40 | Verstecken
Seine Arme, sein Oberkörper, es fühlt sich gut an. Auch wenn ich das Gefühl habe, dass es nicht ewig so bleiben wird, dass das nicht möglich ist, so bin ich froh und glücklich darum, dass es jetzt gerade so ist.
Dass ich mein Gesicht hier drin verstecken kann.
Dass meine Tränen nicht im Nichts verschwinden.
Dass ich diese Wärme spüren darf.
Dass ich nicht allein bin.
Dass ich diese Situation mit jemanden überwinden kann.
Dass jemand da ist.
Dass er da ist.
»Hey, guckt mal.«
»Sie ist heute doch auch wieder da.«
»Oh oh.«
Drei junge Stimmen dringen an mein Ohr, die mich von Gabe lösen lassen. Als ich die Rücken der Jungs, wie ich jetzt sehe, erblicke, werde ich jedoch nicht wütend, sondern muss auflachen. Wie sie an uns – mit ihren Inlineskates und insbesondere der eine auf seinem Skateboard – vorbeihuschen. Ja, ja.
Gabe schaut mich verblüfft an. »Kennst du die?«
»Könnte man so sagen, ja.«
Auch dass ich gerade in der Öffentlichkeit in einem meiner intimsten und verletzlichsten Momente gesehen wurde, stört mich komischerweise jetzt zu diesem Augenblick null. Ich finde es einfach zu witzig mit den Jungs.
»Da hast du dir ja schnell einen gewissen Ruf zugelegt«, erwidert Gabe augenbrauenwackelnd.
»Wohl wahr. Aber wenn er einen auch fast umfährt?!«, frage ich rhetorisch. »Selbst Schuld«, ergänze ich achselzuckend und mache dann meinen Zwei-Finger-Augen-Move nach, um es Gabe zu demonstrieren.
»Oha, die armen Bengel!«, ruft er amüsiert aus und hält seine Hand theatralisch ans Herz.
Ja, ja. Natürlich, die kleinen armen, unschuldigen Jungs ... Mmmh. Ist klar.
»Meinst du, wir können?«, fragt er nach einer kleinen Pause. »Also ohne, dass die Jungs sich gleich einmachen?«
Ich weiß gerade nicht, ob ich ihn boxen oder ihm dankbar sein soll – oder einfach beides? Ich gehe einen Schritt auf ihn zu, woraufhin er mir zulächelt, was ich erwidere. Als ich nah genug an ihm stehe, hebe ich meine Hand und ... boxe ihn. Aber nur leicht.
»Wofür war das denn jetzt?« Übertrieben dramatisch reibt er sich über den Arm.
»Das weißt du auch so«, antworte ich ihm grinsend. »Danke.«
»Ach, das ist also deine Art, mir das zu zeigen. Ich verstehe«, fährt er fort.
»Baggy?!« Bevor ich den Zeigefinger richtig auf ihn zeigen kann, hebt er beschwichtigend seine Arme.
»Okay.«
»Okay.«
»Also wollen wir?«
Ob wollen ... Keine Ahnung. Ich bemerke mal wieder, wie oft ich keine Ahnung habe, aber wir machen uns auf den Weg. Die letzten Meter bis zum Hintereingang – an den kichernden Jungs vorbei –, um in den Jugendtreff zu gelangen. Gabe geht zu Balou nach hinten durch, die wohl etwas im offenen Bereich zu erledigen hat – oder sie haben sich dort verabredet, damit er sich ihr erklären kann ... Ich gehe in den Saal. Dort werde ich von Dilara, Bene und Flynn freudestrahlend empfangen. Sie kommen auf mich zu und drücken mich an sich. Nur kurz darauf folgen Gabe und Balou. Sie kommt auch zu mir und drückt mich fest an sich. »Ist alles gut bei dir?« Ich nicke an ihre Schulter. »Gut.« Sie löst die Umarmung, lächelt mich an und wendet sich dann an alle. »Was haben wir heute vor?«
»Ich habe etwas«, melde ich mich zu Wort.
»Ja, na klar. Schieß los«, freut sie sich.
»Können wir uns bitte alle setzen?«, flehe ich sie alle beinahe an. »Ich möchte euch etwas sagen.«
Im Stehen fühlt es sich falsch an und ich habe keine Ahnung – da ist es schon wieder –, wie lange meine Beine mich tragen würden. Sie schauen mich sorgenvoll an, kommen aber meiner Bitte ohne weitere Fragen nach, wofür ich ihnen echt dankbar bin.
Mit dem Rücken zum Spiegel setze ich mich zu ihnen in den Kreis. »Ich würde euch gerne etwas erzählen oder vielmehr erklären. Von euch habe ich gelernt, dass jeder seine Geschichte hat. Noch kenne ich nicht jede eure Geschichte, was vollkommen in Ordnung ist. Genauso kann ich euch nicht meine gesamte Geschichte auf einmal darlegen. Das kann ich nicht. Es ist zu viel.«
Ich mache eine Pause, ich brauche sie. Rechts von mir sitzt Gabe. Ich bin froh, dass er neben mir ist. Er hat seine eine Hand locker in meine Richtung hingelegt, sodass ich sie wahrscheinlich greifen könnte, wenn ich wollte, doch das kommt mir falsch vor. Aber allein das Angebot schenkt mir gerade ein Lächeln und dazu auch Kraft.
»Das ist doch okay, Mo. Du musst gar nichts erzählen«, antwortet Bene und die anderen stimmen ihm zu. Balou schaut zu Gabe und versucht herauszufinden, ob sie ihm eine donnern soll oder nicht. So kommt es mir zumindest vor.
»Doch. Also nein und ja. Natürlich muss ich nicht, aber irgendwie auch schon. Ich möchte mit euch tanzen. Sehr gerne sogar.« Ich senke meinen Kopf. »Doch in einer Gruppe sollte man vertrauen können. Und dazu gehört Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Es ist nicht so, dass ich bisher gelogen habe, aber ich habe einiges nicht erzählt, mich eher versteckt. So möchte ich nicht weitermachen. Das wäre für mich nicht gut, und auch für euch nicht. Es würde sich falsch anfühlen.«
Ich schaue etwas hoch nach rechts, Gabe schenkt mir einen ermutigenden Blick, wobei er mir zunickt. Okay. Ich atme tief durch. Dann schaue ich zur Saaltür, nicht, dass jetzt gerade dort ein Mitarbeiter oder so steht.
»Momentan habe ich kein Zuhause. Seit Dienstag. Ich bin gewissermaßen auf der Flucht, mich am Verstecken. Aber eigentlich auch nicht mehr. Ich werde mich der Jugendhilfe wieder zuwenden. Das war nicht klug von mir. Wann genau, ich muss mir da noch einen Kopf drum machen. Ich habe keine Familie. In dieser Stadt bin ich erst drei Wochen, also auch keine Schule oder Freunde.« Eigentlich Dana. Das dachte ich. Aber auch sie kann nichts für ihre Eltern.
»Doch, du hast uns«, entgegnet Balou, und als ich sie anschaue, sehe ich schimmernde Augen.
»Krasser Scheiß«, meint Dilara, die seitlich auf dem Boden liegt.
»Tut mir leid, ich wollte euch nirgends mit rein–«
»Nein«, unterbricht sie mich. »Du hast ja ganz schön was drauf, bist stark – das meinte ich«, erklärt sie.
»Also du und Gabe?«, hakt Flynn nach.
»Was?«, rufe ich aus.
»Das ist das Einzige, was dir einfällt, ja?«, fragt Gabe nach.
»Okay, ich verstehe«, erwidert Flynn zwinkernd. »Aber hey zu dem anderen: Es steht doch nichts für Mo im Wege mit unserer Tanzgruppe oder?«
»Sie ist minderjährig und wir befinden uns in einer Jugendhilfeeinrichtung«, druckst Balou herum.
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