Kapitel 15 | Xander
»Du bist dir wirklich sicher, dass wir ihm vertrauen können?«, fragte ich skeptisch und blieb unschlüssig auf dem Gehsteig stehen. Claire hatte die Stufen des viktorianischen Reihenhauses bereits erklommen. Buddy stand neben ihr und wedelte mit der Rute.
»Natürlich. Wenn wir nicht mal mehr unseren Freunden vertrauen können, wem können wir dann trauen?« Ganz einfach: Niemandem.
»Ich weiß nicht. Du sagtest du hast ihn seit sieben Jahren nicht mehr gesehen? Das ist eine lange Zeit«, gab ich zu Bedenken. Wenn unsere Namen bereits auf der Fahndungsliste standen – das traute ich Hamilton durchaus zu - oder noch schlimmer, unsere Fotos im Fernsehen gezeigt wurden, könnte Claires Schulfreund ein großes Risiko darstellen. Ein etwa genauso großes Risiko war es natürlich mitten in der Nacht vor einem Haus herumzulungern und sich zischend zu unterhalten, wie Verbrecher es nun einmal taten. Das machte genau den richtigen Eindruck. Beinahe erwartete ich die Augen einer neugierigen Seniorin hinter den Gardinen eines benachbarten Hauses hervorlinsen zu sehen. Aber die Straße war bis auf einen entfernten Streit zweier Katzen ruhig und verlassen.
Claire wandte sich zu mir um und schmunzelte.
»Vertrau mir. Louis ist zwar etwas eigen, aber mit ihm kann man Pferde stehlen. Er ist außerdem Archäologe und arbeitet im London Metropolitan Archives. Er hat zu hundert Prozent ein Mikroskop zuhause. Er weiß, wie man mit historischen Artefakten umgehen muss. Also sicherlich auch hiermit.« Die Kette hatte sie sich wieder um den Hals gelegt und spielte an dem Anhänger.
»Ich mach mir einfach Sorgen, was er sagt, wenn jemand um vier Uhr nachts bei ihm klingelt«, brummte ich. Manche Leute, ich zählte meine Wenigkeit zu ihnen, reagierten in der Regel nicht besonders freundlich, wenn man sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf riss.
»Es brennt noch Licht. Ich bin sicher, dass er noch gar nicht im Bett war.«
»Um vier Uhr morgens«, entgegnete ich ungläubig.
»Er ist eine Nachteule«, erklärte sie augenrollend.
Ohne Umschweife drückte sie den Klingelknopf, auf dem der Name L. Irving zu lesen war. Ein elektrisches Summen ertönte.
»Ich kann nur hoffen, dass du recht hast und er uns glaubt«, meinte ich und schob die Hände in die Jackentaschen. Das Gefühl der Waffe in meinem Holster gab mir eine gewisse Sicherheit. Wenn das hier ausartete, wusste ich mir zu helfen.
Ein müde dreinblickender drahtiger Mann mit aschfahlem Gesicht und dunklen Haaren öffnete die Eingangstür. Er trug einen karierten Pyjama und knotete gerade einen dunkelblauen Bademantel zu.
»Louis Irving?«, fragte ich, kaum dass er die Augen halb geöffnet hatte.
»Ja?«, sagte er zögerlich. »Wie kann ich Ihnen ... Claire? Bist das ... bist das wirklich du?«
Claire grinste von einem Ohr zum anderen und warf sich dem Mann überschwänglich in die Arme.
»Oh Louis, ich freue mich so sehr, dich zu sehen.«
»Aber wie ... ich dachte, du bist in New York? Was machst du hier? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
»Ja, tut mir leid. Es ging leider nicht anders. Ich war schon lange nicht mehr in New York«, berichtete Claire mit einem wehmütigen Unterton. Verlegen scharrte ich mit den Füßen. Ich kam mir fehl am Platz vor, selbst als Claire zur Seite trat und mich vorstellte. Louis und ich schüttelten nur kurz die Hände.
»Wie wärs, wenn du uns reinlässt und Tee kochst? Dann können wir in Ruhe reden.«
»Oh ... klar, sicher. Es gibt da nur ein kleines Problem. Ich habe nicht wirklich aufgeräumt.«
Claire lachte und es war das erste Mal, dass ich sie so unbeschwert hörte.
»Deine Auffassung von aufgeräumt war schon immer auf einem anderen Level«, sagte sie und schob sich an ihm vorbei, als ...
»Wow. Was ist denn hier passiert?«
»Geschichtsstudium, das ist passiert. Und ich hab ja gesagt, es ist nicht aufgeräumt.« Das war die Untertreibung des Jahrhunderts.
Der Boden war übersäht von Büchern in Lederrücken und Notizheften. Dicke Ordner stapelten sich auf einem Tisch, der wohl vor langer Zeit einmal ein Esstisch gewesen sein musste. Lose Blätter flatterten umher und die Wände waren zugepflastert mit robusten Regalen in denen noch mehr Bücher und noch mehr Ordner standen.
»Geht am besten in die Küche. Hinten rechts.«
Ich folgte Claire und gab mir dabei größte Mühe, die Bücher, die auf unserem Weg lagen, nicht zu zertrampeln.
»Also, Tee ... Tee, Tee, Tee. Ich hätte Strawberry Cheesecake, Mango, Bratapfel-Zimt und oh ... ich glaube, der ist schon abgelaufen. Blaubeere müsste auch noch irgendwo sein. Na, schaut selbst. Was wollt ihr?«
Strawberry Cheesecake? »Amerikaner ...«, schnaubte ich. »Ich nehme einfach ein Wasser, bitte«, fügte ich laut hinzu.
»Ja, klar. Tee ist eigentlich auch nicht so meins. Wird total überbewertet.« Ich lächelte gequält, so als habe er nicht gerade meine ganze Nation beleidigt.
»Ich nehme Strawberry Cheesecake.« Ich schüttelte mich angewidert und Buddy schien meinen Ekel zu verstehen. Er legte seinen kleinen Hundekopf schräg und schielte zu mir hoch. Ich zuckte mit den Schultern.
Louis forderte uns mit einer Handbewegung auf, uns an den Küchentisch zu setzen. Auch der sah nicht besser aus als der Esstisch vorhin und ich schob einen dicken Wälzer >Antike Architektur< beiseite, damit Louis umständlich ein Wasserglas in der Lücke platzieren konnte.
»Ich bin immer noch überrascht, dass du hier bist, Claire. Ich hab dich fast nicht erkannt in ...« Er runzelte die Stirn und musterte Claires Kleidung. Sie trug immer noch meine alte Jogginghose und den viel zu großen Pullover.
»Die sind nur geliehen«, beschwor sie im Plauderton.
»Ah, ja.« Er nickte langsam. »Also wie kann ich euch helfen?«
»Wir müssen uns ein Mikroskop ausleihen. Du hast doch eins, oder?«
Falls er etwas merkwürdiges an ihrer Bitte fand, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
»Sicher, wartet kurz.« Er schlenderte gelassen in ein Nebenzimmer, wich Bücherstapeln und herumfliegenden Zetteln aus und kehrte schließlich mit einem metallenem Monstrum zurück. »Hier.« Der Tisch wackelte unter dem zusätzlichen Gewicht gefährlich.
»Worum geht es überhaupt?«
Claire lächelte scheu. »Würdest du uns glauben, wenn wir es dir sagen?«
»Versuch's doch.« Louis zuckte mit den Schultern und nahm einen großen Schluck von einer Flüssigkeit, die nach Eistee aussah.
»Wir glauben, Tante Abby hat einen Hinweis zum verlorenen Templerschatz gefunden. Und wir versuchen ihn zu finden.«
Der Eistee landete im hohen Bogen auf dem Boden, als Louis alles auf einmal ausprustete.
»Ihr glaubt ... was?!« Louis wischte sich unbeholfen mit dem Handrücken über den Mund. »Das kann nicht euer Ernst sein.«
»Hab dir ja gesagt, er wird uns nicht glauben«, verkündete ich trocken. Claire löste die Kette um ihren Hals.
»Dann schau dir das mal an. Du musst es unter eine Lampe halten«, riet Claire und Louis zog eine Tischlampe heran. Das alles balancierte unsicher auf den schmalen Beinen des Küchentischs.
»Das gibt's ja nicht!« Louis stieß einen Laut der Verblüffung aus, je deutlicher das Tatzenkreuz unter der Lampe zum Vorschein kam. Seiner Gestik nach zu urteilen, war dieser Tag für ihn aufregender als Weihnachten und Geburtstag zusammen. »Das gibt's ja nicht!«, wiederholte er und reichte den Schmuck an Claire weiter.
Claire schaltete das Mikroskop an und ließ den Anhänger aufschnappen.
»Und das war noch nicht alles. Ich brauche einen Zettel und einen Stift. Xander notier dir, was ich vorlese«, wies sie uns an. Wort für Wort schrieb ich die historischen Zeilen nieder.
Ein Volk von Habgier bezwungen,
lässt 54 verstummen.
Ein Verrat zum Schutze,
bricht der Dame Augen zum Trotze.
Der Schlüssel in Silber verborgen,
das Schloss in Händen getragen,
der Legende erhaben.
Das Zwillingspaar an der Insel vereint,
bildet die Brücke beweint.
Der Pass weist den Weg,
der das Vermächtnis bringt zurück.
»Es ist ein Rätsel!«, stellte Claire begeistert fest. Ihre Augen leuchteten.
»Die paar Zeilen sollen uns jetzt zum Templerschatz führen?«
»Wohin denn sonst?«
»Warum muss sich eigentlich immer alles reimen? Geht das nicht einfacher? Hallo armer Schlucker. Du willst endlich alle deine Rechnungen bezahlen können? Hier liegt der Schatz. Viel Spaß damit. Das würde so viel Zeit sparen«, fand Louis.
»Du bist Archäologe. Eigentlich müsstest du Feuer und Flamme sein«, lachte Claire mit vor Aufregung ganz roten Wangen.
»Ja, richtig. Ich bin Archäologe. Aber ich behandle die Artefakte lieber, nachdem sie gefunden wurden. Ich suche nicht selbst nach ihnen«, stellte er klar.
»Heißt das, du willst nicht mitkommen?«
»Machst du Witze? Ich komme sowas von mit«, rief Louis enthusiastisch.
Claire vertraute ihm zwar, aber das hieß noch lange nicht, dass ich dasselbe tun musste. Andererseits schien er Ahnung von Geschichte zu haben und könnte uns weiterhelfen. Mir blieb keine andere Wahl.
Ich stieß einen langen Seufzer aus. »Ihr habt da eine Kleinigkeit vergessen. Wir wissen nicht, was diese Worte zu bedeuten haben«, wandte ich ein.
»Nichts leichter als das.« Louis schob ein paar Bücher auf dem Boden zur Seite – so langsam glaubte ich, jeder Raum war mit Büchern bepflastert - und machte es sich zwischen ihnen bequem.
»So, was haben wir denn hier ... Ein Volk von Habgier bezwungen. Bezwungen. Von Habgier ... Habgier, Egoismus, Eigennutz. Ein Volk das also eigennützig gehandelt hat. Welches Volk? Historisch betrachtet, dürfte das auf so einige zutreffen. Das grenzt es nicht besonders ein ... mal sehen.«
»Gib mal her«, forderte Claire ungehalten und entriss Louis den Zettel.
»He! Ich war noch nicht fertig!«, beschwerte er sich lauthals. Claire ignorierte seine Einwände.
»Es muss etwas mit dem Templerorden zu tun haben. Also, Ein Volk von Habgier bezwungen, lässt 54 verstummen. Verstummen, das klingt doch sehr nach ermordet, oder?«
»Na prima. Das fängt ja gut an«, raunte ich.
»Ein Volk von Habgier bezwungen, lässt 54 verstummen. Das könnte ... Ich hab eine Vermutung, aber ich muss erst sichergehen. Kann ich mir mal deinen Laptop leihen?«
»Ja sicher«, grummelte Louis, sichtlich verstimmt, da Claire ihm das Rätsel entrissen hatte. Claire haute in die Tasten, las sich durch Websites und nickte abwesend.
»Ich glaube, ich hab's jetzt.«
»Du hast das Rätsel gelöst? Alles?«, hakte ich ungläubig nach.
»Mach dich nicht lächerlich. Nur die ersten Zeilen. Okay, hört zu. Was wisst ihr über den Schwarzen Freitag?«
»Da gibt's die besten Angebote im Elektrogeschäft«, meldete ich mich sarkastisch, obwohl ich wusste, dass sie darauf nicht hinauswollte.
»Ha ha, witzig. Ich spreche von dem historischen Schwarzen Freitag. Zum Beispiel der Börsenkrach von 1929.«
»Bist du etwa abergläubig?« Louis verzog das Gesicht.
»Quatsch. Es ist sogar wissenschaftlich bewiesen, dass an Freitagen, die auf einen 13. fallen, weniger Unfälle passieren, weil die Leute dann besonders gut aufpassen.«
»Macht Sinn. Man will sein Glück ja nicht herausfordern. Aber was hat das mit dem Rätsel zu tun?«
»Wisst ihr, eines der ersten nachgewiesenen Ereignisse, das auf einen Freitag, den 13. gefallen ist, ist der 13. Oktober 1307.«
»Aha, was ist da passiert?«
»An dem Tag wurde die Verhaftung von den Tempelrittern in ganz Frankreich befohlen. Der französische König Philipp IV. und Papst Clemens V. planten diese ganze Aktion, um an die Goldschätze und Ländereien des Templerorderns zu gelangen. Sie wurden wegen Ketzerei und unsittlichen Verhaltens angeklagt. Der König war hochverschuldet und er brauchte das Gold, um sein Image wieder aufzupolieren. Bis zu ihrer Verhaftung bestand die Organisation seit fast 200 Jahren. Und sie waren nicht dumm. Wir sprechen hier von einer Menge an Gold und Schätzen, die attraktiv genug war, um einen König von der Vernichtung eines ganzen Ordens zu überzeugen. Eines Ordens, der eine der größten Finanzmachten seiner Zeit darstellte.«
»Warum weißt du so viel darüber? Das hast du doch nicht gerade alles herausgefunden?«, fragte ich verblüfft und Claire errötete.
»Tante Abby. Das waren die Geschichten, die sie mir immer erzählt hat, als ich klein war. Man könnte fast glauben, dass sie mich auf diesen Moment hier vorbereiten wollte.«
»Möglich.«
Louis' Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an. »Ich erinnere mich an Tante Abbys Geschichten. Sie ist eine unglaublich gute Geschichtenerzählerin. Wie geht es ihr eigentlich?«, erkundigte er sich und es war, als würde die Zeit plötzlich stillstehen. Die Temperatur war um mindestens zehn Grad gesunken. Claire erstarrte mitten in der Bewegung. Ihre ganze Haltung war ein einsamer Hilfeschrei.
»Die ersten Zeilen«, erinnerte ich sie hastig, »was hat es damit nun auf sich?«
Claire atmete aus und warf mir einen schnellen dankbaren Blick zu. Mir wurde warm.
»Äh ... genau. Ein Volk von Habgier bezwungen bezieht sich auf den französischen König Philipp, der seine Schulden loswerden wollte, indem er den Templerorden zerschlägt. Lässt 54 verstummen. Als die Templer 1307 verhaftet wurden, fanden zahlreiche Verhöre statt. Die meisten bestätigten wahrscheinlich unter Folter, was über den Orden im Umlauf war. Darunter gab es jedoch auch einige Mitglieder, die den Orden verteidigten. Leider hat sie das auf direktem Wege auf den Scheiterhaufen gebracht. 54 Templer wurden 1310 in Paris verbrannt.«
»Damit sind die ersten zwei Zeilen geklärt. Aber Ein Verrat zum Schutze, bricht der Dame Augen zum Trotze. Wo wir schon in Paris sind. Könnte Notre Dame diese Dame sein?«, überlegte ich vorsichtig.
»Das ... ist ziemlich ... genial«, bemerkte Louis. Claire Augen funkelten, zum Glück nicht mehr, weil sie mir gerne den Hals umdrehen wollte, sondern aus Abenteuerlust.
»Das ist ein sehr guter Gedanke. Irgendetwas muss also in Notre Dame passiert sein. Ein Verrat zum Schutze. Wer wurde verraten? Und wer wurde dadurch beschützt?«, grübelte sie.
Fragen über Fragen. Und eine Antwort war weit und breit nicht in Sicht.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro