2. gemähter Grashalm
Die Zeit bei meinen Eltern war schrecklich, wie immer. Ihre Art und Kontrolle trieben mich in den Wahnsinn. Sie waren einfach so komplett anders als ich, hatten es im Gegensatz zu mir aber entweder nie bemerkt oder ignorierten es.
Schon das Kaffeetrinken war anstrengend. Meine Eltern wussten immer noch nicht, dass ich alles hingeschmissen hatte, um in einer Band zu spielen, die im Monat maximal zwei Gigs hatte. Und das auch nur, wenn es hochkam. Hätten sie eine unserer Proben gesehen, wären sie vermutlich schreiend davongerannt und hätten mich nie wiedersehen wollen.
Das wäre vielleicht nicht einmal so schlimm gewesen, aber sie waren trotzdem meine Eltern. Das Problem mit ihnen war, dass sie so scheiße verbohrt waren. Leistung bedeutete ihnen alles und meine Liebe zur Musik würden sie nur so lange akzeptieren, wie ich darin sehr erfolgreich war. Andernfalls war Musik für sie bloß eine bedeutungslose Branche, in der ihnen zu viele Drogenabhängige waren, als dass sie sie schätzen konnten. Meine große Schwester war genauso, mein großer Bruder war immerhin normal, aber leider weit weg. Er lebte jetzt schon seit fünf Jahren in Australien, wo er inzwischen geheiratet hatte. Nachdem er gegangen war, sah ich ihn nicht ein einziges Mal wieder. Er arbeitete als Meeresbiologe, was laut meinen Eltern ein nicht zukunftsfähiger Beruf war. Irgendwann hatte es ihm gereicht mit den Vorwürfen und er wanderte aus. Bevor er gegangen war, hatte er zu meinem damals vierzehnjährigen Ich gesagt: „Mach einfach das, was du willst, ansonsten wirst du irgendwann genauso verbittert sein wie sie. Ich glaub an dich, Ben."
Diese Worte würden für immer in meinem Kopf bleiben und waren oft das, was mir die Kraft gab, nicht aufzugeben. Wenigstens ein Mensch auf dieser Welt glaubte an mich und unterstützte mich so, wie ich war.
Ganz im Gegensatz zu meiner Familie, mit der ich nun seit über zwei Stunden an einem Tisch saß und Konversation halten musste. Es war so furchtbar, dass ich es nicht einmal wirklich beschreiben konnte. Alle starrten sie mich mit diesen grünen, neugierigen Augen an, die auch ich geerbt hatte – unsere einzige Gemeinsamkeit - und wollten so ziemlich alles aus meinem Leben wissen.
Zu allem Überfluss hatte meine Mutter auch noch meine Ex eingeladen, denn sie war der festen Überzeugung, sie würde mir guttun. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wären wir inzwischen vermutlich verlobt und würden beide ein Studium absolvieren, das uns später einmal steinreich machen würde. So war es allerdings nicht. Denn was meine Mutter nicht wusste, war, dass ich sie, eine Woche bevor ich nach Auckland gegangen war, mit Jason, einem Typen aus meiner Schule, erwischt hatte.
Das öffnete mir die Augen und ich hatte sofort mit ihr Schluss gemacht und beschlossen, nie wieder mit so jemandem Verwöhnten wie ihr, zusammen zu sein.
Sie hatte das definitiv begriffen, da war ich mir sicher, aber dennoch saß sie jetzt da und verschlang mich fast mit ihren Blicken. Scheiße, ich konnte nicht noch eine Amalia gebrauchen. Eine reichte vollkommen.
„Und Bennet, wie läuft es denn so mit dem Studium. Bist du immer noch der beste Pianist der Uni?", fragte meine Mutter neugierig und bewies einmal mehr, warum ich mein Zuhause nicht ausstehen konnte.
„Nicht mehr ganz. Da ist dieser Chinese, der toppt uns alle", log ich und versuchte nicht mal so zu tun, als würde mich das groß stören. So sehr musste ich dann auch nicht übertreiben.
„Dann musst du wohl wieder mehr üben, Bennet. Du darfst dir keine Durchhänger erlauben", befahl mir nun mein Vater und ich nickte nur gequält. Wie hielten sie es nur selbst aus, so zu sein? Das musste einem doch auf Dauer total auf den Sack gehen.
Meine ganze Familie starrte mich vorwurfsvoll an und als ich gerade kurz davor war, aufzuspringen und ihnen alles zu erzählen, weil es mich so nervte, sagte meine Exfreundin etwas: „Bennet schafft das schon. Gemeinsam schaffen wir das."
Diese Worte brachten das Fass zum Überlaufen. Ich rastete ein klein wenig aus. Naja, jedenfalls fing ich an zu schreien: „Verdammt! Wir schaffen gar nichts gemeinsam. Wir. Sind. Verdammt. Nochmal. Kein. Paar. Mehr. Und wir werden es auch nie wieder sein!"
„Bennet, das reicht, du gehst jetzt glaube ich besser", schaltete sich meine Mutter ein. „Was fällt dir ein, so mit Mallory zu reden?"
„Hm, frag sie vielleicht mal, was ihr einfiel, sich von mir mit 'nem anderen erwischen zu lassen!", schrie ich und verschwand dann so schnell ich konnte. Die geschockten Blicke meiner Familie spürte ich deutlich im Rücken, doch ich ignorierte sie. Ich wollte einfach nur weg von hier.
„Das denkt er sich doch nur aus", hörte ich meine Schwester schließlich stammeln, bevor ich die Tür zu schlug.
Genau, es war alles Einbildung. Es passierte schließlich so schnell, dass ich mir einbildete, meine Freundin mit einem anderen im Bett zu sehen. Konnte jedem mal passieren. Und es war auch total seltsam, dann so zu reagieren, wie ich es getan hatte. Mensch, wie ich meine Schwester in diesem Moment hasste.
Immer noch rauchend vor Wut stieg ich in meinen Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen weg von dem mir verhassten Haus.
Mein alter Wagen steuerte durch die kleinen Sträßchen, die seitlich überall von Bäumen gesäumt waren, auf die ich als Kind so oft mit meinen Freunden geklettert war. Freunde, von denen fast keiner mehr hier war. Wie ich, waren sie alle in größere Städte gegangen, um zu studieren oder sonst was zu tun.
Aber eins war sicher, sie waren mit dem, was sie taten, alle erfolgreicher als ich.
Wenige Minuten später war ich auch schon aus meinem Heimatort herausgefahren und bog auf den State Highway ein, der mich nach Auckland bringen würde. Als ich den Grünstreifen sah, musste ich wieder an das Mädchen denken, dass ich vor einigen Stunde dort liegen sah und das mich so fasziniert hatte. Neugierig fuhr ich ein wenig langsamer - es war sowieso niemand auf der Straße - und sah nach, ob sie noch dort war. Tatsächlich. Sie lag genauso da, wie vor ein paar Stunden. Ihre Hände umklammerten immer noch die Grashalme und die Augen waren geschlossen. Ihr Gesicht wirkte nun allerdings angespannter als vorhin. Ob sie gemerkt hatte, dass es bald zu kalt war, um noch länger hier zu liegen?
Ich fragte mich, was sie überhaupt noch hier wollte und bevor ich groß darüber nachdachte, hielt ich meinen Wagen an und stieg aus.
„He, du!", rief ich. Sie reagierte nicht. Ihre Hände zuckten nicht einmal.
„He! Du da, im Gras", rief ich erneut und sah, wie ihre Finger sich bewegten. Langsam ließen sie das Gras los, als würde es ihr Schmerzen bereiten und schließlich öffnete sie auch ihre Augen.
„Ist dir nicht kalt? Soll ich dich ein Stück mitnehmen? Wo musst du überhaupt hin?"
Ich stellte ihr vermutlich viel zu viele Fragen, denn sie sah mich nur erstaunt an und schien nicht zu wissen, was ich ausgerechnet von ihr wollte. Hm, wenn ich das selbst gewusst hätte, hätte ich es ihr vielleicht sagen können.
„Da kommt doch bald ein Bus", murmelte sie schließlich. „Mit dem komme ich schon heim."
„Der kam vor genau einer halben Stunde." Ich sah auf meine Uhr. Den Busfahrplan kannte ich selbst nach zwei Jahren noch auswendig. Ich war ziemlich sicher, dass er sich seitdem nicht geändert hatte. Die Busverbindung nach Auckland war ziemlich scheiße und es fuhr maximal alle zwei Stunden ein Bus.
„Was? Echt?"
Ihre blauen Augen weiteten sich erschrocken. „Wie viel Uhr ist es denn?"
„Zwanzig vor sechs."
„Mist." Sie fluchte und stand nun aus dem Gras auf. Im Stehen fiel mir auf, dass sie fast so groß war wie ich. Höchstens vier, fünf Zentimeter kleiner, wenn überhaupt.
„Soll ich dich jetzt mitnehmen?", fragte ich noch einmal.
„Wenn es dir nichts ausmacht", begann sie vorsichtig.
„Natürlich nicht. Musst du direkt nach Auckland?"
Ich lächelte sie vorsichtig an und sehr zu meinem Erstaunen lächelte sie schüchtern zurück.
„Ja, muss ich. Leider."
Ich überhörte das leider - unsicher, ob ich wissen wollte, was dahintersteckte und lief auf mein Auto zu.
„Na, dann komm", rief ich und hielt die Tür meines weißen Trucks auf.
Das Mädchen kletterte in mein Auto und kaum war sie drin, schlug ich die Tür zu und stieg auf meiner Seite ein. In der ganzen Zeit, die ich gestanden hatte, war nicht ein Auto vorbeigefahren und so würde es auch keinen Ärger geben, weil ich einfach mitten auf der Straße stehen geblieben war.
Ich startete meinen Wagen und fuhr los.
„Wie heißt du überhaupt?", fragte ich sie, kaum waren wir ein paar Meter auf der Straße gefahren.
„Alia." Ihre Stimme war verhältnismäßig tief und hatte einen Klang, der mich an Sandpapier erinnerte. Das gefiel mir. Auch die Art, wie sie den Namen aussprach, klang seltsam melodisch.
„Ich bin Bennet", sagte ich, auch wenn sie nicht gefragt hatte, wie ich hieß.
Dann wurde es still im Auto und ich fuhr konzentriert über die Autobahn, die nun immer voller wurde, je näher wir Auckland waren.
„Musik?", fragte ich sie schließlich, um wenigstens etwas zu sagen.
„Hm", antwortete sie schulterzuckend und seufzend legte ich meine aktuelle Lieblingsband ein, um die Stille wenigstens etwas zu verringern.
Man merkte erst in solchen Situationen, wie laut Stille sein konnte. Vor allem dann, wenn man eigentlich gerne eine Unterhaltung führen wollte. Dann erschien einem die Stille drückend und grausam. Die Stille zwischen Alia und mir nahm alles ein und ließ keinen Platz für andere Dinge. Selbst die Musik schien das nicht ändern zu können.
Die Stille im Auto hielt die ganze Zeit über an, während ich durch die inzwischen immer dunkler werdenden Straßen fuhr. Das Mädchen neben mir saß angespannt auf dem Autositz und starrte gebannt auf die Straße. Ihre Augen bewegten sich keinen Millimeter in meine Richtung, im Gegensatz zu meinen. Eigentlich sollte es andersrum sein. Ich sollte mich permanent auf die Straße konzentrieren und sie sollte ab und zu mal zu mir herüber spicken, um zu schauen, wer sie da eigentlich fuhr. Schließlich war ich ein für sie vollkommen Fremder, der sie einfach mal so nach Auckland mitnahm.
Sie tat allerdings nichts. Sie saß einfach nur da, das Gesicht angespannt und der ganze Rest ihres Körpers auch. Noch nie hatte ich eine Hand gesehen, die sich so fest in etwas krallte. Vorher hatte ihr Gesicht noch so entspannt ausgesehen, doch nun wirkte es total verkrampft und sie machte den Eindruck, als wolle sie jeden Moment aufspringen und losrennen.
Obwohl mich diese Anspannung und das Schweigen beinahe verrückt machten, behielt ich meine Ruhe - zumindest äußerlich - und fuhr weiter konzentriert über den State Highway nach Auckland. Wir waren schon näher an der großen Stadt, die sich inzwischen meine Heimat nannte, als an meinem alten Zuhause. So langsam verflüchtigte sich endlich dieses komische Gefühl in meinem Magen, das der Besuch bei meinen Ursprüngen verursacht hatte.
Die Musik von Rise Against lief immer noch, doch im Gegensatz zu sonst konnte ich sie nicht genießen. Sie passte einfach nicht in diese Stille. Sie versuchte zwar krampfhaft, sie zu durchbrechen, aber dazu war selbst Rise Against nicht fähig. In diesem schwarzen Loch an unausgesprochenen Worten, klangen die Töne der Musik schräg und die Melodien unmelodisch.
Schließlich beschloss ich die Musik auszumachen und ein Gespräch mit Alia anzufangen, ob sie nun wollte oder nicht.
„Was hattest du eigentlich in Oratia vor?", fragte ich sie, in der Hoffnung, dass sie die Frage tatsächlich beantworten würde.
Ich sah, wie sie sich augenblicklich verkrampfte und in ihren Gedanken zu versinken schien. Sie starrte mehrere Minuten leer vor sich hin, bevor sie mir antwortete.
„Kann dir doch egal sein", murmelte sie und der Klang ihrer Stimme machte allzu deutlich, dass sie definitiv nicht darüber reden wollte. Ich hatte solche Warnungen schon oft genug ignoriert, aber bei Alia hatte ich das Gefühl, dass ich behutsamer vorgehen musste, also drängte ich sie nicht, sondern dachte stattdessen fieberhaft darüber nach, ob es irgendetwas Unverfängliches gab, das ich sie fragen konnte.
„Wo genau in Auckland wohnst du denn?", fiel mir schließlich die rettende und auch logische Frage ein. Ich musste sie ja irgendwo hinfahren und es wäre sinnvoll, sie in die Nähe ihres Zuhauses zu bringen.
„In Devonport", antwortete sie knapp, ohne ihren Blick von der Straße zu wenden.
„In Ordnung, dann bringe ich dich da hin", sagte ich mit einem Seitenblick zu ihr. Sie würde mir ein wenig helfen müssen, denn ich wusste zu wenig über Auckland, um von selbst dorthin zu finden. Ich kannte mich eigentlich nur in der Innenstadt aus, da ich dort auch selbst im Bezirk Eden Terrace lebte. Die Außenbezirke wie Devonport waren mir eher unbekannt.
„Danke."
Überrascht horchte ich auf. Ich glaubte im ersten Moment gar nicht, dass sie das tatsächlich gesagt hatte, aber es war unverkennbar; ihre tiefe, raue Stimme, die das Wort gesprochen hatte.
„Kein Problem", antwortete ich lächelnd und blickte auf die dunkle Straße, die inzwischen ziemlich oft vom Licht eines anderen Autos erhellt wurde. Wir waren schon in den ersten Außenbezirken von Auckland und nun würden wir daran entlangfahren nach Devonport.
„Du wirst mir ein wenig bei der Navigation helfen müssen", sagte ich. „Mein Orientierungssinn ist nicht der tollste und in Devonport war ich, glaube ich, noch nie."
„In Ordnung", sagte sie und nannte mir kurz danach die Reihenfolge, wie wir die Bezirke am besten durchfuhren.
Dankbar lächelte ich sie an und hoffte, dass sie wenigstens das mitbekam. Sie sah zwar immer noch starr aus dem Fenster auf die Straße, aber ich war mir sicher, dass sie sich nicht besonders darauf konzentrierte. Wäre im Dunkeln auch sinnlos gewesen.
Obwohl sie sich unglaublich seltsam verhielt, faszinierte mich dieses Mädchen, das da neben mir saß und so verkrampft wirkte.
Die Stille im Auto hielt zwar weiterhin an, aber immerhin fühlte sie sich nur noch halb so verkrampft an wie davor, was mich enorm erleichterte. Ich konnte nicht sagen, wieso, aber aus irgendeinem Grund war mir das total wichtig. Ich kannte dieses Mädchen praktisch überhaupt nicht und dennoch war es mir wichtig, dass sie mich mochte. Normalerweise war es mir egal, was Menschen von mir dachten doch im Fall Alia, fing das auf einmal an, an Bedeutung zu gewinnen. Das verwirrte mich. Ich dachte nie so. Ich hatte Amalia, mit der ich immer mal wieder in die Kiste sprang, und dann eben noch diverse Mädchen, von denen ich immer dachte, sie wären die Eine für mich. Leider waren sie es nie und so trottete ich eben weiterhin regelmäßig zu Amalia, die es soweit ich mitbekam, nicht störte, dass ich ihr jederzeit jemanden Besseren vorziehen würde. Vorausgesetzt ich fand jemanden. Ob das jemand jetzt komisch fand oder nicht, war mir immer ziemlich egal gewesen, doch nun wollte ich auf keinen Fall, dass sie deswegen vielleicht schlecht von mir denken könnte.
Nach einer relativ langen stillen Fahrt, waren wir schließlich in Devonport angekommen. Fragend sah ich Alia an. Wie es nun wohl weitergehen würde?
„Fahr zum Hafen. Von da aus habe ich es nicht mehr weit", sagte sie und ich gehorchte und lenkte meinen Truck durch die dunklen Straßen. Hier war es viel dunkler als in der Innenstadt, wo zu jeder Tageszeit Lichter brannten und die Straßen nie ganz dunkel werden ließen. Mindestens ein Dämmerlicht gab es dort immer. Außer es fiel mal der Strom aus, dann waren aber alle panisch, weswegen ich hoffte, dass das so schnell nicht passieren würde.
„Da wären wir", verkündete ich und hielt den Wagen kurz vor der Hafenmauer.
„Danke fürs Fahren", sagte Alia und stieg aus meinem Wagen aus. Sie öffnete die Tür und kam mit einem leisen Plumpsen auf dem Boden auf.
„Deine Musik ist übrigens gar nicht so schlecht. Also für Musik."
Dann ging sie davon und ließ mich mit diesen in meinem Kopf nachhallenden Worten alleine. Sie verwirrten mich. Sie hatte nie den Eindruck gemacht, als würde sie meine Musik mögen.
Verwirrt fuhr ich durch die nächtlichen Straßen zu meiner Wohnung zurück. Meine Gedanken allerdings blieben bei Alia am Hafen in Devonport oder wo auch immer sie genau wohnte.
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