
Kapitel 1 | Claire
Tag 461. Ein Jahr, drei Monate, fünf Tage, sechzehn Stunden und schätzungsweise 23 - nein, Moment - 24 Minuten waren nach meinem überstürzten Aufbruch aus New York vergangen. Hiermit deklarierte ich offiziell meinen Tiefpunkt. Ich war auf dem harten Boden der Realität angelangt. Was sollte ich sagen? Es roch nach Pisse und Erbrochenem. Das einzig Positive daran? Weiter runter ging es nicht mehr. Ab jetzt gab es nur noch eine Richtung.
Rücksichtslos wühlte ich mich durch die Essensreste eines Lebensmittelgeschäftes und verzog das Gesicht. Was da alles weggeschmissen wurde. Anstatt die Reste einfach zu spenden, aber das wäre ja zu einfach. Und Mülltrennung? Fehlanzeige. Mit gespitzten Fingern packte ich das ledrige Salatblatt und warf es in die Ecke des Containers. Und darunter – endlich!!! – eine Packung Sandwiches.
»Danke!«, sagte ich zu niemand bestimmten und fischte die Sandwiches hervor. Mein Magen knurrte auffordernd und ich konnte mich gerade so noch davon abhalten, die Plastikverpackung sofort abzuziehen und meine Zähne in das Toast zu schlagen. Mein Körper nahm mir das sehr übel. Zitternd warf ich mein Bein über den Rand des Containers. Eigentlich hätte ich gerne noch weitergesucht. Wo eine Packung Sandwiches war, war sicher noch mehr. Doch je länger ich hier draußen herumlungerte und je heller es wurde, desto stärker beschlich mich ein ungutes Gefühl in meiner Magengrube. Besser, ich brachte mich jetzt aus der Schusslinie, ehe es zu spät war. Ich schob den Deckel des Containers nach vorne, sodass nur noch ein schmaler Spalt offenstand.
Die Außenseite der Plastikverpackung wischte ich grob an meiner Hose ab und stopfte sie dann in meinen Duffle Bag. Erstmal weg hier. Bevor mich der Ladenbesitzer doch noch erwischte und bei den Bobbies anschwärzte. Gestern hatte er mich fast gehabt, aber er war ein Mann mit zwei linken Beinen und einem Bauch, der ihm wohl häufiger im Weg war. Sein Watschelgang erinnerte an eine beschwipste Ente. Sein Kumpel, den ich in den letzten Tagen öfter im Laden gesehen hatte, war ein magerer Hungerhaken und erinnerte mich ein wenig an Doof, weshalb ich die beiden Dick und Doof getauft hatte.
Neben mir winselte etwas und ich schnalzte verärgert mit der Zunge.
»Buddy«, sagte ich streng. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst im Lagerhaus auf mich warten. Das ist gefährlich. Die bringen dich noch in den Hundezwinger, wenn sie dich schnappen. So ganz ohne Halsband.«
Buddy bellte pikiert und ich musste lachen.
»Klar. Wer soll dich schon kriegen, was? Du kleiner Strolch.« Ich ging kurz in die Hocke, um dem Jack Russell Terrier eine kurze Streicheleinheit zu geben, als es hinter uns plötzlich laut krachte.
»Hey! Was machst du denn da?«
»Shit«, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Buddy knurrte und ich tätschelte ihm beruhigend den Kopf.
»Ruhig, Buddy«, flüsterte ich eindringlich.
Mit meinem besten falschen Lächeln drehte ich mich um und sah – Jackpot – Dick mit in die Hüften gestemmten Armen aus der Seitentür treten. Er musterte mich von oben bis unten und ich sah, wie er die Nase rümpfte. Er war kurzsichtig, das war mein Glück. Noch hatte er mich nicht erkannt.
»Guten Morgen«, flötete ich in heiterem Tonfall. Buddy, der offenbar der Meinung war, dass er nichts zu befürchten hatte, schnüffelte zwischen zwei Müllbeuteln nach Futter. Glas klirrte und er wedelte erfreut mit der Rute.
»Was hast du hier zu suchen?«, donnerte Dick.
Ich stieß einen Seufzer aus. Na schön. Also nicht auf die nette Tour.
»Spazieren. Oder ist das etwa nicht erlaubt?«, höhnte ich augenrollend. Unauffällig justierte ich die Tasche auf meinem Rücken, um besser rennen zu können. Denn das hier würde eine dieser legendären Lauf-Forrest-Lauf-Momente werden.
»Du da, Köter! Geh da weg!« Er machte einen Schritt auf Buddy zu und holte aus. Buddy fletschte die Zähne.
»Hey, was soll das? Lassen Sie gefälligst den Hund in Ruhe!« Ich sprang hervor, sodass er anstatt Buddy meinen Arm zu fassen bekam. Buddy bellte erzürnt, aber ich hielt ihn mit einem Fingerzeig davon ab, zum Angriff überzugehen.
»Was soll der Scheiß? Ich bin hier nur mit meinem Hund spazieren. Das können Sie mir ja wohl kaum vorwerfen, oder? Und lassen Sie mich verdammt nochmal los!« Ich stemmte mich gegen ihn, doch sein schraubstockartiger Griff, verhinderte jede Flucht. Ein forschender Blick glitt über mein Gesicht und sein warmer Atem streifte meine Haut. Bah, er hatte Fisch zum Frühstück gehabt.
»Warte mal, ich kenn dich doch«, bemerkte Dick langsam. »Ja, ja, du bist doch das kleine Mädchen von gestern.«
»Klein ist schon mal gar nicht.« Ich war fast eins siebzig groß, und der Mann hier reichte mir nicht einmal bis zur Schulter. Aber sein Griff war verdammt schmerzhaft, das musste ich ihm lassen.
»Na warte. Du und dein verdammter Hund werdet euch noch wünschen, euch nicht mit mir angelegt zu haben.« Glaub mir, das bereue ich jetzt schon.
»Was wollen Sie mir denn vorwerfen? Dass ich meinem Hund hierher gefolgt bin? Sie sollten hier dringend mal aufräumen. Hier hinten tummeln sich ja schon die Ratten.«
»Du bist die Ratte! Wühlst in meinem Müll rum und glaubst du kommst damit durch! Denkst wohl, du wärst so schlau, aber da irrst du dich. Ich habe Kameras in meinem Hof und da ist alles drauf, was ich wissen muss. Findet die Polizei bestimmt auch interessant.« Er lachte grausam und mir stülpte sich der Magen um.
Oh, Mist. Daran hatte ich nicht gedacht. Natürlich hatte er Kameras installiert. Ich kam seit ungefähr einer Woche her, aber wahrscheinlich fiel es auf, wenn das Schloss am Container jeden Morgen aufgebrochen war. Dick bemerkte mein schuldbewusstes Zögern und grinste schäbig.
»Hab ich's mir doch gedacht. Ronny!«, rief er durch den Seiteneingang und meinte wahrscheinlich Doof. »Ronny, ruf die Polizei. Wir haben die kleinen Einbrecher geschnappt.«
Dieses Wort. Klein. Das ging mir tierisch auf die Nerven. Ich schalt mich eine Idiotin und setzte erneut ein Lächeln auf.
»Ach, wie schade. Da muss ich sie jetzt enttäuschen.«
Für einen Augenblick wirkte er ernsthaft überrascht. Wie blöd er da stand und blinzelte mit seiner angeklatschten Gel-Frisur.
»Die Bobbies müssen heute leider ohne uns auskommen.«
»Was redest du da für einen Mist?« Der Griff um meinen Arm wurde stärker, und er schüttelte mich. »Huh?«
»Buddy, jetzt!«, rief ich, während mein Fuß gleichzeitig auf Dicks Plattfüße niedersauste. Buddy sprang an uns hoch und erwischte seinen fleischigen Arm. Dick jaulte vor Schmerz auf. Hey, das konnte er ja sogar besser als Buddy! Ruckartig hatte ich mich von ihm losgerissen und sprintete auf die andere Straßenseite. Aus den Augenwinkeln erhaschte ich einen Blick auf Buddy, der den Arm immer noch fest zwischen seinen Fängen hielt.
»Buddy, genug!«, rief ich. Schulterzuckend grinste ich Dick an, als mein vierbeiniger Freund von ihm abließ und seelenruhig zu mir trottete. Er hielt sich den Arm und schrie vor Pein, doch mein Mitleid hielt sich in Grenzen.
»Sorry. Der wollte nur spielen.« Dann nahm ich meine Beine in die Hand und rannte, was das Zeug hielt, die nicht jugendfreien Beleidigungen hinter mir ignorierend.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro