Kapitel 22 | Xander
Mein Schädel pochte und mein Sichtfeld flimmerte. Eine Migräne war im Anmarsch und das konnte ich im Moment überhaupt nicht gebrauchen. Ich fühlte mich ohnehin schon nackt und ungeschützt, weil ich meine Dienstwaffe in der Seine hatte entsorgen müssen. Ich reiste schließlich unter falschem Namen. Im Eurostar hatte ich sie noch mitschmuggeln können, aber in einem betriebsamen Flughafen wie Charles de Gaulle mit all den Sicherheitssystemen, Kameras und Security vor Ort sah das schon anders aus. Ein nebulöses Bewusstsein konnte ich mir nicht auch noch leisten.
Grob zeigte ich der Frau am Terminal unsere Tickets und sie lächelte höflich – dieses Lächeln, dass dem Personal hier ins Gesicht getackert war und selbst mit unfreundlichen Gästen wie mir auskommen ließ.
»Ich wünsche Ihnen eine schöne Reise.« Wir waren die letzten, die in den Airbus Richtung Manchester einstiegen, dementsprechend kühl war die Stimmung, mit der man uns begrüßte.
Eine Flugbegleiterin namens Donna sah so mürrisch aus wie ich mich fühlte.
Es war der erste mögliche Flug nach Manchester gewesen. Draußen war es finster und wir würden um sechs Uhr Ortszeit in Manchester landen. Früh genug, oder bereits zu spät, je nachdem, wo Hamilton uns auflauerte.
Unsere Plätze lagen trotz der späten Buchung nah beieinander. Louis schnappte sich den Einzelplatz am Gang, während Claire und ich auf die beiden nebeneinanderliegenden Plätze eine Reihe weiter rutschten.
Die Flugbegleiterin begann mit der Sicherheitseinweisung und verwies auf die Infobroschüren vor uns, aber ich hörte nicht zu.
Das Flugzeug rollte langsam auf die Startbahn. Louis klammerte sich regelrecht in den Sitz. Panisch kniff er die Augen zusammen. Sein Atem ging stoßweise.
Claire griff über den Gang nach seiner Hand und sprach ihm leise beruhigende Worte zu. Die fürsorgliche Geste ließ mich kurz mit den Augen rollen. Das Flugzeug war noch nicht einmal abgehoben und er stellte sich so an.
Hallo Eifersucht, flüsterte die selbstgefällige Stimme in meinem Kopf, dabei hatte ich doch ganz andere Sorgen. Was hatte meine Familie mit den Templern zu tun? Warum führte uns ein vermeintlicher Hinweis auf jahrhundertealte Artefakte ausgerechnet zu mir nach Hause? Welches Spiel wurde hier wirklich gespielt?
Erst als der Flieger in der Luft war, entspannte Louis sich sichtlich. Er besaß sogar die Frechheit über dem Ärmelkanal einzuschlafen.
Ich hielt immer noch den Zettel von Pont Neuf in den Händen. Öffnete ihn, las ihn, schloss ihn wieder und wiederholte das Prozedere. Als würden sich wie durch Zauberhand die Worte darauf verändern. Und wieder war da dieses taube Gefühl und der Wunsch alles in meiner Umgebung kurz und klein zu schlagen.
»Als das mit meiner Tante passiert ist, habe ich all die Orte abgeklappert, von denen sie mir immer erzählt hat«, flüsterte Claire unvorhergesehen, ein verträumter Ausdruck in den Augen. Überrascht beugte ich mich vor.
»Es klingt blöd und eigentlich sollte ich immer noch sauer auf sie sein, weil sie mich so viele Jahre allein gelassen hat, aber sie hat mir früher immer von all diesen Orten erzählt, da dachte ich ... na ja ...«
»Dass du einfach mal hinfährst?«, schlug ich vor.
»Ich dachte, ich käme ihr dadurch irgendwie näher. Oder könnte sie irgendwie besser verstehen. Sie hat immer die besten Geschichten erzählt und ich wollte diese Magie noch einmal spüren, verstehst du?«
»War es so, wie du es dir erhofft hast?«, fragte ich vorsichtig und merkte, dass ich an ihren Lippen hing. Sie war auch eine gute Geschichtenerzählerin.
»Nicht immer. Edinburgh hat mir gefallen. Und London, obwohl ich dort nie lange bleiben konnte.«
»Ich hab England nie verlassen. Bis auf unseren Tagestrip. Eine echte Premiere«, witzelte ich, doch Claire ging darauf gar nicht ein.
»Das muss schwer gewesen sein. So aufzuwachsen.«
Instinktiv wusste ich, dass sie damit nicht das fehlende Reisen meinte. Ich erwiderte nichts, doch eine mir unbekannte Wärme breitete sich in meinem Magen aus. Das Gefühl verstanden zu werden, war neu für mich.
»Warum erzählst du mir das eigentlich alles?«
Sie grinste spitzbübisch.
»Um dich abzulenken. Hat's funktioniert?«
Verwundert horchte ich in mich hinein. Ich war ruhiger, fast schon entspannt und die Wut auf meine Familie war nur noch ein leichtes Wummern in meinem Hinterkopf.
»Hat funktioniert. Und ... danke«, setzte ich leicht verlegen hinzu.
Aus reiner Gewohnheit zog ich schließlich das Skizzenbuch aus meiner Reisetasche und begann darin zu skizzieren. Claire sah mir unverfroren neugierig dabei zu.
»Du zeichnest?«
Sie nahm mir das Skizzenbuch aus der Hand und blätterte durch die Seiten.
Ich hatte noch nie jemandem meine Zeichnungen gezeigt. In meiner Familie wussten sie natürlich von meinem Hobby, besonders mein Vater und Veit ließen kein gutes Wort daran. Mutter rümpfte lediglich die Nase, wenn ich zum Abendessen deutliche Farbspuren an meinen Händen trug. Cassiopea und Elijah sagten nichts.
Nur Onkel Ennio hatte meinen Wunsch nach etwas Normalität in dieser Familie verstanden. Ich hätte bescheiden sein können, hätte sagen können, dass ich nur nebenbei zeichnete, aber ich wusste, dass ich gut war – vielleicht sogar ein Talent hatte.
»Die sind gut. Wirklich unglaublich.«
Sie sah sich gerade eine Zeichnung an, die ich letzten Sommer gezeichnet hatte. Es zeigte den alten Apfelbaum in unserem Garten in Hathersage Hall. Als Kinder hatten Veit und ich dort unsere Schaukel aufgehängt, die heute immer noch dort hing. Der Anblick meines Zuhauses bereitete mir Bauchschmerzen.
»Danke«, sagte ich dennoch und packte die Kladde weg. Ein Grinsen zupfte an meinen Mundwinkeln. »Und? Hast du wieder vor auf meiner Schulter einzuschlafen?«
»Idiot.« Sie lächelte und das brachte mich vollends aus dem Konzept.
»Ich hätte nichts dagegen«, sagte ich, ehe ich mich selbst davon abhalten konnte. Ein überraschtes Funkeln erhellte ihr Züge.
Mein Herz nahm an Fahrt auf, als sie sich mir zuwandte, den Kopf zu Seite neigte und die Lippen befeuchtete. Ihr Gesicht kam meinem immer näher. Ein dunkler, blauer Sturm wütete um ihre Iriden. Meine Haut kribbelte erwartungsvoll, angespannt und erregt wie Feuer, das über meine Arme wanderte. Und dann war der Moment vorbei.
Ich konnte nicht einordnen, woher es kam, aber ich gab mich beinahe augenblicklich in Habachtstellung. Etwas stimmte nicht.
»Xander?« Sie klang verletzt. So ein Mist. Wir hätten uns beinahe geküsst, und nun sah es für sie so aus, als hätte ich sie abgewiesen. Verdammter Idiot, Cascone!
Nichtsdestotrotz ließ ich die Augen wachsam über die Sitzreihen wandern. Vor mir stritt sich ein Paar, ein Kleinkind quengelte, zwei Reihen weiter schnarchte ein muskulöser Hüne mit Louis um die Wette. Wohin ich auch sah, lag die Aufmerksamkeit der Reisenden entweder auf ihren Smartphones oder auf der Musik aus ihren Kopfhörern. Außer dem streitenden Pärchen unterhielt sich kaum jemand.
In meinem Nacken kribbelte es, so als würd mir mein Körper sagen wollen, dass er beobachtet wurde. Ich kniff die Augen zusammen. Weiter vorne neben dem Zugang zum Cockpit tuschelte die mürrische Donna mit einer jüngeren Flugbegleiterin. Sie sahen aufgewühlt aus. Mehr als das. Die kleine Blonde biss sich auf die Unterlippe und war sichtlich nervös. Da! Ihr Blick huschte zu mir, dann sah sie schnell weg.
Ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, wie ein Stein, der immer größer wurde. Ich schnallte mich ab und streckte meine Arme, als wäre sie vom langen Sitzen ganz verspannt.
Claire musterte mich misstrauisch.
»Gib mir mal das Ladekabel und die Kopfhörer«
Jetzt war ich froh, dass ich meinen Mantel anbehalten hatte. Nach dem Desaster mit Hamilton war ich ein gebranntes Kind. Claire tat, um was ich sie gebeten hatte.
»Was hast du vor?«
»Herausfinden, was vor sich geht.«
Abrupt sah auch Claire sich um und runzelte die Stirn. Sie öffnete den Mund, doch ehe sie zu einer weiteren Frage ansetzen konnte, war ich schon nach hinten zu den Toiletten unterwegs.
Glücklicherweise war die Bordtoilette unbesetzt und ich huschte hinein. Hektisch schloss ich ab. Ich konnte mich kaum bewegen. Wenn ich mich auf den Klodeckel setzte, konnte ich die Tür immer noch mühelos erreichen.
Neben der Tür befand sich ein Display, das den Passagieren die Route des Fluges anzeigte. Wir waren noch zwanzig Minuten von London entfernt. Daneben befand sich ein Klingelknopf für Notfälle und eine Sprechanlage. Wenn jemand Hilfe brauchte, konnte er so direkt mit dem Cockpit verbunden werden. Genau diese Anlage machte ich mir jetzt zunutze.
Ich öffnete den Schrank unter dem Waschbecken, in dem sich allerlei Hygieneartikel befanden und tastete die Seiten ab. Suchend glitten meine Finger über die Schraubköpfe. Einer weiter hinten saß etwas lockerer und ich begann, ihn herauszudrehen.
Die Schraube diente mir als Hebel für das Display, um an die Elektronik dahinter zu kommen. Ich musste schnell sein. Je länger ich brauchte, desto brenzliger könnte die Situation für uns werden, wenn ich die Blicke richtig gedeutet hatte.
Mit geübten Fingern zog ich das Display hervor und fand eine Ansammlung von Kabeln und Leitungen. Am längsten dauerte es fast das Smartphone zu verbinden. Nervös tippte ich mit dem Fuß auf dem Boden.
»Mach schneller«, feuerte ich das Gerät an, bis es schließlich einsatzbereit war. Die Sprechanlage mit dem Handy zu verbinden, war ein Kinderspiel. Schon schallten die Stimmen aus dem Cockpit durch meine Kopfhörer.
»... nicht sicher sind, können wir hier nichts unternehmen. Wie verhalten sie sich?«, fragte eine männliche Stimme, die ich dem Piloten zuordnen konnte.
»Zwei von ihnen sitzen. Einer ist vor drei Minuten auf die Bordtoilette gegangen.« Diese Stimme erkannte ich als die der Flugbegleiterin, die mich so mürrisch angesehen hatte. »Eva ist hinten und behält sie im Auge.«
»Was halten Sie davon, Charlie?« Wieder der Pilot, der offensichtlich seine Copilotin ansprach.
»Ich weiß nicht recht. Wir sollten nichts überstürzen, wenn wir uns nicht sicher sind. Gefälschte Papiere könnten sonst etwas bedeuten. Eine Notlandung halte ich für überflüssig. Soll ich den Tower anfunken?«
»Noch nicht.«
Die Flugbegleiterin hüstelte.
»Gibt es Anzeichen für einen geplanten Anschlag?«
»Einer von den Männern ist direkt nach Start eingeschlafen, aber der andere und die Frau sind die ganze Zeit wach. Sie wirken müde, aber gleichzeitig angespannt. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich davon halten soll, Sir.«
Ich unterdrückte einen Fluch.
»Wir sollten trotzdem Security anfragen. Die können sich dann am Terminal um sie kümmern. Allein wegen der gefälschten Papiere«, meinte Charlie.
»Das wäre wahrscheinlich das Beste«, bestätigte der Pilot. Ich hatte genug gehört. Eilends entfernte ich die Kabel und baute das Display schlampig wieder zusammen. Die Schraube ließ ich im Müll verschwinden. Wenn jemand nicht darauf achte, könnte man meinen, ich wäre nie dagewesen.
Ich wusch mir schnell die Hände und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Vor der Toilette wartete bereits ein älterer Mann, der sich die Hand auf den Magen presste.
»Na endlich«, würgte er hervor, bevor er in die Kabine stürzte und brachte mich auf eine Idee für ein kleines Ablenkungsmanöver.
Wankend ging ich nach vorne zu unserer Sitzreihe. Claire hob den Kopf und ich spürte ihre fragenden Blicke auf mir liegen.
»Ich musste mich doch nicht übergeben, Schatz«, sagte ich in angemessener Lautstärke, sodass die Flugbegleiterin mich garantiert gehört. Claire schaltete schnell.
»Die Lasagne eben war einfach zu viel, mein Lieber.« Sie lächelte, aber ich erkannte die Anspannung dahinter.
»Was ist los?«, zischte sie, sobald ich auf den Sitz gerutscht war.
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, flüsterte ich. »Sie wissen von unseren gefälschten Papieren. Sie halten uns für Terroristen.«
Claire wurde kreideweiß. Louis schlief seelenruhig.
»Fuck! Und was jetzt?«
»Das war noch nicht alles. Der Pilot hat soeben angeordnet, dass die Security beim Terminal auf uns warten soll. Sobald wir aus diesem Flieger aussteigen, sind wir geliefert.«
»Und was ist die gute Nachricht?«
»Dass wir wissen, dass sie es wissen, sie aber nicht wissen, dass wir es wissen. Das ist ein Vorteil. Wir sind vorbereitet.«
»Sind wir das?«
Nein, sind wir nicht.
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