Kapitel 16
Warum sollte ich weiterhin nur »Däumchen drehen«? Warum sollte ich meinen Wille, bei einem Willen belassen? Warum sollte ich die Chance, die ich habe, verstreichen lassen? Warum sollte ich Kerstin im Stich lassen? Warum sollte ich ihre Worte einfach so links liegen lassen, obwohl sie mir gesagt hat, dass ich für immer hier bleiben würde?
Warum würde ich ein Leben leben wollen, in dem ich mir bis zum Ende vorwerfen werde, dass ich nichts getan habe? Dass ich einfach nur zugeschaut habe?
Neben meinen tiefgründigen, heroischen Gedanken ist aber auch eine leise, egoistische Stimme, die sich meldet. Nie wieder dem Regime auf der Nase rumtanzen? Undenkbar. Außerdem kann ich mir einfach nicht vorstellen, Kerstin, Zoey und Lewis nie wieder zu sehen.
Meine Mission hat sich von einer Mützsion in eine Vermission verwandelt. Und sie ist ganz simpel. Ich würde in die Stadt gehen, Zoey und Lewis tschüss sagen und Kerstin wieder ins Dorf holen. Dann könnten wir weiterhin unbemerkt zur Stadt und wieder zurück gehen. Falls ich Kerstin nicht überreden kann, habe ich zwei Möglichkeiten: Alleine wieder zurück kommen oder mit Kerstin in der Stadt bleiben. Beides scheint mir nicht wirklich eine Option, weshalb ich hoffe, dass Kerstin auf mich hört.
Mit meinem Handy, einer Taschenlampe, einer Decke und einem kleinen Beutel mit Essen - alles in meinem Rucksack verstaut - bewaffnet, schleiche ich die Treppe nach unten. Diesmal bin ich ganz darauf bedacht, nicht auf die knarzende Diele zu treten und weil ich schon so oft im Dunklen den Weg nach unten gefunden habe, schaffe ich es auch diesmal lautlos und blind. Die Kleidung aus der Stadt habe ich schon angezogen, auch wenn andere Klamotten sehr viel bequemer gewesen wären. Aber in meinen Rucksack hat nicht mehr so viel reingepasst. Ich hab mir genau überlegt, was ich in der Stadt brauchen würde und was ich zurücklassen würde. Weil ich weiß, dass meine Familie mich stoppen würde, wenn ich ihnen im Vorfeld bescheid gesagt hätte, lege ich eine kleine Karte mit einem Gruß und der Information, dass ich in die Stadt zu Kerstin gehe, auf den Küchentisch. Außerdem - ganz für immer würde ich nicht fortgehen. Ich bin mir sicher, dass Kerstin nicht lange diskutieren wird und wir zusammen wieder zurückkommen werden.
Ich bin fast zu Tür hinausgeschlichen, als eine Stimme mich aufhält.
»Vivi?«, fragt Emil leise. Bei meinem Spitznamen, den nur Emil und manchmal auch Kerstin benutzen, wird mein Herz weich. Ich drehe mich um und Emil schaut mich aus großen Augen an.
»Willst du Danny suchen?«, fragt er. Danny ist ein Eichhörnchen, was bis vor einem Monat immer bei uns vorbeigeschaut hat und was wir alle ins Herz geschlossen haben. Emil aber besonders. Seit Danny dann eines Tages nicht mehr da war, ist er der einzige, der weiterhin davon überzeugt ist, dass Danny noch lebt.
Ich streiche ihm durch die Haare. »Na, du Kleiner«, sage ich. »Ich wollte nicht nach Danny suchen. Nur einen kleinen Ausflug machen.«
»In den Wald? Da ist doch Danny«, fragt Emil und schiebt die Unterlippe vor. Ich knie mich vor ihn, damit wir auf Augenhöhe sind.
»Ja, in den Wald. Zu Kerstin. Und dann kommen wir zusammen wieder zurück. Vielleicht ist Danny da, vielleicht auch nicht, aber ich glaube nicht, dass ich ihn finden werde.«
»Wann kommst du wieder?«
»Es dauert nicht lange - zwei, drei Tage und dann bin ich wieder für dich da«, sage ich und wuschle Emil durch die Haare.
»Nimmst du mich mit?«, fragt Emil leise und ich schüttle den Kopf. »Das geht nicht. Du würdest dich nur langweilen. Aber keine Sorge, ich bin so bald wieder zurück, wie du Entengrütze sagen kannst, ja?«
»En-ten-grüt-ze«, buchstabiert Emil und schüttelt dann den Kopf. »Wie können Erwachsene nur immer so langweiligen, wichtigen Kram machen wollen?« Ich nehme Emil in den Arm und drücke ihm einen Kuss auf die Haare. »Schlaf wieder, Emi, ja? Dann geht die Zeit schneller vorbei.« Er nickt und tapst wieder zur Treppe zurück.
»Vivi?«, fragt er noch einmal und dreht sich um. »Wenn du Danny siehst, sag »Hallo« von mir.«
Ich nicke. »Klar mach ich das.« Dann drehe ich mich um und schließe die Tür hinter mir. Sofort schlägt mir die erfrischende Nachtluft entgegen. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der Kälte liegt, aber in meinen Augen sammeln sich plötzlich Tränen. Alles gut, rede ich mir ein. Ich würde ja nicht lange weg sein. Nur, weil sich ein paar Dinge verändert haben, heißt das ja nicht, dass sie nicht wieder so werden können, wie sie mal waren. Es ist ja kein Abschied für immer. Auch wenn es mir irgendwie so vorkommt.
Ich bin noch nicht weit in den Wald gegangen, als ich mir einbilde, Schritte zu hören. So unauffällig wie ich kann, verstecke ich mich hinter einem Baum, schalte meine Taschenlampe aus und horche in die Stille. Tatsächlich raschelt da wieder ein wenig Laub. Ist es nur ein Tier? Dann werden die Schritte deutlicher. Jemand muss mich gesehen haben und jetzt würde ich als Verräterin abgestempelt werden. Ich halte meinen Atem an und warte. Die Schritte sind ganz nah. Ein Lichtstrahl leuchtet an mir vorbei. Als die Person aber an mir vorbeigeht, runzele ich die Stirn. Habe ich mich so gut versteckt?
Also schaue ich hin. Schalte auch meine Taschenlampe an und ... Es ist Angelina, die dort einige Schritte entfernt durch den Wald läuft. Jetzt, da ein zweites Licht hinzugekommen ist, bleibt auch sie alarmiert stehen. Dreht sich um und entdeckt mich.
»Du?«, fragt sie und schaut mich ungläubig an. »Was machst du hier ... Nein warte, steckst du wirklich mit dem Regime unter einer Decke?«
»Das gleiche könnte ich dich fragen«, antworte ich und laufe auf sie zu. Sie schüttelt den Kopf. »Nein, ich würde nie etwas an das Regime verraten. Aber ich kann ganz sicher nicht auf die Stadt verzichten, also verlasse ich das Dorf.«
Unwillkürlich muss ich lächeln. »Bei mir ist es genauso. Aber du lässt deine Schreinerei und deinen Vorsitz im Dorfrat zurück? Freiwillig? Wolltest du dir vielleicht noch ein bisschen Schnittlauch von uns mitnehmen? Wenn ich gewusst hätte, dass ich dich hier treffen würde, hätte ich vielleicht auch welchen mitgebracht. Um ihn natürlich direkt vor deiner Nase zu essen.« Ich laufe weiter und Angelina folgt mir.
»Es gibt einige aus dem Dorf, mit denen ich lieber mehrere Stunden unterwegs sein würde, als mit dem Blondinchen«, grummelt sie, ohne auf meine Provokation einzugehen. Ich leuchte sie mit der Taschenlampe an und werfe ihr einen bösen Blick zu. »Das beruht auf Gegenseitigkeit.«
»Trotzdem, du könntest schlauer sein, als du aussiehst, Blondinchen und mit dem Regime zusammenarbeiten.«
»Du hast so viel mit Holz zu tun und erkennst nicht, wenn du auf dem Holzweg bist?«, kontere ich.
Darauf antwortet sie nichts und wir verfallen in Schweigen, während wir nebeneinander durch den Wald laufen. Es ist kühl und ich bin froh, dass ich noch meine Jacke übergezogen habe. Auch wenn der Himmel schon rötlich wird, ist die Sonne noch nicht aufgegangen.
Wir kommen auch an der Stelle vorbei, an der es gebrannt hat und ich schaue fassungslos auf die große, abgebrannte Fläche, die durch die Dunkelheit fast wie eine Lichtung aussehen könnte. Gäbe es da nicht diese kleinen Hinweise wie das Fehlen von Gestrüpp und die kahlen Überreste der Bäume, die durch das rötliche morgendliche Licht friedlich und bedrohlich zugleich wirken, hätte man fast denken können, dass hier alles normal ist. Wir laufen seitlich am Rand der Lichtung und ich schüttle immer wieder den Kopf. Warum brennt man einfach so Wald ab? Wie kann man das der Natur antun? Was ist mit den Tieren, die hier gelebt haben?
Als hätte man meine Gedanken gehört, erkenne ich, dass sich in der Dunkelheit etwas bewegt. Ich traue meinen Augen kaum, als die Bewegung sich als kleines Eichhörnchen entpuppt. »Danny«, flüstere ich und lächele. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass es sich wirklich um Danny handelt und vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber das Eichhörnchen schaut kurz in unsere Richtung und verschwindet dann in den Wipfeln des Waldes. Zu meiner Verwunderung kommentiert Angelina nichts davon, sondern läuft still neben mir weiter, geradeaus an der Lichtung vorbei.
Irgendwann kommt mir der Weg nicht mehr bekannt vor. Wir müssten doch schon lange auf den Weg gestoßen sein, der zur Mülldeponie führt. Aber als ich Angelina frage, sagt sie, dass sie einen anderen, kürzeren und auch sichereren Weg zur Stadt kennen würde. Weil mir nichts anderes übrig bleibt, folge ich ihr. Was, wenn sie mich direkt in die Fänge von Penthesilea führt? Was, wenn sie wirklich das Dorf verraten hat?
Die ersten Sonnenstrahlen finden sich durch die Bäume und tauchen den Wald in ein wunderschönes, goldenes Licht. Mittlerweile habe ich auch meine Jacke wieder ausgezogen, weil mir durch die Bewegung, aber auch durch die Wärme der Sonnenstrahlen, die vereinzelnd durch die Bäume fallen, wärmer geworden ist. Als wir einen Hirsch mitten im Licht sehen, bleiben wir beide stehen und bewundern die Schönheit mit prachtvollem Geweih und wissenden, dunklen Augen. Mucksmäuschenstill verharren wir und beobachten ihn. Nach einer Weile verschwindet er im Dickicht und wir gehen weiter.
Als der Wald nach und nach sich lichtet, höre ich ein Brummen in der Ferne. Angelina zuckt mit den Schultern und ich gehe ein paar Schritte in die Richtung, immer darauf bedacht, hinter Bäumen und Sträuchern versteckt zu bleiben. Auf einer Waldstraße erkenne ich einen Transporter, der in die Richtung fährt, aus der wir gekommen sind. Ich kann nicht genau erkennen, was er transportiert, aber ich will nicht noch näher herangehen, da ich darauf bedacht bin, unbemerkt zu bleiben. Angelina neben mir schaut mit zusammengekniffenen Augen zu dem Transporter.
»Er fährt genau in die Richtung, aus der wir gekommen sind«, flüstert sie. Sie scheint die gleichen Befürchtungen wie ich zu haben. In dieser Richtung liegt nichts außer unserem Dorf. Die nächste Stadt vom Regime liegt in der Richtung viel weiter entfernt und man kommt dort mit einer Autobahn schneller hin. Die einzige Möglichkeit wäre, dass der Transporter die Mülldeponie als Ziel hat, aber es ist kein typischer Müllwagen, wie meine Mutter sie mir beschrieben hat.
»Wenn der Transporter unser Dorf als Ziel hat ...«, beginnt Angelina, als er außer Sichtweite ist und wir wieder Richtung Stadt laufen.
»Sollten wir zum Dorf zurück und das Dorf warnen?«, frage ich, aber Angelina schüttelt den Kopf. »Das würde nichts bringen und vielleicht ziehen wir dadurch durch Zufall oder Dummheit auch noch Aufmerksamkeit auf uns. Aber wir können Gregor auf seinen Computer eine Nachricht zukommen lassen. Zumindest bei einem bin ich mir sicher: Es ist kein Kampftransporter, das heißt, was auch immer da drin ist, es ist nicht unmittelbar auf die Zerstörung unseres Dorfes ausgerichtet.«
Das sind doch mal beruhigende Neuigkeiten.
Bei dem alten Olympiastadion, welches fast vollständig eine Ruine ist, trennen sich unsere Wege. Ich hole mein Handy hervor und schreibe Zoey und Lewis, dass ich da bin und wo wir uns treffen können. Dann hocke ich mich auf eine alte Mauer und warte. Viel kann ich eh nicht machen, da ich einfach nicht weiß, wo ich in der Stadt bin. Dieser Teil ist auf jeden Fall sehr verlassen und nur einige Gestalten sehe ich auf den Straßen, die mir aber keinerlei Beachtung schenken. Die Sonne ist von Wolken bedeckt und so erstreckt sich vor mir ein recht ernüchternes Bild - kein Licht, welches die Umgebung hätte schöner aussehen lassen. Leerstehend sind die meisten Häuser auch. Hier ist eigentlich der perfekte Ort für Verstecke der Rebellen.
Oder für Verstecke für Verbrecher. Bei dem Gedanken daran läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich bilde mir ein, ich hätte hinter mir etwas knirschen hören. Und dann ein Quietschen. Ich schaue mich um, sehe aber niemanden.
Als ich wieder nach vorne schaue, sehe ich ganz am Ende der Straße eine Bewegung. Irgendein Instinkt bringt mich dazu, hinter die Mauer zu klettern. Dann luge ich über die Kante und schaue wieder die Straße nach unten. Tatsächlich erkenne ich eine Gruppe von Menschen. Um genauer zu sein - Polizisten in Tarnfarben. Sie laufen eine Weile die Straße herunter und teilen sich dann auf. Verschwinden hinter den Bäumen, in den Ruinen. Nur ab und zu blitzen ein paar Tarnfarben vor grauer Wand auf, die ihre Anwesenheit verraten. Was machen die da ...?
»Jeder Massenmörder hätte dir von hinten ein Messer in den Rücken stechen können und du hättest es nicht bemerkt«, sagt plötzlich eine Stimme hinter mir und ich zucke zusammen.
»Lewis«, stoße ich aus und atme durch. »Menschenskinder, ich hätte mich gerade fast zu Tode erschreckt.«
»Ich sag doch - Massenmörder.« Er grinst verschmitzt. »Komm, was für ein Zufall, dass du direkt hier gelandet bist. Das alte Olympiastadion ist nämlich eines unser Verstecke und es ist das, was wir gerade zum Hauptquartier umfunktioniert haben.«
Als ich mich nicht vom Fleck bewege, schaut er mich besorgt an.
»Was ist? Bist du enttäuscht, dass das Olympiastadion nicht mehr für Spiele benutzt wird?«
»Nein, ich glaube eher, das wir ganz schnell von hier verschwinden sollten. Sonst gibt es nur ein Spiel - und zwar ein leichtes Spiel für Penthesilea.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro