
Kapitel 2 | Claire
Meine Füße flogen in Rekordzeit über den Asphalt, doch mit Buddys vier Pfoten konnte ich nicht mithalten. Bald schon hatte er mich eingeholt und wies mir den Weg durch Londons dunstverhüllte Gassen, unter Maschendrahtzäunen hindurch und in einen Park. Im Park verlangsamte er sein Tempo schließlich und ich sank auf einer verwitterten Holzbank zwischen zwei Weiden nieder. Die Äste wehten leicht im Wind und ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch. Buddy sprang an ihnen empor, als habe es die letzten Minuten überhaupt nicht gegeben.
»Guter Junge«, lobte ich ihn mit rasselndem Atem. Man sollte meinen, ich wäre das Rennen – vor allem das Wegrennen – gewohnt, aber meine Kondition war trotzdem für'n Arsch. All die Jahre des Trainings für nichts.
Der Duft von Regen lag in der Luft und ein leichter Nebel hing über den naheliegenden saftig grünen Hügeln. Ein Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln. Die frühen Morgenstunden, in denen kaum eine Menschenseele draußen unterwegs war, waren immer die schönsten Stunden des Tages. Da begegnete man nur vereinzelt anderen Menschen, die ihre Hunde ausführten oder einsame Jogger, die geflissentlich und öfter auch peinlich berührt wegsahen, wenn sie bemerkten, dass ich nicht so war wie sie.
Manchmal konnte ich sogar meine Sorgen vergessen und fühlte mich wie eine normale Frau, die mit ihrem Hund Gassi ging. Doch früher oder später kickte die Realität immer und ich war wieder die in Selbstmitleid versinkende Frau ohne Familie. Die Frau, die seit 15 Monaten auf der Flucht war vor ... ja, wenn ich das nur wüsste.
»Zeit für Frühstück oder was denkst du, Bud?«, fragte ich mit der Babystimme, mit der ich für gewöhnlich mit Buddy sprach, und zog eine Packung Hundefutter aus meinem Duffle Bag. Es war die letzte, das hieß ich müsste heute einkaufen gehen. Buddy winselte und stellte sich auf die Hinterbeine. Ich ahnte, wie er die letzten Jahre auf der Straße überlebt hatte. Im Betteln war er einsame Klasse.
»Du kleiner Strolch. Hier hast du was. Lass es dir schmecken, Kleiner.«
Vorsichtig zog ich den Deckel ab und stellte die Dose auf den noch taunassen Boden. Buddy stürzte sich darauf und schmatzte zufrieden und auch ich beruhigte meinen leeren Magen mit Schinken auf labbrigem Weißbrot. Ich versuchte mich am Riemen zu reißen und nicht gleich alles auf einmal herunterzuschlingen, aber mein Magen knurrte so auffordernd, dass ich nicht lange standhalten konnte und zwei der drei Sandwiches direkt aß. Das dritte packte ich schweren Herzens zurück in meine Tasche. Das würde mein Mittagessen werden. Seufzend schloss ich die Augen und grübelte.
In meiner Tasche hatte ich noch ein paar Pfund und gut hundert Dollar, das waren kaum 80 Pfund, wenn ich sie umtauschte. Was ich allerdings nicht tun würde. Ich hatte nicht vor länger hier zu bleiben. Ich wiegte mich ohnehin schon zu lange in Sicherheit. Schon eine Woche.
Normalerweise erlaubte ich mir maximal fünf Tage in derselben Stadt, doch London hatte mir bislang immer gute Dienste erwiesen. Wann immer es mich hierher verschlagen hatte, fand ich in den Gassen, verlassenen Lagergebäuden und heruntergekommenen Hinterhöfen Zuflucht. Orte, die ein normaler Mensch mit einem gesunden Überlebensinstinkt meiden würde, wurden meine besten Freunde. Sicher, auf Dauer wäre das nicht gut gegangen, doch Buddy hatte mich rechtzeitig gefunden.
Er begleitete mich schon seit drei Monaten und wir hatten so etwas wie einen Pakt geschlossen. Ich kaufte ihm regelmäßig Hundefutter (das Gute), gelegentlich die Salamisnacks, auf die er so stand und gab ihm ausgiebige Streicheleinheiten und er rettete mich dafür aus brenzligen Situationen, so wie heute.
Nicht zu fassen, dass Dick kurz davor gewesen war, Buddy eine zu knallen, wenn ich nicht eingeschritten wäre. Es hieß, man sollte einen Menschen nicht danach beurteilen, wie er mit dem Chef umging, sondern wie er die Putzfrau behandelte. Ich setzte die Messlatte noch eins höher. Ich beurteilte Menschen danach, wie sie mit Tieren umgingen. Ganz klar: Dick hatte meinen Sympathietest nach dieser Aktion nicht bestanden.
Nicht zum ersten Mal ging ich meine Möglichkeiten durch. Ich könnte wieder versuchen einen Teilzeitjob zu suchen und etwas Geld zu verdienen, bevor ich mich davonmachte, doch es war schwierig einen Job zu bekommen, wenn man keine Unterlagen vorweisen konnte oder wollte. Sobald mein Name irgendwo auftauchte, hatte ich sie wieder im Nacken, dessen war ich mir sicher.
Meine Finger suchten ganz automatisch nach der Kette um meinen Hals. Das kalte Silber gab mir Zuversicht. Sie war mein letzter Ausweg, sie würde ich erst verkaufen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab. In den letzten Monaten war ich öfter kurz davor gewesen zum Pfandhaus zu gehen und das Schmuckstück zurückzulassen, konnte mich jedoch nie dazu durchringen, es wirklich zu tun.
Sie war das Letzte, was mir von ihr geblieben war.
Oh, Abby, wenn du jetzt nur hier sein könntest, dachte ich traurig.
Eine Weile schaute ich Buddy dabei zu, wie er den Krähen hinterherjagte, sie jedoch nie zu fassen bekam. Kurz bevor er sie erreichte, flatterten sie kreischend davon, nur um zehn Meter weiter wieder im feuchten Gras zu landen und gedankenlos auf die Erde zu picken. Ich schmunzelte und fasste gleichzeitig einen Entschluss. Es war Zeit weiterzuziehen.
»Buddy!«, rief ich. Aufmerksam spitzte er die Ohren und wedelte erwartungsvoll mit der Rute, als er näherkam. »Wir haben keine Zeit zum Spielen«, verkündete ich bedauernd und er ließ den Kopf hängen. Mann, dieser Hundeblick machte mir ernsthaft zu schaffen.
»Dafür hab ich noch Salami«, bestach ich ihn grinsend. Damit konnte ich seine Stimmung wieder heben.
»Aber erst später. Na los.« Ächzend rappelte ich mich auf und warf den Duffle Bag über die Schulter. Die leere Hundefutterdose warf ich in einen Mülleimer, der dringend einmal geleert werden sollte.
»Lass uns gehen, bevor es hier zu voll wird.«
Buddy bellte zustimmend und lief voraus. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages krochen über die vernebelten Hügel. Bedächtig, fast so, als wollte er keine falsche Bewegung machen, erhellte sich der Himmel. Azurblaue und blutrote Wolken rangen um die Vormacht über das Firmament. Ein merkwürdiges Gefühl ergriff Besitz von mir. Vielleicht war es Vorahnung.
»Wir haben einen langen Tag vor uns.«
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