Kapitel 26 | Xander
Ich drehte den Ring fassungslos in den Händen.
Die ganze Zeit hatte ich nur eine Rolle in dem Spiel meines Vaters gespielt, in dem er die Fäden zog. Er hatte gewollt, dass ich Claire fand, dass ich dem Geheimnis näherkam und dass uns der Hinweis in Paris nach Hathersage führte. Es war alles ein abgekartetes Spiel. Wäre nicht mehrmals auf uns geschossen worden, hätte ich seine Gründe vielleicht verstanden. Ich zweifelte keine Sekunde an seinen Erzählungen.
Mein Leben hatte bereits eine 180-Grad-Wendung hinter sich und nun stellte sich erneut alles auf den Kopf. Ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war.
Claire hatte bei der Erwähnung ihrer Tante und ihrer Mutter leise begonnen zu weinen. Louis streichelte ihr beruhigend über den Rücken.
»Die ganze Zeit. Die ganze Zeit hast du davon gewusst und es nicht für nötig befunden, mir davon zu erzählen? Wir hätten uns diese ganze Reise nach Paris sparen können, hättest du mich von Anfang an eingeweiht«, herrschte ich ihn an.
»Ich weiß, ich habe es dir nicht besonders leicht gemacht. Aber dadurch hast du dich als würdig erwiesen. Ihr alle. Ihr seid es, die den Schatz finden und der Öffentlichkeit übergeben werden, so wie es viele Jahrhunderte lang schon der Plan gewesen ist.«
»Unfassbar«, schnaubte ich und trat einen Schritt auf meinen Vater zu. »Ist dir eigentlich klar, dass man auf sie geschossen hat? Mehr als einmal?«
»Und du hast jede Hürde hervorragend gemeistert. Ich könnte nicht stolzer sein.«
»Du wolltest mich besser vorbereiten, als Großvater es bei dir getan hat, dabei hast du mich ebenso den Haien zum Fraß vorgeworfen wie er dich!«, schrie ich. Dad senkte den Kopf und ich sah etwas wie Schulbewusstsein in seiner Haltung.
»Ich habe es verdient, so behandelt zu werden. Und es tut mir leid.«
Mit so einer schnellen Einsicht hatte ich nicht gerechnet. Meine Wut verpuffte in der Luft. Claire hatte sich so weit gefasst, dass ich ihr den Ring gab. Sie stieß ein anerkennendes Hauchen aus. Dad schmunzelte.
»Du siehst ihr unglaublich ähnlich«, sagte er und in ihre Augen glänzten von neuem.
»Du weißt also, wo der Schatz liegt?«, fragte ich schnell und meine Schultern sanken enttäuscht, als er den Kopf schüttelte.
»Nein. Wir sind den Hinweisen nie nachgegangen. Wir wussten, dass Ring und Kette maßgeblich zum Fund beitragen würden, wagten es aber nicht, der Spur nachzugehen. Es war noch nicht an der Zeit für ein solchen Vermächtnisses.«
»Und jetzt ist es an der Zeit?«
Dad lächelte melancholisch und bückte sie zu Buddy, um ihn am Bauch zu kraulen. Verräter.
»Die Welt ist ein unglaublich schnelllebiger Ort geworden. Eine Sensation von heute, ist morgen schon Geschichte. Wer sind wir, zu entscheiden, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist? Wir haben die Verantwortung schon zu lange vor uns hergeschoben.«
»Xander!« Claires verblüffter Ausruf ließ mich zu ihr herumfahren.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Du musst dir das ansehen.« Louis hielt etwas in den Hände, eine schmale Rolle Pergament, wie es aussah. »Es ist einfach so hinausgefallen«, stockte er. Unwirsch entnahm Claire ihm das Schriftstück.
»Hier, schau. Wir haben den Anhänger benutzt.« Der Anhänger von Claires Kette ließ sich passgenau in den Siegelring einlegen. »Ich hab ihn festgedrückt und da, hat sich das Fach geöffnet.«
Mein Vater war verblüfft nähergetreten.
»Ich wusste nicht, dass es dort war«, hauchte er.
»In Paulus Tamesis,
die Nachtigall in der Stille singt,
von uralter Tradition beschwingt,
ruht des Meisters Vermächtnis«, las ich vor.
»Noch ein Rätsel, ernsthaft?« Claire stöhnte.
»Ich weiß, was das bedeutet!«, rief Louis aufgeregt. »Endlich ein Hinweis, den ich verstehe. Tamesis ist das lateinische Wort für Themse. Paulus meint demnach die St Paul's Kathedrale, die nach dem heiligen Paulus benannt wurde. Wir müssen zurück nach London.«
Mein Vater schlug vor, uns zu fahren, doch wegen der angespannten Stimmung zwischen uns, lehnte ich ab. Ich nahm mir stattdessen Veits schwarzen SUV.
»Solltest du das überleben, wird er dich dafür umbringen«, bemerkte Elijah.
»Dich wird er zuerst drankriegen, weil du es zugelassen hast«, grinste ich süffisant.
»Ja, richtig ...«
»Sorg dich um Buddy. Der Kleine hat in den letzten Tagen ganz schön was mitgemacht.«
Es behagte Claire nicht, ihren Begleiter zurücklassen zu müssen, aber Buddy war nach den letzten Tagen fix und fertig. Deswegen stimmte sie zu, ihn bei meiner Familie zu lassen.
Da ich meine Fahrkünste auf dem Manchester Airport bereits unter Beweis gestellt hatte, fuhr ich die Streck nun in angemessenerem Tempo. Die Fahrt dauerte knapp dreieinhalb Stunden, in der Claire Zeit hatte, ihren Verband zu wechseln und sich auszuruhen. Louis döste vor sich hin. Ich blieb als einziger angespannt. Es war noch nicht vorbei, das spürte ich tief in mir. Mein Bauchgefühl betrog mich selten.
»Ich weiß übrigens auch, wohin wir müssen«, verkündete Louis schließlich mit stolzgeschwellter Brust.
»Zu Florence Nightingale«, erwiderten Claire und ich gleichzeitig.
»Das wusstet ihr?« Sein Lächeln erstarb.
»Die Nachtigall in der Stille singt, von uralter Tradition beschwingt. Die Templer waren Vorbild für viele Bruderschaften, die sich zu geistlichen Ritterorden umformten. Zum Beispiel die Johanniter. Sie haben nicht nur Kranke und Arme gepflegt, sondern auch militärischen Schutz geboten. Das ist mit >uralter Tradition< gemeint. Florence Nightingale war eine Krankenschwester und hat maßgeblich zur Reform der Gesundheitsfürsorge beigetragen. Sie ist in St. Pauls nicht begraben, aber sie hat eine Gedenktafel in der Krypta«, erklärte Claire.
»Das macht überhaupt keinen Spaß, wenn ihr immer schon alles wisst«, beschwerte sich Louis.
Den Rest der Fahrt verbrachten wir in einvernehmlichem Schweigen. Wir mussten etwas weiter weg von der Kathedrale parken und gaben uns Mühe uns von den stark befahrenen und lebhaften Straßen Londons fernzuhalten.
St Paul's Türme erstreckten sich königlich in den Himmel. Das Portal wurde von riesigen Säulen flankiert. Wir erklommen die Stufen mit schnellen Schritten.
Als wir St Paul's unbeschadet betraten, wähnte ich mich bereits in falscher Sicherheit. Niemand schenkte uns Beachtung.
Mein Blick wanderte automatisch in die Höhe. Goldenes Licht empfing uns und ich fühlte mich augenblicklich klein und unbedeutend. Ich kam nicht umhin festzustellen, dass dies schon die zweite Kathedrale war, in der wir in den letzten 24 Stunden etwas Unrechtes taten – oder im Begriff waren, etwas Unrechtes zu tun. Immerhin waren die Tore dieses Mal offen gewesen. Hohe Säulen und kunstvolle Verzierungen schmücken den weitläufigen Raum, der vom Licht durch prächtige barocke Buntglasfenster durchflutet wurde.
Beim Betreten der Krypta stockte mir kurz der Atem. Die gewölbten Decken erstreckten sich majestätisch über unseren Köpfen, während sanftes Licht durch die Fenster fiel. Die Krypta befand sich unterhalb des Hauptaltars und erstreckte sich auf mehreren Ebenen. Um diese Uhrzeit schlenderten nur wenige Besucher durch die Krypta und betrachteten die Gräber berühmter Persönlichkeiten. Das Denkmal von Florence Nightingale fiel mir sofort ins Auge.
Es strahlte eine zeitlose Eleganz aus, gerade weil es zwischen den imposanten Denkmälern anderer Berühmtheiten ungewöhnlich bescheiden wirkte. Das in Marmor gefasste Relief zeigte Florence Nightingale, wie sie sich über einen Patienten beugte. Ich schluckte schwer, als mir die Bedeutung dieses Momentes bewusst wurde. Claire sah angetan über die feinen Gravuren und die dekorativen Marmorsäulen.
»Wunderschön.«
Wir warteten, bis der letzte Besucher diesen Bereich der Krypta verließ und suchten die Gedenktafel systematisch ab. Auf Anhieb konnten wir nichts finden und ich gab einen frustrierten Seufzer von mir.
Claire hielt plötzlich mitten in der Bewegung inne. Sie legte die Hand auf den Stein und wartete. Ihre Augen begannen zu leuchten, so wie ich es schon unzählige Male gesehen hatte und meinen Körper durchströmte ein ungewohntes Gefühl.
»Spürt ihr das?«, fragte sie, Aufregung mischte sich in ihre Stimme. Ich legte meine Hand ebenfalls auf den Stein neben die Gedenktafel. Ein Luftzug strich über meine Haut.
»Ein Hohlraum?«
»Man kann die Gedenktafel zur Seite schieben«, überlegte Louis und versuchte seine Finger unter die Platte zu schieben. Claire und ich taten es ihm gleich. Mit vereinten Kräften schafften wir es.
Das Denkmal der Nachtigall schwang lautlos zur Seite und gab einen steinernen Gang frei.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro