Kapitel 13
Er konnte die Blicke der Dämonen spüren, die sich in der weitläufigen Höhle aufhielten. Sie beobachteten ihn, glühende Augen in Tür- oder Fensteröffnungen oder dunklen Ecken. Zu offensichtlich unauffällig. Gehässig. Neugierig. Natürlich hatte in seiner Abwesenheit die Zeit nicht still gestanden. Irgendjemand hatte sich seine Position bestimmt unter den Nagel gerissen. Jetzt, da er überraschend wieder aufgetaucht war, waren sie scharf darauf, die neue Rangordnung zu klären. Die meisten waren nur nicht lebensmüde.
Ihn interessierten diese Spielchen momentan nicht das kleinste Bisschen.
Bewusst langsam und erhobenen Hauptes strebte er auf ein kleines graues Gebäude zu, das sich an die Höhlenwand schmiegte und als Eingang zu weiteren kleineren Aushöhlungen fungierte.
„Nyx! Schön, deine wunderhübsche Visage wiedersehen zu können. Nicht einmal eine erneute Vernichtung kann noch irgendetwas verschlimmern, hm?" Diese hohe Stimme, in der andauernd Belustigung mitzuschwingen schien, würde er immer erkennen. „Wohin denn so eilig? Willst du deinen kleinen Freund besuchen? Etwas Morgengymnastik?"
Schwärze um Aro manifestierte sich, willkürlich wie Tintenkleckse auf Papier, und begann dann zu brodeln. Er hielt nicht an. „Geh mir nicht auf die Nerven, Cadoc."
Cadocs Schatten, die sich zwischen Aros Beinen verhedderten, brachten ihn ins Straucheln.
Noch wagte es niemand, zu lachen, aber die Anspannung knisterte in der Luft, ein stetig anschwellendes Summen, das auf der Haut prickelte.
Eine Hand legte sich auf seinen Arm.
„Das hübsche Engelchen kann warten", säuselte Cadoc in sein Ohr. „Es gibt Dringenderes zu klären. Auch wenn das Kerlchen sehr verlockend aussieht."
Steif wirbelte Aro herum und stieß ihm die schattenverstärkte Hand vor die Brust.
Cadoc flog ein paar Meter zurück, bevor er auf dem Boden landete. Wo er erst mal lachend liegen blieb und sich seine viel zu langen Haare in der Farbe menschlichen Blutes aus dem Gesicht strich.
Zähneknirschend lief Aro auf ihn zu, packte seinen Hals und zog ihn wieder auf die Füße. Das Lachen erstarb zwangsläufig.
„Wag es nicht, mir zu sagen, was ich tun und was ich lassen soll", sagte Aro, kaum in der Lage, seine Wut zu zügeln. „Wage es nicht, dich über mich lustig zu machen. Du kannst froh sein –"
Er sprang rechtzeitig zurück, um dem Dolch zu entgehen, der die Luft an der Stelle zerschnitt, an der sich seine Kehle gerade befunden hatte.
„Seit wann redest du so viel?" Cadoc ließ den Dolch um seine Finger wirbeln. Nachdenklich musterte er Aro, grinste dann. „Ich freue mich schon auf die Kämpfe."
Die Kämpfe, die Aros neue Position in der Hierarchie klären würden. Cadoc testete das Wasser, wollte wissen, wie gefährlich er war. Um diese Information dann an den momentanen Anführer weitergeben zu können. Irgendjemand war immer übermütig – dumm – genug, den ersten Schritt zu tun.
Aro musste sich nur kurz konzentrieren, bevor er die Schutzmechanismen außer Kraft gesetzt hatte. Cadoc arbeitete nicht oft mit Seelen und hatte entsprechend wenige, aber sie würden ausreichen. Innerhalb von ein paar Sekunden unterwarf er Cadocs Schatten seinem Willen.
Schwarze Stacheln durchbrachen die weiße Haut des anderen Dämons, Blut sickerte darüber, zäh wie Schleim. Der Dolch fiel klirrend zu Boden und Cadocs Körper folgte kurz darauf. Seine Zähne waren fest zusammengebissen, kalter Hass blitzte Aro entgegen, bevor Cadocs Augen in Konzentration den Fokus verloren.
Das würde ihn nicht umbringen, nur einige Zeit außer Gefecht setzen, bis er die Kontrolle zurückerlangt hatte.
Aro setzte seinen Weg fort, ein paar gewillte Seelen mehr im Schlepptau.
Ungehindert betrat er das Gebäude.
Zwei Dämonen standen darin vor einem verfallenen Tor wache, das den dahinterliegenden Höhleneingang nur notdürftig verschloss. Einer der beiden Torflügel hing nur noch in einer Angel und bewegte sich in einem der Luftzüge, die hier unten durch die Gänge heulten.
Respektvoll neigten die Wachen ihre Köpfe. „Schön, Euch –"
Ein Blick reichte, um sie zum Verstummen zu bringen. Er riss die Flügel so schwungvoll auf, dass es an ein Wunder grenzte, dass er sie nicht komplett aushängte.
Je weiter er sich von dem Eingang entfernte, desto schneller wurden seine Schritte, bis er endlich den kleinen Saal erreichte. Der Raum war nur erhellt von ein paar blauen Fackeln, das kalte Licht kaum die Figur in der Mitte erreichend.
An seinen Handgelenken prangten rostige Eisenringe mit Ketten, die zu den Wänden führten und ihn an Ort und Stelle zum Stehen zwangen. Seine Kleidung klebte ihm am Körper, teilweise silbern verfärbt. Der Striemen, der seine Wange zierte, war neu, genauso wie die Platzwunde an seiner Schläfe, aus der funkelndes Blut rann. Mehr konnte er nicht erkennen, weiße, blutverklebte Strähnen hingen vor seinem Gesicht. Er atmete schwer und stockend.
„Tyriel?"
Schweiß und Blut glänzten auf seiner Haut.
Unwillkürlich sog der Dämon die Luft ein, spürte, wie sich seine immer hungrigen Schergen regten.
Der Engel zeigte keine Reaktion, also schritt er auf ihn zu. Hielt vor ihm an und hob zögernd die Hand. Doch Tyriel zuckte vor ihm zurück, verdrehte in wilder Panik und in Hass die Augen. Die Ketten rasselten gehässig in der Stille.
„Ich bin's."
Tyriels Augen schienen nichts wahrzunehmen, glänzten fiebrig. Als er sprach, lächelte, rissen seine trockenen Lippen. „Sieh an ... Bist du hier ... um es zu Ende zu bringen?"
Ein Stachel der Wut bohrte sich in sein Fleisch. Dachte er, er hätte ihn verraten, sein Versprechen gebrochen? „Natürlich nicht. Ich hatte damit nichts –"
„Nyx", unterbrach er matt, leckte sich das Blut von den Lippen. „Lass es –"
Aro beugte sich herunter, sodass ihre Augen auf einer Höhe waren. „Ich lüge nicht! Ich bin keiner dieser ehrlosen –"
„Kannst du mir etwas versprechen?"
Ein ‚Ja' lag ihm auf der Zunge, doch er gab Versprechen nicht leichtfertig. „Was?"
„Töte mich schnell", flüsterte Tyriel. „Bitte."
„Vergiss es", grollte er. Er hätte ihm gerade sehr vieles versprochen. Aber nicht das. Er brach Versprechen auch nicht leichtfertig. Er war ihm immer noch etwas schuldig. „Ich werde dich weder langsam noch schnell töten, verstanden?"
„Befreie meine Verwandten. Versuche es wenigstens. Mehr will ich nicht. Bitte!" Seine voller Verzweiflung zitternde Stimme schallte durch die Kammer. „Das Totenreich der Dämonen ist nichts für Engel."
Wütend packte Aro die Ketten und sprach die Schlüsselformel. Sobald nichts mehr den Engel auf den Beinen hielt, brach er zusammen. In einer Umarmung stützte er den zu Boden gleitenden Engel, wob Heilungszauber, so gut er es vermochte. Er sah müde aus und krank und zerbrechlich, mit seiner wächsern glänzenden, viel zu heißen Haut und den blutunterlaufenen Augen.
„Was soll das?!", fauchte er, schüttelte ihn dabei unwillkürlich. „Willst du aufgeben? Das werde ich nicht zulassen. Das werde ich nicht tun, hörst du, Ratte?! Du willst also nicht mehr? Soll ich dir etwas sagen? Ich will auch nicht mehr! Ich habe das alles so satt. Diesen Krieg und diese ganzen Halbwahrheiten und – Du lässt mich mit diesem Schlamassel jetzt garantiert nicht allein!"
„Du ... Du ..." Er legte den Kopf schräg. „Offensichtlich führen wir uns nun doch gegenseitig ins Verderben."
„Ich ..." Prüfend musterte er Tyriel. „Ich habe dich nicht verraten. Ich brauche keine Hilfe von irgendjemandem, um jemanden zur Strecke zu bringen. Ich habe dich nicht verraten und so lange unser Waffensillst..."
„Ich weiß. Ich weiß, dass du mich nicht auf diese Art verraten würdest. So vage dein Versprechen auch war, Dämon." Der Engel lächelte gequält. „Ich wusste allerdings nicht, wie weit du zu gehen bereit bist."
Da waren sie schon zwei.
„Bereust du es, Nyx? Dein Versprechen?"
„Vielleicht ein bisschen", gab er ehrlich zu. „Aber ... Engel ... Diese Situation in der du dich jetzt befindest – Du hättest einen einfacheren Weg wählen können! Einen intelligenteren, einen, der dich weniger gekostet hätte!" Einen, der den Dämon nicht gezwungen hätte, sich auf diese wahnsinnige Reise zu begeben und all das zu überdenken, was er jahrhundertelang akzeptiert hatte. Die eine Frage konnte er nicht zurückhalten. „Wieso hast du dich für diesen entschieden? Ich verstehe es einfach nicht!"
Unbestimmt schüttelte Tyriel den Kopf. „Ich würde es wieder tun. Es gab keinen Einfacheren."
„Engel der Wahrheit. Des Mitgefühls. Hat es etwas damit zu tun?"
„Du erinnerst d...?"
Bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, verstummte er. Sein Blick zuckte von Aros linkem zu seinem rechten Auge und dem Dämon fiel jetzt erst auf, dass er unbewusste näher gekommen war.
Seine Erinnerungen lagen so klar vor ihm, wie schon lange nicht mehr.
Ja. Er erinnerte sich an den Engel, der ihn nach dieser letzten verhängnisvollen Schlacht gerettet hatte. Der seine Wunden versorgt hatte, die Löcher und Schnitte, die die Speere in seinen Körper gerissen hatten, und die Verbrennungen, durch heiliges Feuer, das sich nur zu gerne seiner angenommen hatte.
Und an die braunhaarige Frau. Was sie betraf, was sein früheres Leben betraf, erinnerte er sich wieder an alles. Wie hatte er jemals glauben können, diese Erinnerungen nicht wieder zurückerlangen zu wollen?
„Du bist so ein schräger Vogel. Und du beantwortest Fragen immer noch nicht. Aber ich habe es satt, dass mir niemand die ganze Wahrheit sagt. Ich habe es satt, vor der Wahrheit davonzurennen."
Tyriel sah ihn mit großen Augen an. Und lächelte dann froh, trotz seines Zustands. Auf diese Weise hatte der Engel ihn bis jetzt noch nicht angesehen.
Ungewohnte Wärme durchflutete den Dämon, kringelte sich in seinem Bauch zusammen, wie eine zufrieden schnurrende Chimäre.
„Heute sind wir aber ungebührend gefühlvoll, für einen Dämon", murmelte Tyriel.
„Und wessen Schuld ist das?" Es klang nicht so anklagend, wie es sollte.
„Denkst du wirklich, das ist eine gute Idee? Du hast doch gehört, für was er steht. Gnade. Güte. Wahrscheinlich hat er nur Mitleid mit dir. Und die Wahrheit? Die Wahrheit kann vieles sein. Das weiß ich besser als jeder andere. Willst du ihm wirklich folgen? Einem höheren Engel? Einem Thron? Sei vorsichtig, Nyx."
Er wandte den Kopf ab. Hatte Lucifer nichts Besseres zu tun? Unendlicher Hass brodelte in ihm, den er nur mit Mühe unterdrücken konnte. „Komm, wir sollten gehen. Deine Freunde warten auf ihre Befreiung."
In einem Seufzen stieß Tyriel die Luft aus. „Hm. Der Großteil meines Volkes wartet mehr darauf, eine Gelegenheit zu bekommen, uns zu töten. Genauso wie dein Volk, wenn sie begreifen ..."
„Wenn sie begreifen, dass einer der obersten Diener Lucifers die Seiten gewechselt hat und das wegen eines Engels? Obwohl, ich würde auch nicht gerade sagen, dass ich auf der Seite der geflügelten Ratten bin. Ganz bestimmt nicht."
„Hmm. Bist du dir sicher? Dass du das tun willst?"
„Nein." Er war sich rein gar nichts mehr sicher.
Das entlockte Tyriel ein Japsen, das wohl ein Lachen hatte sein sollen. Nachdenklich ließ der Engel seinen Blick über das Gesicht des Dämons wandern. Bevor sich sein Mund vor Schmerz verzerrte, seine Augen sich fest schlossen. „Aro ... du hast sehr lange auf dich warten lassen ..."
„Das wird langsam zur Gewohnheit, hm?", murmelte er, während er ihn vorsichtig hochhob. Wenigstens schien sein Rücken ausreichend betäubt zu sein. Oder der Engel hatte eine sehr hohe Schmerzschwelle.
„Ich kann laufen", protestierte Tyriel schwach, mit einem kleinen Lächeln.
„Natürlich. Wenn es so weitergeht, überlebst du diese Reise nicht." Das würden sie beide nicht.
Doch da hatte der Engel schon das Bewusstsein verloren.
Wenigstens kannte er sich hier aus. Bevor die Anderen etwas bemerken würden, wären sie schon über alle metaphorischen unterirdischen Berge. Und er wusste auch schon genau, wo sie für einige Zeit unterkommen konnten. Unter der Erde in diesen alten Katakomben, Tunneln und Höhlen war er in seinem Element.
Bevor sie diesen Ort aber endgültig verlassen würden, würde er erst einem alten Freund einen Besuch abstatten.
Das große raubkatzenartige Wesen jagte auf leisen Sohlen durch die Finsternis. Dabei war es geschmeidig, ein angenehmeres Reittier konnte er sich nicht vorstellen. Man spürte lediglich die massigen Muskeln unter dem einst nachtschwarzen Fell arbeiten, konnte die schiere Kraft bei jedem seiner Sätze erahnen.
Aus eisig blau glühenden Augen hatte er ihn gemustert, die Schnurrhaare hatten gezuckt, die langen Ohren hatten sich aufgestellt. Das linke Ohr war am Rand zerfetzt, aber nicht so schlimm wie seine linke Lefze, die fingerlange spitze Zähne nicht länger verbergen konnte. Die Chimäre war näher getreten, hatte an dem bewusstlosen Engel in seinen Armen geschnüffelt. Dann hatte sich der alte Rascan niedergelassen, hatte ihm erlaubt, gemeinsam mit dem Engel auf seinem breiten, vernarbten, grauen Rücken Platz zu nehmen.
Vor Milan war Rascan sein Begleiter gewesen, bis er zu alt geworden war, zu einem Hindernis in Kämpfen. Trotzdem hatte er sich immer in der Nähe der Haupthöhle aufgehalten, die seltenen Gelegenheiten genossen, in denen Aro ihm einen Besuch abgestattet hatte. Viel zu selten und dennoch war das Tier treu geblieben.
Er würde sie sicher an ihr Ziel bringen, soweit es in seiner Macht lag.
Chimären waren ihm schon immer bessere Freunde gewesen, als Dämonen. Obwohl Aro sich nicht beschweren durfte. Er war schließlich niemals irgendjemandem ein guter Freund gewesen ...
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