Kapitel 10
Er wusste nicht, wie lange sie jetzt schon durch dieses Labyrinth wanderten. Einige Stunden, wahrscheinlich. Zeit war so weit unter der Erde ein wankelmütiges Geschöpf. Hinzu kam, dass die Schwärze jedes Geräusch zu verschlucken schien.
Langweilig wurde es ihm jedoch nicht. Manche Gänge waren so eng, dass er sich seitwärts bewegen musste, andere so weit, dass er keine Wände wahrnehmen konnte. Der Boden eines Ganges war von etwas Glitschigem bedeckt und er fluchte jedes Mal laut vor sich hin, wenn seine Füße ausglitten. Was ihm tadelnde Blicke des Engels einbrachte und damit den Wunsch, ihn in die stinkende Pampe fallen zu lassen.
Wirklich interessant waren jedoch die alten Schriftzeichen, die ihm hier und da in Stein gemeißelt ins Auge fielen. Namen. Unzählige Namen.
Wie alt mochte dieses Gebilde wohl schon sein?
Ab und an führte ein Gang an einer Aushöhlung vorbei, die an einen Wohnraum erinnerte. Tische standen in manchen, vollständig gedeckt. Als würde jeden Augenblick eine Familie ihre Plätze einnehmen, um gemeinsam zu essen. Oder als hätten bis gerade eben noch Leute ihr Mahl zu sich genommen. Andere Räume beinhalteten Bücher, von denen manche aufgeschlagen auf die Rückkehr ihres Besitzers warteten, oder bereitgestellte Kochutensilien oder unzählige Schränke oder gemachte und ungemachte Betten. Dieser Ort schien den Atem anzuhalten, darauf zu warten, sich danach zu sehnen, dass seine Bewohner wieder zurückkehrten, um ihn mit Leben auszufüllen.
Eines war sicher: Rasten wollte er hier nicht.
Je länger er sich in diesen Räumen aufhielt und je mehr er sah, desto mulmiger wurde es ihm.
Unter anderen Umständen wäre dieser Ort ein perfekter Unterschlupf für einen Dämon wie ihn, aber ... Es war das Revier der Herren des Zwielichts und er war nicht willkommen hier. Sie verabscheuten, hassten alles, was er war. Ebenso wie es die unzähligen Seelen taten, die sich in den Wänden, der Decke, dem Boden wanden. Von ihm würden sie sich niemals zähmen lassen, das wusste er. Nahm man zu viele solcher Seelen auf und war zu schwach, würden sie einen zerfressen.
„Weißt du, was hier passiert ist?", wollte er leise wissen.
„Hm? Du weißt das nicht?"
„Ich weiß, was wichtig ist. Dass die Zwielichtbringer ehemals unbeteiligt und unparteiisch waren. Dass sie es jetzt nicht mehr sind. Und dass man sich als Dämon besser von ihnen fernhält."
„Mhmm", kam es von Tyriel. Fast rechnete Aro nicht mehr mit einer ausführlicheren Antwort.
„Sie mögen diesen Krieg nicht. Dies hier war einmal eine Zufluchtsstätte, eine Stadt, für Dämonen und Engel, die nichts mit dem Krieg zu tun haben wollten, die friedlich koexistieren wollten. Nach allem, was ich weiß, soll es hier paradiesisch gewesen sein. Jedoch gab es genug Engel und Dämonen, die etwas gegen diesen Frieden hatten. Welche Seite letztendlich Verrat verübt hat, ist heute umstritten. Fakt ist, dass die Stadt entdeckt, die Herren ausgetrickst und fast alle Bewohner ausgelöscht wurden." Die Stimme des Engels wurde rau, gedämpft vor Kummer. „Der klägliche Rest hat Rache geschworen. Und alle Hoffnung auf ein Ende war dahin. Das ist jetzt schon sehr lange her. Jetzt ist diese Stadt nicht mehr viel mehr als ein riesiges Grab, eine Blase im Nichts. Die Herren ... Sie trauern immer noch. Sie sind alt und müde und verbittert. Prinzipiell haben sie nichts gegen Gäste, aber ..."
Nicht nur die Herren waren alt, müde und missgelaunt, auch auf die Geister, die sich hier tummelten, traf das zu. Der Engel war furchtbar taub, wie es so viele seiner Spezies für solche Dinge waren. „Nichts gegen Gäste, aber etwas gegen Krieger."
„Gegen Schlächter", verbesserte Tyriel, ihn aus seinen Goldaugen musternd.
Eine Steinplatte fuhr leise knirschend zur Seite. Mit jedem Zentimeter drang mehr Licht ins Innere des Tunnels, tanzte mehr Staub in den Strahlen. Er hatte nichts gegen Dunkelheit, aber der Sonnenuntergang, der sich ihnen jetzt darbot, war angenehm. Wäre er nur nicht so hell. Grunzend kniff er die Augen zusammen, hätte gerne eine Hand frei, um sie gegen den unnachgiebigen Biss der Sonne abschirmen zu können.
Eine dünne durchsichtige Membran, die im Licht schimmerte wie eine Seifenblase, zog sich über die Ausgangsöffnung. Als er nach draußen trat, legte sie sich kühl und feucht auf seine Haut, bevor sie ihn freigab. Endlich diesem weitläufigen Grab entkommen, schien ein unsichtbares Gewicht von ihm abzufallen.
Sanft legte er das weniger unsichtbare Gewicht ab, das er mit sich herumgetragen hatte, setzte sich neben ihn und sah von dem Hügel hinab, auf dem sie herausgekommen waren. Unter ihnen erstreckte sich friedlicher Wald, soweit das Auge reichte, über ihnen war ein orange-blauer klarer Himmel und um sie herum Gras und Wildblumen. Der Eingang zu dem Reich der Zwielichtbringer war schon verschwunden.
Nachdenklich ließ er den Blick schweifen. Auch wenn er froh war, diesem bedrückenden Tempel entkommen zu sein, so mochte er Höhlen doch definitiv lieber. Am besten in der Nähe von Menschenstädten. Nichts ging über menschlichen Schmerz und Hass und Tod. Menschen waren herrlich einfach. Anders als Engel.
„Danke. Dass du zurückgekommen bist." Mentyriel hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
Aro schreckte aus seinen Gedanken, seufzte tief. „Ich muss mich wohl eher bei dir bedanken. Für ... alles. Dafür, dass du ... Für alles."
Der Engel schüttelte den Kopf, lächelte leicht vor sich hin.
Hatte Tyriel das gewollt? Ihn an seine Vergangenheit erinnern? Was war sein Ziel? Waren diese Erinnerungen, die gefährlich nahe an der Oberfläche trieben, denn wirklich ein Geschenk, das er annehmen sollte? War es überhaupt ein Geschenk? Oder hatte es ein Preisschild, das er bis jetzt übersehen hatte?
Ein Windstoß blies durch Aros Haare, wehte ihm einige Strähnen in die Augen. Ja, er mochte Höhlen definitiv lieber. Achtlos fuhr er mit den Fingern hindurch. Kein sehr einfaches Unterfangen, davon würde jeder Zuschauer spätestens dann ausgehen, wenn er die schwarzen Strähnen sah, die sich danach in Aros Hand befanden.
Er wurde sich der Augen gewahr, in denen die Belustigung blitzte.
„Was ist jetzt schon wieder?", grunzte er.
„Sind alle obersten Dämonen so ..." Der Engel schien sich sichtlich darum zu bemühen, das richtige Wort zu finden.
Aro zog die Brauen hoch.
„... nachlässig?", beendete Tyriel schließlich seinen Satz.
Sehr höflich formuliert. Der Dämon musste ein Grinsen unterdrücken.
„Woher soll ich denn wissen, was die Anderen treiben?"
Tatsächlich ließ es sich sehr einfach zusammenfassen. Je höher der Rang, desto abgerissener der Dämon.
Es war schlichtweg egal, wenn man den Körper lediglich als Mittel zum Zweck betrachtete. Und man konnte ihn als nichts anderes betrachten. Wenn die zugehörige Seele den Körper schon so oft verlassen hatte, was war er dann mehr als ein Gefäß? So dachte er zumindest darüber. Mal ganz davon abgesehen, dass der Tod, so vorübergehend er auch sein mochte, ebenfalls nicht gerade für einen gesunden Teint sorgte. Aber es war egal. Ganz egal.
„Gegenfrage, Engel. Iól. Was bedeutet das?" Erst jetzt sah er wieder auf den Engel herab, der träge die Augen schloss.
Tyriels Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln.
„Dummkopf", murmelte er nach einer Weile.
Resigniert lachend ließ sich der Dämon auf den Bauch fallen, legte den Kopf auf seine Arme. Kicherte weiter. Dummkopf. Was hatte er erwartet? Er war wirklich einer. Einer voll mit Zorn und Kälte.
Aro biss die Zähne zusammen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro