
Kapitel 8 | Xander
»Scheiße, scheiße, scheiße.«
Meine Gedanken rasten schneller als der Eurostar durch meinen Kopf und verursachten dabei einen Höllenlärm, bestehend aus Schuldzuweisungen und Verwünschungen, die meine Familienehre in Grund und Boden stapften.
Was hatte ich bloß getan? Ich hatte nur einen Job gehabt und selbst den hatte ich gründlich vermasselt. Oder vielleicht auch nicht?
Die Waffe, mit der ich bis vor wenigen Sekunden noch auf Hamilton – oder besser gesagt in die Luft - geschossen hatte, lag irgendwo im Fußraum und obwohl sie bislang mehr oder weniger das getan hatte, was ich gesagt hatte, bereitete mir die Gewissheit, dass da eine gut geladene Waffe in ihrer Reichweite lag, mächtig Sorge. Darauf zu vertrauen, dass sie nicht bereits ihre blutreiche Flucht plante, wäre fatal gewesen. Immerhin wurde sie wegen des Mordes an ihrer Tante gesucht. Des vermeintlichen Mordes. Ihr Verhalten war rätselhaft. Ich wagte einen raschen Seitenblick.
Claire Lancaster zitterte wie Espenlaub, während der Hund in ihren Armen leise winselte und ihr übers Gesicht leckte. Die Schüsse verklangen und verschmolzen schließlich mit der finsteren Nacht. Es war eine harmonische Nacht, wenn man den Fakt ignorieren konnte, dass wir einen halben Marathon hinter uns hatten und bis eben noch auf uns geschossen worden war. Ich hasste Sport. Und meine untrainierten Muskeln hassten mich. Allein mein rasselnder Atem ließ vermuten, dass ich nicht in Topform war – in der ich, wenn wir ehrlich waren, noch nie gewesen war.
Der Motor bäumte sich auf, doch ich nahm den Fuß nicht vom Gaspedal. Ich wusste nicht, was ich damit versuchte. Einen neuen Rekord für die meisten Verkehrsverstöße in einer Minute aufzustellen vielleicht. Das Risiko, dass Hamilton doch einen Wagen in der Nähe besaß und uns nun verfolgte, wollte ich nicht eingehen.
Mit dem Handrücken wischte ich mir über die schweißüberströmte Stirn. Das war knapp gewesen. Und wir reden hier von einem »Du-wärst-fast-draufgegangen«-knapp. Im Gegensatz zu meinen Warnschüssen in die Luft, hatte Hamilton keine Gnade gezeigt. Es war nur einer Reihe glücklicher Zufälle geschuldet, dass er sein Ziel nicht getroffen hatte.
»Es ist alles gut, Buddy. Wir sind ... vorerst in Sicherheit. Jetzt kann er uns nichts mehr tun«, sprach Lancaster leise und mit heiserer Stimme auf den Hund, Buddy, ein. Ich glaubte, dass sie mit ihren Worten eher sich selbst als Buddy beruhigen wollte. Der saß nämlich seelenruhig auf ihrem Schoß, leckte sich über die Pfoten und sah aus, als hätte er keine Sorgen im Leben.
Das Tempo drosselte ich erst wieder, als wir einige Kilometer hinter uns gebracht hatten und ich sicher war, dass keine Verfolger an unserer Stoßstange hingen. Hamilton dürfte schäumen vor Wut. Seine Handlanger, die seinen Zorn aller Wahrscheinlichkeit nach voll abbekamen, taten mir fast leid. Aber eben nur fast.
»Ich fahr zum Starlight Motel in der Nähe von Heathrow«, informierte ich die junge Frau räuspernd. »Ich hab dort ein Zimmer gebucht. Er wird uns dort nicht finden. Jedenfalls nicht vor morgen früh. Bis dann wird er nämlich brauchen, um den Transporter zu finden. Er hat das Kennzeichen sicher längst gecheckt. Es ist ein Mietwagen«, erzählte ich, weil ich das Gefühl hatte, irgendetwas sagen zu müssen, um die Situation für sie wenigstens halbwegs erträglich zu machen.
Claire nickte stumpf und legte eine Hand an ihren Hals. Aus den Augenwinkeln sah ich Silber aufblitzen und ich vermutete eine Kette dahinter. Buddy rollte sich in ihrem Schoß zu einer Kugel und schloss zufrieden die Augen. Der Wagen holperte über den Asphalt. Je weiter wir uns vom Stadtkern entfernten, desto mehr Schlaglöcher wies die Fahrbahn auf.
»Wer ist er?« Ihre Stimme war in dem Lärm, den der Motor veranstaltete, kaum zu hören.
»Anthony Hamilton. Er und seine Meute haben es auf dich abgesehen.«
Obgleich sich Buddy wohlzufühlen schien, ging von seiner Besitzerin eine unverkennbare und elektrisierende Anspannung aus. Ihr Rücken straffte sich und sie nahm eine eindeutige Kampfhaltung ein. So sehr man in einem zigarettenrauchgetränktem Transporter, der mit 120 Sachen über die M4 raste und keine funktionierende Klimaanlage besaß, eine vernünftige Kampfhaltung einnehmen konnte.
»Und wer bist du?«
Ich hatte mit der Frage schon gerechnet und doch traf sie mich unvorbereitet. Was sagte man einer Fremden, der man noch nie begegnet war, von der man jedoch alles wusste? Angefangen mit Alter, Geburtsdatum, alten Schulzeugnissen und ärztlicher Historie – bis auf ein gebrochenes Bein im Alter von 13 Jahren erfreute sich Claire Lancaster einer beneidenswerten Gesundheit.
»Nicht, dass ich dir nicht dankbar wäre oder so, denn das bin ich! Wirklich außerordentlich dankbar, aber ...« Sie nagte an der Unterlippe. »Ich kenn dich nicht.«
»Du kannst mich Xander nennen.«
»Xander«, wiederholte sie leise. »Ich bin Claire. Woher kennst du G ... ich meine Hamilton?«
Die unübersichtlichen Straßen ersparten mir die Antwort und als ich den Wagen haarscharf in die Kurve legte, wurden wir in die Sitzpolster gepresst. Ein LKW hupte und die Vibration ging mir durch Mark und Bein. Ein Konvoi aus laut heulenden Polizeiwagen raste in die entgegengesetzte Richtung. Bestimmt hatte ein Anwohner wegen der Schüsse Alarm geschlagen. Claire zuckte merklich zusammen und Buddy saß wieder aufrecht.
»Süßer Hund. Wo hast du den aufgegabelt?«
»Buddy. Er hat mich gefunden, als ... als es mir nicht so gut ging.«
Ein Nicken war alles, was ich zustande brachte. Die Stille wurde immer unangenehmer, doch wenig später wünschte ich sie mir zurück. Die Stille gab ihr Zeit zum Nachdenken.
»Du stellst keine Fragen.«
»Hmm?«, machte ich.
»Du stellst gar keine Fragen. Auf mich wurde geschossen und du stellst überhaupt keine Fragen.« Angst schwang in ihren Worten mit, je näher sie der Wahrheit kam. Ein tiefer Seufzer entschlüpfte mir.
»Ich weiß.«
»Wer bist du?« Als würde Buddy die veränderte Stimmung wahrnehmen, begann er in meine Richtung zu knurren.
»Ich möchte dir helfen.«
»Das beantwortet nicht meine Frage. Wer. Bist. Du.« Buddy bellte zustimmend und der Lieferwagen holperte über ein besonders tiefes Schlagloch.
»Mein Name ist Xander. Ich war gerade in der Nähe und ...«
»WER BIST DU?«
Meine Augen suchten nach der Waffe im Fußraum, die verdammt nochmal außerhalb meiner Reichweite lag. Claire folgte meinem Blick und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Oh nein, Freundchen.« Anstatt die Pistole an sich zu nehmen und mich damit zu bedrohen - was mein erster Gedanke war und wohl auch mein letzter gewesen wäre - kickte sie die Waffe in den Frachtraum, sodass auch sie nicht mehr drankam. Allerdings hatte sie Buddy, der mir in diesem Augenblick eine Reihe spitzer Zähne offenbarte. Wunderbar.
»Du hältst jetzt sofort den Wagen an. Ich fahr nicht mit dir mit. Wie bescheuert von mir zu denken, ich könnte dir trauen, einem völlig Fremden! Ich muss verrückt gewesen sein.«
»Was?«
»Halt den verdammten Wagen an! Ich werde gehen. Jetzt!«
»Wohin willst du gehen? Wir sind mitten auf der Autobahn. Und du bist verletzt!« Das Blut an ihrem Bein war kaum zu übersehen.
»Das ist mir egal. Ich werde schon einen Weg finden. Ich hab es ja auch bis hierhin geschafft.«
»Ja, mit meiner Hilfe!«
»Das tut hier nichts zur Sache! Nur weil du mir vielleicht mein Leben gerettet hast, heißt das noch lange nicht, dass du einfach über mein Leben bestimmen kannst«, stellte sie klar.
Ich runzelte die Stirn. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dir gerade das Leben gerettet habe. Aber klar, über die Einzelheiten lässt sich natürlich streiten«, antwortete ich sarkastisch. Sie begann mir tierisch auf die Nerven zu gehen.
»Ich werde jetzt aussteigen.«
»Das geht aber nicht! Ich kann dich nicht gehen lassen«, sagte ich und umklammerte das Lenkrad so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten.
»Was heißt >Du kannst nicht<? Halt an!«, verlangte sie stoisch.
»Ganz bestimmt nicht.«
»Warum?«
Mit eiserner Entschlossenheit starrte ich weiter geradeaus, ignorierte die hupenden Autos, an denen wir vorbeirasten und die wild blinkenden gelben Lichter einer Ampelanlage. Die Lichter Londons verschwammen und folgten einem tonlosen Beat. Mein Blut pulsierte in demselben Rhythmus durch meine Adern.
»Ich kann dich nicht einfach gehen lassen, weil ich ... weil ich praktisch einer von ihnen bin.«
Es zischte, als sie scharf Luft nahm, ihre Hand umklammerte ihren Hals, so als bekäme sie keine Luft. Und ich Vollidiot war drauf und dran es noch schlimmer zu machen. Innerlich wappnete ich mich auf die folgende Unterhaltung und das schlechte Gewissen, das längst über meine Arme kroch. Zu sehen, wie sie vor mir zurückwich, gab mir den Rest.
»Ich habe den Auftrag, dich auszuliefern.«
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