Kapitel 6 | Xander
Sie zu finden war beängstigend einfach gewesen. Es hatte mich nicht einmal eine Stunde am Computer gekostet, um mich in Überwachungskameras, Blitzer und Dashcams zu hacken und somit ihren ungefähren Standort zu erfahren.
Ich hatte das alte Foto von ihr in Sportkleidung und mit goldenem Pokal durch ein Programm laufen lassen, dass sie natürlich altern ließ. Dieses entstandene Bild hatte ich dann in mein Suchsystem eingespeist, das binnen weniger Minuten dutzende Ergebnisse ausgespuckt hatte.
Nachmittags war sie oft in der Nähe eines Parks aufgezeichnet worden, wo sie mit einem Hund gespielt hatte. Das ließ vermuten, dass sie irgendwo in der Nähe einen Unterschlupf gefunden hatte. Dort gab es mehrere leerstehende Fabrikgebäude und Lagerhallen. Kein übles Versteck, wenn man sich in der Gegend auskannte. Sollte man doch entdeckt werden, konnte man in den verwinkelten Gassen schnell untertauchen.
Flüchtig hatte ich an mir selbst gezweifelt, weil es so verdammt einfach gewesen war. Ein Anthony Hamilton besaß doch sicherlich modernere Mittel als einen fünf Jahre alten Laptop mit Marvel-Stickern, gegen dessen Bildschirm man alle paar Minuten sanft schlagen musste, damit er vernünftig lief. Doch da er weder Veit noch mir unter die Nase gerieben hatte, dass er Lancaster gefunden und zurück in die USA verfrachtet hatte, war die einzige Schlussfolgerung, dass er sie noch nicht gefunden hatte.
Das ist die leichteste verdiente halbe Million meines Lebens, dachte ich, nicht ohne eine Spur von Mitleid für das Mädchen, das ich den Wölfen zum Fraß vorwerfen sollte. Jedenfalls wären sie es gewesen, wäre ich nicht so verdammt naiv gewesen. Hamilton, dieser verdammte Mistkerl, hatte mir einen Peilsender untergejubelt und ich hätte es von Anfang an wissen müssen. Er – oder besser gesagt Ivan – hatte ihn an meiner Jacke befestigt, als er sie samt meinem Rucksack in der Gepäckablage verstaut hatte.
Dass Hamilton mit allen Tricks arbeitete – und damit auch unlautere Mittel nicht ausschloss -, war mir bewusst gewesen, nur hatte ich nicht gedacht, dass er sie gegen mich einsetzen würde. Es war wohl mehr eine reine Vorsichtsmaßnahme als die richtige Angst, dass ich sie finden würde, die ihn dazu veranlasst hatte, mich mit dem kleinen unscheinbaren schwarzen Knopf auszustatten, der mir wohl entgangen wäre, hätte er nicht so verflucht gekratzt. Dumm nur, dass ich ihn erst gefunden hatte, als ich mein Ziel fast erreicht hatte. Der kleine Peilsender hatte ihm nicht nur verraten, wo ich gerade war, sondern auch wo sie war. Oder wo ich sie laut meiner Recherchen vermutete. Wutentbrannt schmiss ich den Peilsender in den nächsten Mülleimer.
»Du Idiot Cascone. Du verdammter Idiot«, schalt ich mich selbst.
Vielleicht war das von Anfang an sein Plan gewesen: Mich so aufzuhetzen, dass ich alles daransetzen würde, Claire Lancaster zu finden, und mich die ganze Drecksarbeit machen lassen. So leicht war sein Job wahrscheinlich noch nie gewesen.
Ich platzierte mich in einer Gasse unweit der Straße in einer Nische und tat das, wofür ich hergekommen war. Warten. Meine Auswertungen hatten ergeben, dass sie in den letzten drei Tagen um etwa sechs Uhr an dieser Ecke vorbeikam und ich hoffte, dass sie nicht Lunte gerochen und ihre Gewohnheiten geändert hatte. Ich ärgerte mich über mich selbst und Anthony Hamilton. Ich hatte ihn unterschätzt. Nicht, was sein Können im Allgemeinen anging. Ich wusste schließlich, dass er knallhart war. Ehe er überhaupt kein Kopfgeld kassierte, kassierte er es lieber für einen Toten. Vermutlich besser als leer auszugehen.
Frustriert lehnte ich meinen Kopf an die Steinwand und stöhnte. In was für einer vertrackten Situation war ich da bloß gelandet? Jetzt gab es für mich nichts anderes zu tun als zu warten und zu hoffen, dass ich recht behielt.
Ich musste nicht lange warten, doch das Bild, das sich mir bot, war ein ganz anderes als ich mir in meinen kühnsten Albträumen vorstellen könnte.
Sie sah anders aus, erwachsener, doch es war nicht die Art von natürlichem Erwachsenwerden, die ihr ins Gesicht geschrieben stand. Ihre gefurchte Stirn und der strenge Zug um ihre Lippen zeigten, dass sie schlagartig erwachsen werden musste. Vielleicht nach dem Tod ihrer Tante. Dem Mord, meintest du wohl.
Ein kalter Schauer erfasste mich. Hamilton hatte sie tatsächlich vor mir gefasst. Und ich allein war schuld daran. Hätte ich es ihm doch bloß nicht so verdammt leicht gemacht! Sie hatten sie auf der anderen Straßenseite gestellt und drängten sie an eine Hauswand. Sie sprachen miteinander, doch ich hörte leider nicht, was sie sagten und herübergehen konnte ich auch nicht.
»Fuck.« Der Fluch war raus, ehe ich mich unter Kontrolle hatte.
Ich konnte ihn nicht einfach so gewinnen lassen. Ich musste einen Weg finden, Lancaster zu befreien, um sie dann selbst einzufangen. Das klang ja mal so gar nicht unmöglich.
Ein Keuchen entwich mir als die Schreie auf der anderen Straßenseite meine Gedanken auf die Gegenwart richteten. Ein anerkennender Pfiff stieß zwischen meinen kalten Lippen hervor. Sie war besser als ich dachte, oder hatte einfach nur ein unheimliches Glück. Wie der Zufall so wollte, hatten die drei Hünen sie genau an den Nebenausgang eines Restaurants gedrängt. Die Tür war aufgegangen und Claire Lancaster war hindurchgeschlüpft, dicht gefolgt von Hamilton und seinen Bodyguards.
Unwillkürlich musste ich lachen. Wenn das Veit wüsste, er würde es Anthony auf ewig vorhalten. Hoffentlich würde er dadurch endlich sein arrogantes Grinsen verlieren. Mein Rücken straffte sich und ich behielt die Umgebung im Auge. Ein Knall ertönte. Das war ein Schuss. Gelähmt hielt ich die Luft an. Hatte der Schuss ihr gegolten? Und die noch viel wichtigere Frage: Hatte die Kugel ihr Ziel gefunden?
Kurz darauf stürzte sie aus dem Haupteingang. Sie schien nicht verletzt zu sein und ich musste mir eingestehen, dass ich darüber erleichtert war. Offenbar hatte sie ihre Verfolger abschütteln können. Das Mädchen rannte kopflos auf die andere Seite, genau in die Richtung, in der ich mich versteckt hielt. Keuchend und dicht gefolgt von dem Jack Russel Terrier, den ich auf den Überwachungsaufnahmen gesehen hatte, ging sie kaum zehn Meter neben mir zu Boden und verbarg sich hinter einer Mülltonne.
Keine Sekunde zu spät, denn da tauchte auch Hamilton wieder auf. Eine Waffe im Anschlag. Automatisch suchten auch meine Finger nach dem Griff der Glock 19 an meinem Holster. Das Schießen auf dem Schießstand, abgeschieden von jeglicher Zivilisation, war eine Sache, aber hier? Zwischen Wohnhäusern und Straßen, an denen tagtäglich tausende Menschen, unschuldige Zivilisten vorbeischlenderten? Meine Hände fingen unwillkürlich an zu zittern.
»Wo ist sie hin? Ich seh sie nicht!«, rief Donkey Kong.
»Ivan geht da lang, Juan dort entlang. Findet dieses verdammte Biest!«, schrie Hamilton und fuchtelte zornerfüllt mit der Schusswaffe.
Mit schweren Schritten polterten sie an der Gasse vorbei, sodass das Regenwasser zu allen Seiten davonspritzte. Hamilton schlug die andere Richtung ein. Ich stieß die angehaltene Luft langsam wieder aus. Was würde sie jetzt tun? Was sollte ich tun? Ich konnte sie festnehmen, hier und jetzt. Ziemlich unspektakulär. Warum tat ich also nichts?
»Ruhig, wir gehen ja schon«, hörte ich sie sagen und ein leicht schabendes Geräusch signalisierte mir, dass sie aufgestanden war.
Ein Knurren ertönte und meine Augen suchten unweigerlich nach dem Verursacher. Mein Magen war es jedenfalls nicht.
Plötzlich sah ich Hamilton rechts neben mir am Ende der Straßenecke auftauchen. Ein schmaler dunkler Schemen, der sich durch die Schatten bewegte, als wäre er eins mit ihnen. Der personalisierte Tod. Und er kam näher. Schlechtes Timing. Verdammt schlechtes Timing. Leider schlug Lancaster genau diese Richtung ein.
Unsicher blickte sie sich um, das Knurren wollte nicht aufhören. Nun wusste ich auch, woher es kam. Es war der kleine Terrier, der stocksteif stehen geblieben war.
Ihr gehetzter Blick machte etwas mit mir und ich konnte nicht dabei zusehen, wie sie geradewegs in ihr Verderben stolperte. Mein Beschützerinstinkt meldete sich mit voller Wucht und mir stellten sich alle Nackenhaare auf. Da hinten lauerte Hamilton auf sie und er würde sie kriegen, wenn sie nur einen weiteren Schritt machte.
»Was ist den los?«, fragte sie den Hund mit verbitterter Stimme.
Ehe ich mich versah, schnellte mein Arm nach vorne und riss sie in die dunkle Nische. Ein erstickter Schrei entwich ihrer Kehle, bevor ich die Hand auf ihren Mund legen konnte.
Mit vor Adrenalin pumpendem Herzen warf ich einen Blick über meine Schulter. Anthony machte mitten in der Bewegung Halt und lauschte in die trügerisch harmonische Abenddämmerung.
Sie versuchte nicht sich zu wehren, sondern verfiel in eine Art Schockstarre. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie mich an. Ich schob sie so weit in die Dunkelheit, dass ihr Rücken bald an die kalte Wand stieß. Ihr Brustkorb hob sich scharf. Der Schatten verdunkelte ihr Gesicht, doch ihre Augen leuchteten wie Sterne. Nein, eine ganze Galaxie.
Ich legte stumm einen Zeigefinger an meine Lippen und hob die andere Hand vorsichtig von ihren Lippen. Sie waren aufgesprungen. Blut klebte an ihrer Wange und an ihren Händen und zunächst konnte ich nicht ausmachen, woher es kam. Ihre Jeans war zerrissen. Sie musste auf dem Weg gestürzt sein und sich das Knie aufgeschlagen haben.
»Wenn du überleben willst, bleib still und rühr dich nicht von der Stelle.« Mein Tonfall hatte etwas Drängendes und gleichzeitig Flehendes an sich.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ich ihr helfen wollte. Das sah ich in ihren Augen. So wenig wie ich damit gerechnet hatte, dass ihr Knie hochschnellte und in einer Gegend landete, die sehr, sehr schmerzhaft war.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro