43 | Super
Es ist ein Leuchtturm.
Sicherheit, Licht, Wegweiser, Vertrauen.
Es wird mir immer klarer. Gabe hat sich ebenso – wenn auch aus anderen Gründen – auf die Suche nach diesen Dingen gemacht. So wie ich. Vielleicht ahnte er, dass ich begreife. Die Bedeutung des Leuchtturms verstehe. Und mir womöglich leuchtende Augen bringen kann.
»Es ist echt schön«, spreche ich aus, obwohl es das nicht annähernd beschreiben kann.
»Das freut mich.« Er lächelt mir von dort aus entgegen. Gerade möchte ich einen Schritt auf ihn zugehen, da höre ich hinter uns die Tür. Das wird Balou sein. Jap.
»Danke, dass du es mir gezeigt hast«, sage ich ihm, während Balou zu uns herankommt.
»Dann bis morgen, Mo«, verabschiedet er sich. Er sieht etwas nervös aus. Seine Arme hängen unbeholfen an seinem Körper runter und mit seinen Händen scheint er gerade auch nichts anfangen zu können. Skurril, wo wir heute früh noch so intim waren.
»Ja, super. Bis morgen, Gabe.« Ich verhalte mich keinesfalls sicherer. Ich winke mit meiner Hand, obwohl er direkt vor mir steht. Es wäre wahrscheinlich nur mit einem Händeschütteln zu übertreffen.
Balou befreit uns glücklicherweise aus dieser merkwürdigen Situation, indem sie sagt, in welche Richtung wir müssen. Selbstredend ist es die entgegengesetzte von Gabe. Balou erklärt den ungefähren Weg und das wir circa fünfzehn Minuten bräuchten, wir aber noch mal Halt beim Supermarkt machen. Und ob man es nun glaubt oder nicht, aber es soll ausgerechnet der Laden sein. Unwillkürlich sträuben sich mir alle Härchen, nicht nur die sprichwörtlichen Nackenhaare. Na super.
»Was hast du denn?«, fragt sie lachend. Es muss wohl komisch ausgesehen haben, wie ich halb stolpernd nach ihrer Offenbarung daher gelaufen bin.
Nachdem ich sie aufgeklärt habe, meint sie, dass sie nicht lange brauchen wird und ich so lange gerne draußen warten kann, wenn ich das möchte. Das Angebot nehme ich dankend an. Ich weiß nicht, ob ich da jemals wieder hineingehen werde, mit dem Seesack schon gar nicht.
In der Wartezeit vor dem supertollen Markt kreisen meine Gedanken erneut verrückt. Wie wird es sein, wenn ich gleich einfach so mit bei Balou aufkreuze? Ist es normal, dass sie eine Freundin mitbringt? Bin ich eine Freundin – sind wir das? Werde ich von den Eltern ausgefragt? Sieht man es mir an, was ich bin? Muss ich mich erklären? Meine Gedanken werden lauter und wilder, sodass ich nicht mehr still stehen kann. Die Breite der Tür ist mein Feld, eher meine Linie. Ach, keine Ahnung, ist auch egal. Ich tigere auf und ab und komme zu keiner einzigen Antwort auf all meine Fragen. Kann ich einfach nur ›Hallo, ich bin Mo‹ sagen? Werden wir noch essen? Oh mein Gott, muss ich noch irgendetwas dort bestehen?
Immer wieder muss ich Leuten ausweichen, die aus der Tür herauskommen – sie mir wahrscheinlich ebenso, ich bin vermutlich die größere Last hier gerade. Na ja, eigentlich wie immer. Also ganz typisch.
Dann irgendwann kommt endlich Balou heraus. Nach weiteren fünf Gehminuten bleibt sie stehen. »Hier wohne ich.« Sie zeigt hoch zu einem Fenster. »Im dritten Stock. Ohne Aufzug. Es wird sich nach mehr anfühlen, aber hält uns jung«, erklärt sie lachend.
»Soll ich dir was abnehmen?«, frage ich sie, damit sie die Tür unter anderem besser aufschließen kann.
»Das wäre super.« Sie reicht mir eine Einkaufstüte.
Ich komme ein wenig außer Puste oben vor der Wohnungstür an. Bevor sie aufschließt, dreht sie sich zu mir um. »Ach Mo, habe ich voll vergessen.« Ihre Worte werden untypisch für sie leiser. Bedrückt. Es irritiert mich. »Wir müssen leise sein. Nein, nein. Du bist willkommen. Aber ... Erklär ich dir gleich. Okay?«
Ich nicke ihr zu. Was auch sonst?! Flau ist mir dennoch. Als ich meine Schuhe im kleinen Flur ausziehe, sehe ich vier Türen hiervon abgehen. Nur zwei stehen offen. Die eine führt gegenüber der Wohnungstür zum Badezimmer – wenn ich mich nicht täusche, ist es innenliegend –, die andere nach links, ich denke, es ist das Wohnzimmer. Es ist sehr still hier. Auf Balous Kommando hin folge ich ihr nach rechts, zu einem der beiden nebeneinanderliegenden geschlossenen Räume. Aus dem anderen Raum kommt gerade ein lautes Husten. Prompt macht Balou das ›Leise sein‹ Zeichen. Hinter uns schließt sie die Zimmertür direkt wieder und wir schleichen weiter durch diesen – wahrscheinlich ihren – Raum. Es hängen Kunst-Bilder an der Wand, doch ich habe keine Zeit, mir alles genau anzuschauen, da sie eine weitere Tür öffnet, die von hier abgeht. Wahrscheinlich die Abstellkammer.
Krass. Es ist keinesfalls eine Rumpelkammer oder dergleichen, sondern ein richtiges Zimmer – mit einem Fenster und kleinen Bett. Balou schließt auch diese Tür hinter uns.
»Sorry«, sie atmet auf, »meine Ma ist krank, ich wollte sie nicht wecken.« Balou setzt sich auf das Bett. »Sorry, hätte ich vorher sagen sollen.«
»Schon okay. Tut mir leid.«
»Kannst ja nichts dafür. Pa wird bald von der Arbeit kommen. Dann kochen und essen wir. Also, wenn du willst. Ob meine Ma dazu kommt, wird sich zeigen.«
»Okay.«
»Hier kannst du schlafen. Es ist unser Gästezimmer. Momentan kommen viele Verwandte wegen Ma. Also herrscht hier sonst Superbetrieb.«
»Danke.« In einem richtigen Zimmer. Wow. »Und deins ist das hier nebenan?«
»Genau. Ich gucke jetzt mal nach meiner Ma und du kannst ja ein bisschen ausruhen. Wenn du was brauchst, dann sag Bescheid, okay?«
»Okay.« Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Auch wenn Balou nicht viel gesagt hat, sind es super viele Infos. Ihre Mutter ist krank ...
Nachdem Balou den Raum verlassen hat, schaue ich mich befremdlich um, setze meinen Seesack so leise wie möglich ab und mich auf das Bett, springe aber gleich wieder auf, weil es sich nicht richtig anfühlt. Das wird schon. Ich hole meine Tasche zu mir heran und lass mich leise auf den Boden plumpsen. Frische Kleidung krame ich hervor, wobei mir mein Block in die Hände rutscht. Den lasse ich auch gleich draußen liegen.
Wie viel später es ist, weiß ich nicht, aber jemand klopft leise an die Tür. Ich gehe hin, weil ich leise bleiben möchte. Es ist Balou. Sie informiert mich, dass sie und ihr Vater nun kochen. Dann entdeckt sie meinen Klamottenhaufen und befördert mich ins Badezimmer, was ich sehr dankend annehme.
Frisch geduscht stehe ich im Flur und traue mich kaum, ins Wohnzimmer durchzugehen. »Ich schaue mal nach«, höre ich da bereits Balou sagen. Super Timing. Wissend und grinsend schaut sie mich an. Zurückgrinsend zucke ich mit den Schultern. Sie zieht mich an der Hand und zeigt auf einen Platz am Tisch.
Eine Art Nebel legt sich über mich. Zu sehr strengt mich der Ausschnitt ihres Familienlebens an. Die Mutter kommt nicht dazu, der Vater scheint sehr nett zu sein. Ich bin froh, dass ich das Essen vernünftig zu mir nehmen kann, keinen Blödsinn erzähle, dass es so harmonisch verläuft. Vor allem aber, dass ich kein ›Raus!‹ höre.
Erschöpft von den Eindrücken lege ich mich ins Bett. Die Nebelschwaden verflüchtigen sich allmählich. Eine nach der anderen.
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