Kapitel 8
Die Zeit, bis meine Mutter und ich wieder die Stadt verlassen mussten und zurück ins Dorf gefahren bin, ging dann viel zu schnell rum. Auch wenn ich froh bin, wieder Zuhause zu sein, vermisse ich irgendwie die Stadt.
Das Handy habe ich erst gemerkt, als es mir in meinem Zimmer aus dem Beutel gefallen ist. Zusammen mit einem Zettel. Darauf stand die Anmerkung, dass man mich doch nicht ohne Telefonnummer gehen lassen könne und zudem der Code für das „alte" Handy. Immer noch staunend betrachte ich mein eigenes Handy. Davor habe ich das von Tante Josetta genutzt, damit ich nicht die teure Kamera mitschleppen muss, aber das würde ab jetzt nicht mehr nötig sein.
Mit dem Handy von Josetta habe ich, als Lewis und ich endlich wieder bei ihnen angekommen sind, noch ein Foto von dem letzten Rauch über der Stadt gemacht. In der Straße von ihnen war das Feuer wieder gelöscht. Nur noch die verrußten Hauswände und die verkohlten Bäume haben auf den Brand hingedeutet. Mama ist gefühlt fast gestorben vor Sorge, während die anderen es anscheinend schon gewohnt sind, dass Lewis manchmal länger nachts weg ist. Wo und was er da genau macht, wenn er nicht gerade mit Zoey unterwegs ist, will ich gar nicht so genau wissen. Müde von dem Tag und den vielen Verfolgungsjagden und den daraus sich ergebenen Dauerläufen bin ich nur noch auf die Matratze neben Zoeys Bett gefallen und ziemlich schnell eingeschlafen.
»Wow, das ist die Stadt?«, fragt Kerstin staunend, als ich ihr die Fotos zeige.
»Jup, wie sie leibt und lebt...«, erwidere ich und irgendwie werde ich fast ein bisschen sehnsüchtig, dort zu sein.
»Ich hole kurz Wasser«, sage ich und meine Gedanken schweifen zu Zoey und Lewis. Was die beiden wohl gerade machen? In der Schule sein? Um die Straßen ziehen? Das machen, wovon ich ein Leben lang geträumt habe? Das, was jetzt eigentlich gar nicht mehr so weit weg, sondern greifbarer ist? Doch dann fällt mir wieder ein, wie die Frau und der Mann verhaftet worden sind, wie die Polizisten uns verfolgt haben und wie traurig Zoey ausgesehen hat, als sie mir erzählt hat, wie gern sie Journalistin sein würde.
Als ich den Wasserhahn aufdrehe, fällt mir auf, dass das Wasser sehr langsam fließt und nur noch wenig rauskommt. Der Brunnen, den wir gebohrt haben, ist zwar tief, aber der Grundwasserspiegel aufgrund der Trockenheit sehr niedrig. Bilder von dem Brand in der Stadt zucken durch meinen Kopf. Ob es hier auch brennen wird, wenn es weiter so trocken ist? Ich nehme die vollen Gläser und setze mich wieder neben Kerstin. Sie nimmt ihr Glas, trinkt einen Schluck. »So unglaublich, ich will nächstes Mal auch unbedingt mit! Ich meine - du kannst dir doch sicher auch vorstellen, dort einfach ein normales Leben anzufangen, ohne als Hauptziel das Überleben zu haben? Zu leben, ohne immer überleben zu müssen?«
Ich nicke, mit den gleichen Gedanken wie gerade eben. Einerseits die Freiheit, aber auch genau das Gegenteil: Die Eingeschränktheit. Die Überwachung.
»Würdest du dort bleiben, wenn du könntest?«, fragt Kerstin mich. Die Frage überrumpelt mich. Vielleicht, weil ich sie mir selbst auch schon unbewusst gestellt habe und ich mich ertappt fühle. Ich zucke mit den Schultern. Würde ich bleiben? Würde ich es wirklich tun? Ich weiß nicht, ob ich hier bleiben würde, in den Gärten, der Natur, der Freiheit, aber auch der Verpflichtung, jeden Tag fürs Essen zu sorgen und nicht viel Freizeit zu haben. Aber würde ich das hier für die Stadt aufgeben? Würde ich das wirklich tun?
»Shoppen, Feiern, so viel essen, wie man will, irgendeinen Beruf haben - ist das nicht das, wovon wir immer geträumt haben? Und es ist direkt da!«
Sie hat ja so verdammt Recht. Aber das ist eben nur ein Traum. Das hier ist unser Leben. Nicht das andere. Also erwidere ich: »Also erstens kann man ja eben nicht alles essen, was man will und die Berufe sind auch nur beschränkt, weil jedem eine gewisse Auswahl nur gegeben wird. Aber klar, wir müssten nur dorthin, in irgendeine Zentrale laufen und sagen Hey, wir kommen aus einem nicht existierenden Dorf, können wir ins System? Ja, wir würden es lieben, einen Chip in die Haut eingepflanzt zu bekommen, mit dem wir bezahlen können und all das genauestens dokumentiert wird!«
»Nein, natürlich nicht so, man muss sich als Fremde von einem anderen Land ausgeben. Man darf doch nicht sofort sagen, dass man mit Gedanken gegen das Regime aufgewachsen ist, sonst würden die denken, dass du nur bespitzelst oder so.«
»Weil die natürlich auch nicht prüfen würden, ob du wirklich aus diesem Land kommst«, sage ich sarkastisch.
»Na, man kann es ja versuchen.« Ich kann aber hören, dass Kerstin mir Recht gibt. Wir gehören da nicht hin. Die Chancen, dass wir dort nicht ein leichteres Leben, sondern genau das Gegenteil bekommen würden, stehen viel zu hoch. Warum sollten sie uns nicht einfach ins Gefängnis werfen?
Ich nicke und schaue gedankenverloren in die Ferne.
Als sich mein Opa Hansi neben mich setzt, bemerke ich, dass Kerstin sich schon lange wieder ans Unkrautzupfen gemacht hat.
»Na? Was ist los, meine Kleine?«, fragt Opa, der schnaufend den Spazierstock neben sich legt. Ich schüttle nur den Kopf und zucke mit den Schultern.
»Ist irgendetwas in der Stadt passiert?«
Ich schaue nur kurz zu ihm und dann wieder zu den Apfelbäumen. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich meinen Opa nicht so gut kenne, auch wenn er schon immer da ist. Aber eben nicht für uns. Oft ist er verschlossen und sitzt alleine drinnen, lesend, in seiner Welt eingetaucht. Ich weiß nur, dass ich die Bücher mag, die er liest. Sollte ich mich jetzt geehrt fühlen, dass er sich den Aufwand gemacht hat, sich neben mich zu setzen? Soll ich mich gegenüber ihm normal verhalten? Vielleicht versuche ich, über die Bücher zu reden?
Aber er war doch nie der Opa gewesen, wie ich es mir gewünscht hatte. Nie der Opa, der dem Enkelkind heimlich zuzwinkert in Situationen, wo ich es gebraucht hätte. Ich schaue wieder zu ihm. Die Lachfalten kommen mir fremd vor, denn ich weiß nicht, woher sie kommen könnten. Mit uns lacht er auf jeden Fall nicht so oft.
»Was willst du?«, frage ich unbeholfen und klinge dabei eine Spur pampiger, als ich es vorgehabt habe.
Er schmunzelt in sich hinein. »Ich weiß, ich habe es vielleicht ein bisschen verlernt, mit Menschen umzugehen.«
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »Du hättest ja einfach nur am Tisch reden müssen, dich am Gespräch beteiligen und mit im Garten helfen müssen.« Wieder klinge ich verbitterter, als beabsichtigt.
Er schweigt und ich habe Angst, etwas Falsches gesagt zu haben. Schnell fahre ich fort: »Aber ist ja auch ok-«
»Nein, ist es nicht«, fällt mir mein Opa ins Wort. »Du warst weg, mein Kind, und es war anders. Da ist es mir aufgefallen, wie viel eine Präsenz ausmachen kann. Wie sehr es einem fehlen kann.«
Das überrumpelt mich zugegebenermaßen und das schlechte Gewissen regt sich in mir. Vielleicht hätte ich ihn nicht so anfahren sollen.
»Es tut mir leid, mein Kleines. Dass ich ein schlechter Opa bin.«
»Du bist kein schlechter Opa«, erwidere ich tröstend, nehme ihn aber nicht in die Arme, weil da immer noch diese gewisse Distanz zwischen uns ist.
»Doch, das bin ich. Habe mich seitdem zurückgezogen. War in Bücherwelten mit guten Enden, in denen man nicht den gleichen Verlust spürt. Dabei das Wichtigste verloren.«
Ich spüre, wie meine Augen ein wenig feucht wurden.
»Aber ich will da sein. Ich... Also du weißt ja... Das Alter holt eben alle einmal ein. Also wenn es etwas gibt, worüber du reden willst-«, sagt er und seine Stimme ist brüchig, »ich bin da.«
Eine feine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen, obwohl es total heiß ist. Ich nicke nur und stehe auf. Etwas in mir will es ihm nicht so leicht machen. Mit ein paar Worten kann man doch nicht drei Jahre gut machen wollen. Ich nicke also, unterdrücke meine leichten Tränen und sage: »Merke ich mir. War schön zu reden.«
Dann drehe ich mich um und begebe mich zu den anderen. Nach ein paar Schritten drehe ich mich allerdings noch einmal um zu meinem Opa, wie er unter dem Apfelbaum auf der Bank sitzt und mir in die Augen schaut. Hinter den Brillengläsern kann ich Tränen erkennen. Soll ich...-? Nein. Er darf sich ruhig so fühlen, wie wir uns die letzten Jahre gefühlt haben. Ich schiebe meine Schultern zurück. Er wird uns schon noch lang genug mit seiner Anwesenheit beehren, dass wir noch einmal richtig reden können. Bald. Aber nicht jetzt.
Als meine Mutter laut aufruft, werde ich aus meinen Gedanken gerissen. »Seht ihr diese Wolke?«
Ich schaue sie verwirrt an. Besorgt laufe ich zu ihr.
»Alles gut bei dir?«, frage ich.
»Da! Siehst du diese Wolke?«, ruft sie nochmal und deutet gen Himmel. Hat sie Josettas selbstgezogenes Gras probiert? Ich schaue sie rätselnd an.
»Das ist eine Gewitterwolke!«, sagt sie begeistert und ich reiße meinen Blick in den Himmel.
»Eine Wolke!«, rufe ich jetzt euphorisiert. Endlich. Also renne ich tanzend zu Kerstin und wiederhole: »Eine wolkige Wolke, die uns in die Wolken befördert!«
Auch sie schaut mich komisch an. »Gewitterwolke!«, sage ich das Codewort und ihr Gesicht hellt sich auf. Schnell beginnen wir die Gartengeräte wegzupacken, während mein Vater sagt: »Die kommt doch sowieso erst in drei Stunden runter, die können wir doch noch nutzen.«
»Jaja, du Wetterexperte, aber man weiß nie«, sagt meine Mutter und klopft Papa spielerisch gegen den Arm.
Woher Papa gewusst hat, dass es wirklich drei Stunden dauern würde, weiß ich auf jeden Fall nicht, aber nach drei Stunden beginnt es endlich langsam zu tröpfeln.
Nach kurzer Zeit schon ist der Himmel vollkommen zugezogen, genauso, wie die Tür zum Geräteschuppen, und es regnet in Strömen.
»Lavitaaa, ko-homm«, ruft Emil quengelnd, der sich bis auf sein T-Shirt und die Unterhose nackig ausgezogen hat und will mich nach draußen befördern. Ich schaffe es nur noch, meine Socken aus- und meine Regenjacke anzuziehen, dann hat mich Emil schon raus gezogen. Und rein ins Wetter.
»Lavita, du musst den Regenmantel schon ausziehen!«, ruft Kerstin und wirbelt Emil in der Luft, der dabei jubelt.
Widerwillig mache ich das und sehe zu, wie meine Klamotten durchtränkt werden. Als Kerstin mich an der Hand nimmt und mich zum Tanzen auffordert, muss ich aber auch lachen. Besonders, als Emil beginnt, so zu tun, als würde er Beatboxen. Das sieht schon echt kurios aus, vor allem, weil er gerade mal sechs Jahre alt ist. Dementsprechend ist das Ergebnis aber auch nicht so umwerfend. Umwerfend ist eher die Art von Kerstin, zu tanzen. Denn sie schubst mich so, dass ich in das nasse Gras stolpere. Ich bleibe liegen und lasse die Regentropfen auf mein Gesicht regnen. In meinem Kopf spielt sich gerade „It's raining men" ab, nur in einer umgedichteten Version zu „It's raining rain- Halleluja it's raining rain".
Dann springe ich wieder auf und kitzele Emil durch, der laut quietscht und dann lacht. Es ist wie ein Ritual, dass wir bei jeden Regenguss dem Regen mit einem Regentanz danken. Die Gedanken an Feuer weggespült, zusammen mit dem Flimmern der Hitze über dem Haus. Obwohl meine natürliche Hitze nicht wegzuspülen ist, ist ja klar. Ich kann ja nur heiß sein, wenn die Luft um mich herum abgekühlt ist. Wohingegen Lewis auch heiß sein kann, wenn es brennt. Ich ertappe mich bei dem Gedanken daran, wie er jetzt im Regen aussehen und wie viel das durchtränkte T-Shirt preisgeben würde.
Lavita, komm schon, einen kühlen Kopf bewahren, nicht an Lewis denken... Wie er das T-Shirt auszieht, weil es zu nass ist und... Mir dann in die Augen schaut und sich dann vorbeugt... Ich werde brutal aus meinen Tagträumereien gerissen. Emil versucht mir nämlich das Bein wegzuziehen, damit ich hinfalle. Dass er dabei von Kerstin unterstützt wird, ist doppelt so fies. Ich kann den beiden nur noch einen bösen Blick zu werfen, dann liege ich schon im Matsch.
Regen, Sonne, fruchtbare Erde. Es ist alles da. Warum haben unsere Vorfahren es nicht zu schätzen gewusst und mussten mit der Umwelt umgehen, als wäre sie der letzte Dreck? Warum, obwohl es das ist, was am wichtigsten ist?
„Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet Ihr merken, dass man Geld nicht essen kann."
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