aros Hand lag auf der des Engels, während Tyriels Atem darüberstrich. Glatte Haut an seinem Arm. Glatte Haut an seinem Bauch, wo sein T-Shirt nach oben gerutscht war. Die Wärme des Engels. Sein Gesicht sah sich einem Schwall weißer Haare gegenüber. Er roch Tyriels winterlichen Duft, zwischen dem Geruch der Krankheit.
Je länger er so dalag und darüber nachdachte, was er tun wollte – sollte – desto mehr sammelte sich die Hitze in seiner unteren Region.
Ganz vorsichtig setzte er sich auf, lehnte sich an das kalte Kopfteil des Bettes und starrte die dunkle Holzdecke an. Tyriel schien das nicht weiter zu stören, er drehte sich lediglich auf den Rücken. Tyriel. Leichte Falten bildeten sich auf Aros Stirn, während er, ohne zu blinzeln, weiterhin die Decke fixierte. Nach und nach verschwammen die Farben seiner Umgebung.
Wie hatte es nur dazu kommen können?
Und wie würde es weiter gehen?
Hel hatte mit ihrer Frage ins Schwarze getroffen. Wer war er. Nicht mehr der Dämon, der einfach nur blind folgte. Dazu erinnerte er sich an zu viel. Aber auch nicht mehr der Mensch, der er gewesen war, bevor ...
Dazu erinnerte er sich an zu viel.
Er unterdrückte ein Lachen, blinzelte endlich und rieb sich über die Stirn.
Und blickte zu dem Engel an seiner Seite. Betrachtete den jung aussehenden Mann eine ganze Weile, wie er so friedlich und zufrieden und voller Vertrauen neben ihm schlief. Das unordentliche weiße Haar, weiß-silbrige Haut, so makellos, abgesehen von den Narben, die sanften, ebenmäßigen Züge, rote volle Lippen, goldstrahlende Augen – Moment.
„Wie lange bist du schon wach? Wie lange siehst du mich schon an?"
„Hm, ungefähr eine halbe Stunde", erwiderte der Dämon ruhig.
„Du weißt, dass das schräg ist. Verrückt. Gruselig. Ja?"
„Jetzt, wo du es sagst."
Schnaubend kuschelte er sich wieder ins Kissen, grinste leicht. „Ich habe das Gefühl, ich werde niemals wieder richtig wach. Und dabei bin ich ein Thron."
„Es ist noch Nacht, schlaf weiter, Tyriel."
„Hmmm. Höhere schlafen nicht." Entgegen seiner Aussage schloss er die Augen wieder, vielleicht um zu ruhen, vielleicht um zu schlafen.
Seltsam. Dass er so ruhig neben ihm liegen konnte.
Seltsam, dass eine einzige Person innerhalb so kurzer Zeit ein Leben so völlig verändern konnte.
Es dauerte nicht lange, da fing der Engel an zu zucken, das Gesicht zu verziehen. Tränen rannen über sein Gesicht.
„Tyriel?"
Doch er bekam keine Reaktion.
Tyriel zuckte zusammen, schüttelte den Kopf, murmelte fremde Worte.
Was er diesmal dachte ... träumte? Er wusste, er sollte das nicht tun. Dennoch, ein misstrauischer, neugieriger, gieriger Teil von ihm, der sich daran erinnerte, wie der Engel sein und Hels Gespräch ‚abgefangen' hatte, konnte nicht anders, ließ ihn ebenfalls die Augen schließen und sich auf die Gedanken des Engels konzentrieren.
Und es rau...
...bte ihm sofort den Atem.
Das ... das Gefühl? ... das Gefühl zu erwachen, seine Erschaffung, so wundervoll, die Vereinigung zweier Lebensessenzen, so – Schmerz pulste durch seinen ganzen Körper und er fiel, fiel, fiel unendlich nach unten ins Nichts, in die Dunkelheit, in Kälte und Leere.
Wasser sprudelte um ihn herum, nein, nicht nur um ihn, auch in ihm, seine Lungen füllten sich mit bitterer, brackiger, abgestandener Flüssigkeit. Gurgelnd schlug er um sich, durchstieß die Wasseroberfläche, spuckte und hustete diese seltsame Brühe aus. Orientierungslos und panisch kämpfte er sich vorwärts, es schien ewig zu dauern, bis er festen Boden unter den Füßen hatte und sich eine Pause gönnen konnte. Und er wusste auch nicht, ob das wirklich besser war, wusste gar nichts ... keine Worte, nicht wo er war, geschweige denn was überhaupt. Er wusste nur, dass er gerade erwacht und glücklich, jetzt aber alleine und kalt und nass war.
Tief in seinem Inneren fühlte sich diese Situation nicht richtig an. Er fühlte sich nicht richtig an.
Über seine Wangen rann nun eine ganz andere Flüssigkeit, heiß und brennend, hervorgerufen von dem Schmerz, den er empfand.
Auch nach unzähligen Wechseln des Hell- und Dunkelseins änderte sich nichts an seiner Situation. Aber er veränderte sich, passte sich an, lernte, in dieser unendlichen grünen und braunen und bunten Weite zu überleben.
Irgendwann standen sie vor ihm, so plötzlich und ungewohnt, dass er sie erst nicht für das erkannte, was sie waren. Andere wie er und doch ganz anders.
Mitleidig nahm man ihn auf, den verwilderten, ungezähmten, unvollendeten Engel. Brachte ihm Worte bei und wie er sich zu benehmen hatte. Was er war und woher er kam. Ihm, dem einzigen Höheren, der bis vor kurzem niemals wirklich das Himmelreich gesehen hatte, dessen Lebensessenzen niemals –
Irgendjemand stieß Aro vom Bett, riss ihn damit aus den fremden Erinnerungen.
„Was fällt dir ein?!", fauchte der Dämon. Seine Stimme klang erstickt, er brauchte mehr Zeit, um sich von dem eben erlebten zu erholen.
Der Engel gab ein Geräusch von sich, das sowohl Ähnlichkeit mit einem Lachen als auch einem Schluchzen hatte. Er saß halb abgewandt vor ihm auf dem Bett, die Knie hatte er angezogen und seine Haare verdeckten sein Gesicht wie ein Vorhang.
Weinte er etwa? Das wäre wirklich übertrieben.
Noch etwas aus dem Gleichgewicht rappelte Aro sich auf. „Tyriel?" Vorsichtig berührte er ihn am Arm.
Doch der Engel zuckte zurück, presste sich ans andere Ende des Bettes. „Fass mich nicht an! Fass mich ja nicht an!!" Heftig schüttelte er den Kopf, seine Hände zuckten nach unten, krallten sich in die Decke. „Wieso hast du das getan? Wieso hast du das wieder getan?"
„Was denn? Ich habe lediglich deine Gedanken abgefang...", als er den goldene Funken sprühenden Blick des Engels zwischen dem weißen Vorhang sah, verstummte er, verdrehte die Augen. „Gut. Es tut mir leid. Es geht mich nichts an. Zufrieden? Reg dich ab, du bist immer noch krank."
Etwas gefasster, jetzt aber sichtlich wütend sah Tyriel auf die Bettdecke. „Da hast du verdammt nochmal recht. Es geht dich nichts an, gar nichts. Was bildest du dir eigentlich ein? Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich nicht dein Spielzeug bin. Bitte, jetzt kannst du dich ja über mich lustig machen. Vielleicht fällt einem Dämon ja etwas Kreativeres ein als ‚möchtegern Engel' oder ‚Straßenköter' oder ‚unzivilisierter Wilder' ..."
Kurz entschlossen setzte Aro sich wieder auf das Bett zurück, packte den Engel bei den Schultern und brachte ihn so dazu, ihn anzusehen. „Wer hat dich so genannt? Hör mir jetzt genau zu, du dummer Engel, denn ich sage das nur ein einziges Mal. Diese Aufopferungsbereitschaft, um diese Engel zu befreien. Diese Stärke, die dich immer weiter treibt, trotz aller Hindernisse, die sich dir in den Weg stellen. Deine Güte, die dazu geführt hat, mir eine Chance zu geben – Du bist keines dieser kalten, arroganten, geflügelten Arschlöcher. Jeder andere Engel hätte mich einfach vernichtet. Tyriel, du bist einer der Engel, an die ich früher geglaubt hatte, als ich noch ... Tyriel ... Ich bewundere dich." Er verstummte, immer noch die Schultern des Engels umfassend. Während er sich innerlich verfluchte. „Zumindest deinen Charakter. Abgesehen von deiner Naivität. Und was das Kämpfen betrifft ...", versuchte er etwas zurückzurudern.
„Wie amüsant. Keine Sorge, ich glaube, du müsstest dem Verrückten schon buchstabieren, dass du mehr für ihn übrig hast, als du solltest. Von alleine käme er niemals darauf."
Überrumpelt riss er die Hände zurück.
„Hast du nichts Besseres zu tun, Lucifer?"
Ein leises Klopfen an der Tür. „Alles in Ordnung bei euch?", kam die zaghafte Frage durch das Holz. Dass Hel auch einmal zurückhaltend sein konnte, was für ein Wunder.
Aro räusperte sich erneut. „Äh, ja. Natürlich."
„Verzeihung, falls wir dich geweckt haben sollten", fügte Tyriel fast schon mechanisch höflich an.
„Kein Problem. Dir geht es also wieder besser, Cin?"
„Ja. Tut mir leid, dass ich gestern –"
Jetzt drang ein leises Lachen durch die Tür. „Dafür brauchst du dich wirklich nicht zu entschuldigen. Ich bereite mal den Frühstückstisch vor." Schritte entfernten sich.
Der Engel hatte ihn keine Sekunde aus den großen goldenen Augen gelassen und fing jetzt leise an zu reden. „Das war nett. Nicht nur für einen Dämon, meine ich. Wirklich nett. Es ist nur ... Wenn ich dir etwas von meiner Vergangenheit erzählen wollte, hätte ich das getan. Vor allem das ... Du hättest mich zumindest fragen können."
„Ich habe mich doch schon entschuldigt. Du solltest eben an dem Schutzschild deines Geistes arbeiten."
„Hmpf. Den habe ich. Trotzdem sickern die Knotenpunkte, die emotionalsten Momente meines Lebens, fast immer durch. Und ich bin wohl etwas nachlässig geworden in deiner Gegenwart."
Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, aber etwas anderes beschäftigte ihn sowieso. „Ist das der Grund, weswegen du noch am Leben bist? Weil deine beiden Lebensessenzen niemals wirklich, äh, verschmolzen sind?"
Die Miene des Engels verfinsterte sich kurzzeitig. „Ja, richtig. Du hast mir damals nur einen Teil genommen. Der andere reicht aus, um mich am Leben zu erhalten. Dennoch. Es schränkt mich ein. Ich habe keinen vollkommenen Zugriff mehr auf meine Magie."
Einige Zeit saßen sie schweigend da.
Fast hätte er ihn umgebracht, ihn niemals kennengelernt. Ihn zu töten schien ihm jetzt so unmöglich, so unnatürlich, wie es ihm damals erschienen wäre, irgendeinen Engel zu verschonen. Zwischen seinen Augen begann ein dumpfer Schmerz zu pochen.
Plötzlich grinste sein Gegenüber verschmitzt, ein Funkeln trat in seine Augen, kein Wütendes, dieses Mal. „Wie wäre es, wenn du mir als Gegenleistung etwas aus deiner Vergangenheit erzählst?"
„Was willst du denn wissen?", hakte Aro vorsichtig nach. Halb froh, dass er so einfach vom Haken schien, halb besorgt über die Frage.
„Wie du zu einem Dämon wurdest. Ich meine, du warst einmal ein Mensch, richtig? Und du erinnerst dich wieder, nicht?"
Er erstarrte, es fühlte sich an, als hätte jemand eine Schlinge um seinen Hals gelegt. Das war etwas, das er lange ganz weit weg in den dunkelsten Winkel seines Kopfes geschoben hatte. Auch wenn alles jetzt wieder klarer in seinem Geist geschrieben stand, war diese bestimmte Geschichte keine, die er besonders gerne hervorkramte.
„Oder auch nicht, tut mir leid." Entschuldigend sah Tyriel ihn an, der seine Miene richtig gedeutet hatte.
Das Bild der kleinen braunhaarigen jungen Frau mit dem verschmitzten Grinsen entstand wieder vor Aros innerem Auge.
„Sia. Aspasia. Sie ... hat mir alles bedeutet. Ich habe sie so sehr geliebt. Aber dann – Ich konnte – ich konnte sie einfach nicht beschützen. Ich ... Sie haben sie überfallen, sie ausgeraubt und ..." Seine Fingernägel bohrten sich in seine Handballen, ein Kiefermuskel zuckte. „Sie haben sie geschändet. Und dann haben sie sie getötet. Und ich konnte nichts tun, ich habe zu Hause gesessen, nur ein paar Straßen weiter und ich ... Ich habe mir Sorgen gemacht und habe sie gesucht. Und sie gefunden. Zu spät, viel zu spät." Er atmete tief durch, unterbrach für einen Moment seinen durch Hass und Trauer erstickten Redeschwall. „Dann habe ich mich auf die Suche nach diesen dreckigen, wertlosen Schweinen gemacht, sie gejagt, bis ich sie endlich in den Händen hatte. Sie hatten keinen schnellen und auch keinen schönen Tod. Aber das hat es auch nicht besser gemacht, verstehst du? Also habe ich ... Ich habe allem ein Ende bereitet. Tja, so hat sich der Teufel meiner angenommen."
„Das ist – Tut mir leid ..." Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Hattet ihr keine Kinder?"
„Kinder? W... ah, nein." Matt lächelte er. „Sia, sie war meine kleine Schwester. Ich hatte keine Frau, keine Liebste."
„Eine Liebste? Er hat im Laufe der Zeit mit einigen, ähm, Personen das Lager geteilt, aber bis jetzt war bestimmt niemals Liebe im Spiel", mischte sich Hel ein, die unbemerkt das Zimmer betreten hatte und jetzt am Türrahmen lehnte. „Das Frühstück ist fertig."
„Halt die Klappe", knurrte er ungehalten, erinnerte sich daran, dass er sowieso noch wütend auf sie war.
„Vielleicht irre ich mich auch. Wahrscheinlich könnte man es ihm Buchstabieren und er würde es trotzdem nicht verstehen. Um deine vorherige Frage zu beantworten: Ein Dämon, der nun schon so lange in meinen Diensten steht, ist mir abhandengekommen und mit einem Engel durchgebrannt. Das ist in der Tat interessanter als so manche Soap. Und interessanter als alle sonstigen Dinge, die ich tun müsste."
Helena und Lucifer. Beide auf einmal würden ihn in den Wahnsinn treiben.
„Hmm. Es heißt, Menschen lieben auf eine interessante Art und Weise", fuhr Hel fort. „Und es heißt auch, Nyx wäre dazu nicht im Stande. Zu lieben. Wie sieht es bei Höheren aus?" Verschwunden war die Zaghaftigkeit.
„Helena", zischte er warnend.
„Was denn, ich bin nur neugierig."
„Liebe?" Tyriel stieß ein ziemlich verkrampftes Lachen aus und zog die Beine an, sodass er im Schneidersitz auf dem Bett sitzen konnte. „Dämonen sind so herrlich direkt! Mal überlegen. Für die meisten Engel bin ich zu ... anders. Menschen und alle anderen ähnlichen Arten sind zu kurzlebig. Ich bin der Ansicht, etwas lieber nicht erst zu erfahren, wenn man es doch verliert. Und für Dämonen auf der Seite des Lichts bin ich meist nicht das, was man sich unter einem idealen Partner vorstellt. Nichtsdestotrotz, nun, an Angeboten mangelt es auch nicht gerade. Ich habe meine Nächte nicht immer alleine verbracht." Die letzten Sätze hatte er nachgeschoben, als wolle er betonen, keine Jungfrau mehr zu sein.
Aro musste grinsen, bis ihm auffiel, dass er es tat, weil er den Engel niedlich fand.
„Na ja, kaum verwunderlich: Du bist definitiv hübscher anzusehen als die meisten Dämoninnen." Das hatte er sich nicht verkneifen können. Auch nicht den bedeutungsvollen Seitenblick zu Hel.
Bevor Aro sich's versah, landete ein Kissen in seinem Gesicht. „Idiot!", lachte der Engel. „Du kannst auch ziemlich ‚hübsch' aussehen, wenn du dir Mühe gibst." Er ließ sich rückwärts fallen, gähnte herzhaft. „Frühstück hört sich eigentlich ganz gut an."
„Du bleibst schön im Bett und ruhst dich aus." Alles andere Gesagte ignorierte er.
Bevor der Engel etwas erwidern konnte, war der Dämon schon aufgesprungen und, Hel vor sich herschiebend, aus der Tür verschwunden.
„Also ‚hübsch' ist definitiv das falsche Wort, Cin", rief Helena hinter sich. „Er kann nur hässlich und weniger hässlich auss..." Aro hielt ihr den Mund zu.
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