Kapitel 9
Dass es so kurz dauern würde, bis wir wieder in die Stadt fahren, hatte ich nicht gedacht. Denn tatsächlich blieb der Regen kein sanfter Regen, sondern verwandelte sich in Starkregen mit leichtem Sturm. Auch wenn es nur einen Nachmittag und eine Nacht lang so blieb, hat es doch gereicht, dass einiges kaputt ging.
»Verdammt!«, höre ich meine Mama fluchen. Sie und Papa versuchen gerade, die von dem Starkregen heruntergekommenen Planen aus den Beeten zu ziehen. Die Wasserschläuche zur Bewässerung, die überall liegen und klitzekleine Löcher haben, aus denen immer ein ganz bisschen Wasser kommt, liegen kreuz und quer in Pfützen, denn das Wasser hat unseren Garten teilweise in einen Sumpf verwandelt. Ich hoffe wirklich, dass die Wasserschläuche nicht beschädigt worden sind, weil ich weiß, wie lange es gebraucht hat, die kleinen Löcherchen reinzuschneiden. Letztes Mal hatte ich nämlich die ehrenvolle Aufgabe dazu bekommen. Tatsächlich sparen wir so sogar Wasser, da die Beete so regelmäßig ein bisschen gewässert werden. Erstens fallen dadurch ein paar Gänge fürs Bewässern weg, der Boden wird zweitens nicht zu viel Wasser auf einmal ausgesetzt und trocknet dadurch auch nicht bei der starken Trockenzeit komplett aus. Und drittens verdunstet das Wasser nicht unnötigerweise, da es direkt am Boden versickern kann. Manche Beete müssen wir allerdings trotzdem manuell bewässern. Ohne diese Tröpfchenbewässerung wäre so ein Regenfall wie gerade absolut tödlich für alle Pflanzen. Das Wasser könnte nicht versickern und stünde noch viel höher, als es jetzt tut. Mir würde dann ganz sicher das Wasser bis zum Hals stehen. Wortwörtlich.
Der Schaden sieht allerdings nicht ganz so schlimm aus, wie erwartet. Nicht so schlimm, wie beim letzten Starkregen. Doch wenn man genauer hinsieht, erkennt man, wie sehr die Pflanzen darunter leiden. Dabei haben wir schon extra welche angebaut, die extreme Wetterlagen besser abkönnen und so geordnet, dass sich die Pflanzen gegenseitig durch natürliche Biokreisläufe unterstützen. Irgendwas mit Symbiose und Mikroklima. Und dann betont meine Mutter auch immer, dass es bei einigen Pflanzen wichtig ist, dass sie auf wie eine Art runden Erdhügelchen gepflanzt sind, weil dann die Wurzeln gegenseitig den Boden lockern und stabilisieren. Deswegen sind diese Hügel auch nicht weggeschwemmt, weil sie durch dieses Wurzelwerk sehr resistent sind. In diesem Mikroklima leben die vielen verschiedenen Pflanzen, Regenwürmer, Bakterien und Pilze. Mama erzählt immer, dass man früher viel naturschadender gewirtschaftet und gleichzeitig viel mehr Platz gebraucht hat. Wir stattdessen nutzen eine Anbautechnik, die Permakultur * heißt.
Das Einzige, was wirklich im Eimer ist, ist das Dach unseres Geräteschuppens und das bringt ein echtes Problem. Denn erstens hat es die Regenrinne nicht überlebt und hängt jetzt halb an der Wand und zweitens sind innen einige Geräte nass geworden und schwimmen jetzt im Wasser. Dort fließt das Wasser wirklich nicht schnell ab.
»Lavita, könntest du kurz bitte helfen?«, höre ich meine Mutter, die sich sichtlich bemüht, ruhig zu bleiben. Wir wissen alle, dass Geduld nicht wirklich ihre Stärke ist. Also gehe ich schnell zu ihr und helfe ihr, das Gerüst aus Holz wieder zu stabilisieren. Daran ranken sich Tomaten nach oben. Diese wachsen nämlich aufgrund der höheren Temperaturen wunderbar. Unten im höher gelegenen Beet ist Basilikum angebaut und oben über den Tomaten haben wir an ein Metallgerüst Weinranken gepflanzt.
Während wir die Holzstäbe wieder ineinanderstecken, schimpft Mama vor sich hin. »Dass auch gleich so viel runterkommen musste. Wirklich. Und dann ist auch noch diese bescheuerte Regenrinne kaputt und das Dach des Werkstattschuppens und...«, ihre Stimme bebt, »...dieses blöde dumme Holzgestell kotz mich verfickt nochmal abartig an, warum zur Hölle muss denn immer alles so verdammt schiefgehen und...«, dann bemerkt sie, dass sie laut gedacht hat. Sie wischt sich einmal über die Augen und atmet tief ein. »Huch, entschuldige meine Ausdrucksweise. Alles gut. Es ist nichts, mein Lavita-Schätzchen.« Sie streicht mir sanft über den Arm.
Ich schaue sie prüfend an. In ihren Augen kann ich immer noch kleine Tränen erkennen, die sie verzweifelt versucht wegzublinzeln. Mein Gespür sagt mir, dass es mehr als nur das Unwetter ist. Deswegen befestige ich nur noch kurz den letzten Holzstab und nehme sie dann wortlos in die Arme. Meine Mutter und ich sind sich in noch einem Punkt ähnlich: Wir brausen beide schnell auf und sind extrem schlecht darin, unsere Gefühle zu verbergen.
Beim Abendessen ist die Stimmung gedrückt und gereizt. Ich halte meinen Blick auf den Teller vor mir gesenkt und versuche gerade aus dem Karotten-Süßkartoffel-Pamp ein Bild zu formen. Leider kann ich außer komisch geformtem Essen nichts erkennen. Dabei versuche ich verzweifelt ein Schwein von vorne darzustellen.
Neben mir höre ich leise meinen Opa lachen. Ich drehe meinen Kopf zu ihm, während die anderen lautstark über die Regenrinne diskutieren.
»Ein Boot?«, fragt er und deutet mit dem Kopf auf mein Essen. Beleidigt verschränke ich die Arme. »Dann bin ich Madonna.« Wieder lacht mein Opa und fragt dann: »Was soll es denn sein? Ein Gesicht?«
»Also entweder du versuchst dich gerade bei mir einzuschleimen oder für dich sehen alle Menschen aus wie zermatschtes Gemüse auf dem Teller.«
»Mit ein bisschen Fantasie kann man darin alles erkennen. Vielleicht ist es auch ein Medaillon oder Angelina...«
»Ha ha«, erwidere ich so trocken wie möglich, kann aber trotzdem nicht gegen das Zucken meiner Mundwinkel ankommen. Dann fällt mir wieder das Gespräch ein. Es tut mir leid, mein Kleines. Dass ich ein schlechter Opa bin. Versucht er gerade wieder etwas gutzumachen? Ich wende meinen Blick wieder ab und stochere weiter in der Pampe rum.
»Vielleicht ist es auch ein Ausdruck deiner inneren Wut«, rät mein Opa weiter. Ich verdrehe die Augen. »Oder die Sonne.«
Ich versuche die Ohren des Schweins zu formen.
»Oder ist es eine Kreation von Josetta, die du abzubilden versuchst?«
Widerwillens muss ich auflachen. Mein Herz erwärmt sich, während ich gleichzeitig gemischte Gefühle habe.
»Also wenn du da drin so viel siehst, dann musst du sehr enttäuscht sein, dass ich junges Gemüse meinem Gemüse keine tiefere Bedeutung gegeben habe. Aber ein kleiner Tipp: Wir haben so etwas auch im Dorf.«
»Also ist es ein Brunnen?«
»Nein.«
»Ein Kranich?«
»Nein.«
»Ein Hammer?«
»Hammer-Idee, aber nein.« Ich kann aus den Augenwinkeln ein Lächeln vermischt mit einer gewissen Trauer in Opa Hansis Gesicht sehen.
»Schieß los, ich komme einfach nicht auf das Richtige. Was ist es?«, fragt er jetzt.
»Ein Schwein! Kann man das nicht eindeutig erkennen?«, frage ich mit gespielter Enttäuschung in der Stimme. Mein Opa gibt mir diesen Blick, den nur Großväter seinen Enkeln geben und Wärme verteilt sich in meinem ganzen Körper. Diesen Blick, von dem ich nicht wusste, ob er noch existiert. Der Blick, den er uns vor drei Jahren ständig gegeben hat.
»So eine Schweinerei«, erwidert mein Opa und ich muss lachen. Kommt daher also mein schlechter Humor? Von Opa Hansi? »Aber jetzt, wo man es weiß, kann man es erkennen. Hier ist die Nase, da die Ohren.«
»Da hast du ja nochmal Schwein gehabt, oder?«, frage ich und lächele. Dann werden wir aus unserem Gespräch gerissen.
»... ich kann nicht in die Stadt, ich werde hier gebraucht. Lavita?«, fragt meine Mutter. Ich sehe zu ihr, und erkenne die tiefen Augenringe, die sie nach der Stadt bekommen hat und die sich mit dem Unwetter noch einmal vertieft haben.
»Hm?«, frage ich.
»Mein Schatzilein, kannst du in die Stadt fahren und bei Quentine neue Schrauben für die Regenrinne holen?«
Mein Herz beginnt gegen meinen Willen etwas schneller zu klopfen. Ich würde wieder in die Stadt fahren? Zoey und Lewis sehen? Ich versuche meine kleine Freude darüber zu verbergen und sage: »Wir haben wohl ein paar Schrauben locker. Aber klar, kann ich machen.«
Mein Blick fällt auf Kerstin, die ein bisschen enttäuscht aussieht. Als meine Augen ihre treffen, schaut sie mich bittend an. »Kann...«, frage ich an Mama gewandt, »...Kerstin mitkommen? Ich denke, ich sollte nicht alleine fahren.«
Tante Josetta schlägt mit der Hand auf den Tisch. »Kerstin! Du fährst nicht in diese barbarische Stadt!«, ruft sie aus. Sie schiebt ihre Brille zurecht und versucht dabei möglichst autoritär auszusehen. Kerstin schaut Josetta mit einem sturen Blick in die Augen. Alle anderen am Tisch halten den Atem an, während die beiden sich ein Blickduell liefern. Nach einer Weile knickt Tante Josetta ein. Sie verdreht die Augen. »Na gut, dann darfst du dir selbst ein Bild davon machen. Unter einer Bedingung: Ich komme mit.«
Kaum hatte sie das ausgesprochen, rufen Mama und Papa gleichzeitig ein lautes »NEIN.« Tante Josetta friemelt an den runden bunten Perlen ihrer Kette rum und sagt dann: »Gut, ich wollte sowieso nicht. Aber ich will, dass die beiden mit einem Erwachsenen in die Stadt fahren.«
Papa seufzt und erwidert dann: »Dann komme ich eben noch mit, dann kann ich ja gleich eine neue Säge mitnehmen. Die werde ich nämlich brauchen, wenn ich das Dach repariere.« Ich erkenne, wie über Mamas Gesicht ein Schatten huscht.
Abends liege ich im Bett und halte das Handy in der Hand. Meine Finger schweben über der Tastatur. Wie ich herausgefunden habe, hat mir gar nicht Lewis - wie ich angenommen hatte - das Handy zugesteckt, sondern Zoey. Oder beide. Auf jeden Fall ist Zoeys Nummer schon eingespeichert. Die andere Nummer auf dem Zettel ist Lewis'. Vielleicht könnte ich ihnen ja Bescheid sagen, dass wir kommen. Aus den alten Boxen von 2000 dröhnt Boulevard of Broken Dreams von Green Day und ich wippe mit meinen Füßen auf und ab. Nach ein paar weiteren Sekunden tippe ich die Nachricht an Zoey ein.
Hey,
Wir fahren morgen wieder zu euch, sehen wir uns? Das Unwetter hat so Dachschaden mehr angerichtet, als wir sowieso haben, deswegen...
LG
Bewusst schreibe ich nicht meinen Namen in die Nachricht. So könnte die von jeder beliebigen Person stammen. Ich drücke auf ›Senden‹ und lege mein Handy in die Kiste zu der Kamera meines Urgroßvaters.
»Oh mein Gott«, staunt Kerstin, als sie, Zoey und ich durch die Stadt laufen. Ihr geht es genauso wie mir vor einer Woche und ich muss auch versuchen, nicht zu sehr wie eine Touristin zu wirken. Aber im Gegensatz zu letztem Mal ist es jetzt auch hier ein bisschen abgekühlt und man kann noch viele Pfützen auf der Straße erkennen. Mir fällt ein Haus auf, welches sehr lustige Formen hat, runde Fenster, manche eher oval, manche klein, manche groß, die mit Holz ausgeschmückt sind. Daneben ein hässlicher Wohnklotz aus Beton, dann ein älteres Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert, bei dem man noch das Stuckhandwerk von damals erkennen kann und so weiter. Man würde kaum glauben, dass hinter diesen vielen, verschiedenen, teilweise bunten Häusern ein grausames Regime steht, welches durch Medienbeeinflussung, Propaganda und Überwachung vor dreißig Jahren an die Macht gelangt ist. Seitdem haben ethnische Minderheiten, körperlich oder geistig Eingeschränkte und Menschen mit schweren chronischen Krankheiten um ihre Existenz zu bangen. Dabei sagt Penthesilea immer von sich, sie würden in keinster Weise dem Nationalsozialismus ähneln. Nur ist es so, dass durch die Zuordnung von Jobs einige Leute bevorteilt werden und einige dadurch stark eingeschränkt sind. Und selbst wenn die Häuser so verschieden wirken - die Menschen sind es nicht mehr, oder sollen es nicht mehr sein. Denn verschiedene Meinungen, die man vermeintlich öffentlich sagen darf, gibt es dann irgendwie doch nicht. Man kann nicht mal mehr selbst über sein Einkaufsverhalten, die Jobsuche und Freizeit bestimmen. Alles ist geregelt und abhängig von den Punkten, die man sammeln oder verlieren kann. Bei dem Gedanken an diese Einschränkung der Freiheit läuft mir ein Schauer über den Rücken.
Zoey grinst und sagt dann: »Und ich habe tatsächlich gerade durch meinen Stern in einem Physiktest die Möglichkeit, euch auf einen Kaffee einzuladen.«
Meine Cousine klatscht begeistert in die Hände und ruft aufgeregt: »Oh mein Gott, Oh mein Gott, wie wild!« Ich stattdessen ziehe eine Augenbraue hoch und frage fast gleichzeitig: »Kaffee? Ist da nicht Koffein drin, welches ungesund ist?«
»Ach Quatsch, das ist nur in großen Mengen ungesund«, winkt Zoey ab und zieht uns danach zu einem Bäcker. Der Duft nach gebackenen Brötchen ist berauschend und ich bekomme gleich Hunger bei dem Anblick von Kuchen, den wir so selten backen können. Dass man den hier einfach so kaufen kann, haut mich immer noch aus den Latschen. Nachdem sie Kerstin und mir jeweils einen Kaffeebecher in die Hand gedrückt hat und sich selbst auch einen nimmt, hält sie nur ihre Hand an ein Gerät, welches von rot zu grün blinkt und dann können wir wieder gehen. Mir kommt wieder in Erinnerung, was Zoey mir erklärt hat. Wir haben ja eh alle einen kleinen Chip in der Haut, wo unsere Aktivitäten verfolgt werden, weil man überall - egal ob Fitnesscenter oder Restaurant - sich damit registrieren muss. Man bekommt Plus- und Minuspunkte, außerdem hat man ein Limit, wie oft man wo hin kann. Wir laufen weiter durch die Straßen, und ich muss zugeben, dass Kaffee wirklich überschätzt wird. Ich meine, in alten Filmen trinken die ständig Kaffee, aber dieser eine überzeugt mich nicht wirklich. Auch wenn der Geruch sehr angenehm ist. Kerstin dagegen ist hin und weg und hört Zoey sehr interessiert zu, wie sie ihr etwas über die Straßen und ihre Schule erzählt. Die mit den besten Noten - es gibt bei ihnen allerdings nur Stern, Plus, Punkt, Minus - können sich das Meiste leisten. Dadurch haben aber Leute, die, wie Zoey es nett versucht hat auszudrücken, ›weniger schnell denken‹, Pech. Sie können sich nicht einfach so mal was vom Bäcker oder so kaufen, sondern bekommen lediglich das Notwendige zum Leben. Man sieht es immer ganz schnell, wer viel Geld hat und wer nicht. Die mit ständig wechselnden Klamotten und die, die selten wechseln. Denn Fast Fashion gibt es nur für Wohlhabende. Die anderen müssen es sich erst einmal verdienen. Zoey senkt die Stimme, als sie sagt: »Diese Trennung zwischen Arm und Reich kotzt mich an. Als würde man Menschen, deren Fähigkeiten eben nicht bei Mathe liegen, das extra noch einmal unter die Nase reiben. Obwohl man das ja auch wieder mit anderen Fächern ausgleichen kann, oder, wie es auch manche tun, durchs Bespitzeln. Das bringt nämlich richtig viele Punkte.«
Wie es wohl ist, nicht genau zu wissen, ob eine Person wirklich mit einem befreundet sein will, oder nur darauf wartet, Informationen an Penthesilea weiter zu schieben? Danach erzählen wir ein bisschen was von unserem Dorf, natürlich immer darauf achtend, dass uns niemand zuhört, und Zoey muss lachen, als ich erwähne, dass wir mal ein entlaufenes Huhn durch das halbe Dorf jagen mussten, bevor wir es endlich eingefangen haben.
Mir versetzt es fast einen Stich, dass Zoey und Kerstin sich so unglaublich gut verstehen. Also klar, wir verstehen uns alle drei sehr gut, aber Zoey scheint es natürlich zu freuen, dass Kerstin so angetan von der Stadt ist. Aber ich schaffe es einfach nicht, die düsteren Gedanken an das Regime aus meinem Kopf zu schieben. Den anderen geht es zwar genauso, aber dennoch ist es für Zoey Heimat und Kerstin findet das Neue spannend. Als wir um eine Ecke biegen und in ein Gespräch über alte Gedichte vertieft sind, sehe ich zwei Personen miteinander, von denen mir die eine sehr bekannt vorkommt.
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