20. Graffiti
„Jisung? Ji, ist alles gut?" Die Stimme dringt wie durch einen Nebel zu mir durch. Blinzelnd öffne ich langsam meine Augen, da sich diese erst an die helle Sonne gewöhnen müssen. Über mir sehe ich Felix. Er kniet neben mir und seine Stirn ist vor Sorge in Falten gelegt. Seine Hände ruhen auf meinen Schultern, während er mich prüfend ansieht.
„Felix?" Ich setze mich langsam auf und reibe mir die Augen. Sofort strömen mir die Erinnerungen meiner Verzweiflung in den Kopf und ich blicke zu der Wand mit dem Vers des Gedichtes. „Das Graffiti... es war da, an der Wand..."
Felix runzelt die Stirn und sieht sich um. „Graffiti? Ji, hier ist nichts. Vielleicht hast du dir einen Sonnenstich geholt. Oder es sind noch die Nachwirkungen von gestern. Du hast echt viel getrunken." Er greift an meine Stirn um zu prüfen, ob ich erhöhte Temperaturen habe.
Ich schüttle den Kopf und kämpfe gegen die Verwirrung an. „Nein, es war da. Ich habe es gesehen. Die Worte aus dem Gedicht, das wir in dem Buch gefunden haben. Es war gerade noch an dieser Wand!" Ich zeige auf die nun leere Stelle und stehe wieder kurz vor einem Zusammenbruch. Das ist doch nicht möglich!
Um mir zu beweisen, dass ich nicht den Verstand verloren habe, greife ich mir selber an die Stirn und tatsächlich ist sie etwas wärmer als normal. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich hier in der prallen Sonne ohnmächtig geworden bin.
Felix seufzt und hilft mir vorsichtig auf die Beine. „Komm, wir setzen uns kurz hin. Du musst dich etwas im Schatten ausruhen." Er führt mich zu der Bank, auf der ich heute Morgen bereits einmal total wirr aufgewacht bin und wir setzen uns. Ich fühle mich schwach und unsicher, die Realität scheint immer noch verschwommen und unbeständig zu sein.
„Du glaubst mir nicht, oder?", frage ich leise und starre auf den Asphalt vor uns. Die Kühle des Schattens tut mir gut und zum ersten Mal seit langem kann ich wieder tief durchatmen ohne diese ungewöhnliche Last auf meiner Brust liegen zu haben.
Felix zögert, bevor er antwortet. „Es ist nicht so, dass ich dir nicht glaube, Ji. Aber du musst zugeben, dass es nicht besonders wahrscheinlich klingt. Vielleicht hast du dir das Graffiti nur eingebildet, weil du so durcheinander bist. Nach gestern Abend... ich meine, wer weiß, was du alles geträumt oder gesehen hast."
Ich schließe die Augen und atme tief durch, versuche, die Verzweiflung zu unterdrücken, die in mir aufsteigt. Felix' Zweifel nagen an mir, aber ich kann ihm nicht wirklich böse sein. Alles, was wir in den letzten Tagen erlebt haben, war surreal und unbegreiflich.
„Vielleicht hast du recht," murmle ich schließlich. Wahrscheinlich habe ich es mir wirklich nur eingebildet. Wie sollte dieser Vers auch dort hin gekommen sein? „Ich fühle mich einfach verloren. Alles ist so verwirrend."
Felix legt einen Arm um meine Schultern und drückt mich leicht. Diese halbe Umarmung spendet mir Komfort und ich kuschle mich noch etwas näher an ihn. „Ich verstehe dich, Jisung. Es ist schwer, hier klarzukommen. Aber wir müssen einen klaren Kopf bewahren, sonst finden wir nie heraus, was hier wirklich passiert und wie wir wieder unsere liebsten sehen können."
Ich nicke langsam und lehne meinen Kopf an seine Schulter. Felix ist wahrlich ein Lichtblick in dieser trostlosen Welt, sein Optimismus und seine Stärke sind ansteckend. Ich bewundere ihn, dass er es immer schafft positiv zu denken, egal wie aussichtslos die Situation doch erscheint. Ich muss sagen, dass er genau so ist, wie ich ihn mir durch die vielen Videos vorgestellt habe. Ein herzlicher Mensch, mit einem offenen Herz für alles und jeden. Eben ein Sonnenschein, der all seine Mitmenschen auch zum Strahlen bringt.
Wir sitzen eine Weile schweigend da, während uns die Stille der Stadt umgibt. Schließlich räuspert sich Felix und bricht die Stille. „Weißt du, Ji, manchmal ist es nicht nur die äußere Welt, die einem zu schaffen macht. Manchmal sind es auch die Dinge, die man in sich trägt."
Ich hebe den Kopf und sehe ihn an. „Was meinst du?"
Felix schaut auf den Boden, seine sonst so leuchtenden Augen sind jetzt ernst und nachdenklich. „Es ist schwer zu erklären, aber... als wir noch auf Tour waren, schien alles perfekt. Wir standen auf der Bühne, hatten Fans, die uns zurufen und aus vollem Herzen liebten, und das Adrenalin hat uns durch die Tage getragen. Aber hinter den Kulissen war es nicht immer so einfach."
„Du meinst den Druck?" frage ich leise.
„Ja, der Druck. Und die Einsamkeit," sagt Felix und seine Stimme klingt plötzlich sehr müde. „Es gibt Momente, da fühlt man sich trotz all der Menschen, um einen herum, unglaublich allein. Jeder erwartet, dass du stark bist, dass du lächelst und die Show weitergeht. Aber innerlich fühlst du dich manchmal leer und verloren. Oder auch bei Fan Meetings. Unendlich viele Fans sagen einem, wie sehr sie dich lieben und dich immer unterstützen. Aber würden sie wirklich für mich da sein, wenn sie mich im echten Leben kennen? Ich freue mich über ihre Worte, das ist keine Frage, aber genau das legt noch mehr Verantwortung auf meine Schultern. An manchen Tagen fühle ich mich einfach erdrückt und ich weiß, dass ich ihnen das nicht so offen sagen kann..."
Ich sehe ihn überrascht an. Felix, der immer strahlende Sonnenschein, gibt mir gerade einen tiefen Einblick in sein Innerstes. „Das klingt, als ob es wirklich schwer für dich ist", murmle ich. Seine Worte bringen mich zum Nachdenken. Von der Seite habe ich das Idol-Sein noch gar nicht betrachtet.
Er nickt. „Es gibt Tage, an denen ich dachte, ich würde das alles nicht schaffen. Tage, an denen ich mich einfach nur verstecken wollte. Aber ich konnte nicht. Wegen der Fans, wegen Stray Kids. Sie zählen auf mich und wir brauchen einander um zu funktionieren."
„Und wie hast du es geschafft nicht aufzugeben?", frage ich, während ich versuche, seine Gedanken zu verstehen.
Felix lächelt schwach. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Vielleicht durch die Unterstützung der anderen. Vielleicht, weil ich wusste, dass ich nicht allein war, auch wenn es sich manchmal so anfühlt. Und es ist unglaublich wichtig nicht nur die Schattenseiten zu betrachten. Natürlich ist es mit viel Stress und Verantwortung verbunden ein Idol zu sein aber auf der anderen Seite gibt es eben auch die tollen Momente. Die anderen Mitglieder zum Beispiel, die zu meinen engsten Freunden geworden sind. Oder das Glänzen in den Augen der Fans, wenn sie dich zum ersten Mal erblicken und auch die Aufregung kurz bevor wir ein neues Album veröffentlichen. Ich denke, das ist jetzt auch der Schlüssel für uns. Wir müssen zusammenhalten und uns gegenseitig stützen. Egal, wie hoffnungslos alles scheint."
Ich spüre, wie seine Worte tief in mir nachhallen. Auch wenn er sogar jünger ist als ich, merke ich, dass er einiges mehr Lebenserfahrung gesammelt hat. „Du hast recht. Zusammen sind wir stärker." Ich möchte gar nicht mehr an meine Zeit hier alleine zurück denken. Ich dachte echt ich werde verrückt und das nur innerhalb weniger Stunden.
Felix drückt meine Schulter noch einmal. „Genau. Und was auch immer passiert ist, oder noch passieren wird, wir werden es gemeinsam durchstehen. Ich weiß, es ist schwer zu glauben, dass wir hier rauskommen, aber gib die Hoffnung nicht auf. Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren."
Ich schaue ihn an und sehe in seinen Augen den festen Entschluss, den er in sich trägt.
„Danke, Felix," sage ich schließlich. „Es bedeutet mir viel, das von dir zu hören."
„Immer gerne, Ji. Wir sind doch Freunde, oder?" sagt er und zwinkert mir zu, bevor er aufsteht und mir die Hand reicht, um mir hochzuhelfen. „Lass uns aufbrechen. Die Anderen suchen bestimmt noch nach dir aber wir haben einen Treffpunkt nicht weit von hier vereinbart."
Als wir langsam die Straße entlanggehen, spüre ich das Bedürfnis, Felix auch etwas von mir zu erzählen. Er soll nicht der Einzige sein, der sich öffnet und mir seine Gefühle und Erfahrungen mitteilt. „Weißt du, Felix, das Konzert, bei dem alles passiert ist... es war mein erstes Konzert überhaupt."
Felix sieht mich überrascht an. „Wirklich? Dein allererstes Konzert?" Seine Augen werden bei der Erwähnung ganz groß voller Unglauben.
Ich nicke. „Ja, ich war unendlich aufgeregt. Von Anfang an bin ich ein riesiger Fan von euch, aber ich hatte nie die Möglichkeit, zu einem Konzert zu gehen. Nachdem ich meine Eltern über lange Zeit vollgeheult habe, haben sie mir ein Ticket zu meinem Geburtstag geschenkt. Es sollte ein unvergesslicher Tag werden."
Felix lächelt sanft. „Das tut mir leid, Ji. Es ist echt schade, dass es so anders verlaufen ist. Aber ich bin froh, dass wir uns hier gefunden haben. Es bedeutet viel, jemanden zu haben, der einen versteht."
Ich atme tief durch und fahre fort. „Eigentlich wollte ich immer selbst ein Idol werden. Ihr seid meine größten Vorbilder. Aber irgendwie habe ich nie den Mut gefunden, den ersten Schritt zu machen. Jetzt denke ich, dass ich vielleicht zu alt bin, um noch damit anzufangen. Die meisten, die mit dem Training beginnen, sind so viel jünger als ich."
Felix schüttelt den Kopf. „Das Alter ist nicht alles. Es geht darum, wer du bist und was du zu bieten hast. Du hast ein Ziel, eine Leidenschaft und ein großes Herz, und das ist schon mal mehr, als viele andere zu bieten haben."
„Vielleicht...", sage ich leise. „Aber es fühlt sich manchmal so an, als ob es zu spät wäre. Ich lebe noch bei meinen Eltern und habe keinen Job. Das ist mir manchmal echt peinlich zu erzählen... Ich wollte immer etwas Besonderes erreichen, etwas, auf das ich stolz sein kann. Doch jetzt bin ich hier, in einer menschenleeren Welt, und frage mich, ob ich überhaupt noch eine Chance habe."
Felix bleibt stehen und sieht mich ernst an. „Du hast immer eine Chance, solange du an dich glaubst. Es mag jetzt schwer sein, aber diese Situation könnte dir auch eine Möglichkeit bieten, zu wachsen und neue Wege zu finden. Und du bist nicht allein. Wir sind zusammen hier. Zusätzlich habe ich dich gestern singen hören und deine Stimme ist echt der Hammer. Es ist unglaublich beeindruckend, dass du sowohl rappen als auch singen kannst... Das ist wirklich einzigartig!"
Ich lächle schwach. „Danke. Es tut gut, das aus deinem Mund zu hören."
Dann denke ich an meine Eltern und meinen Bruder, die mich immer unterstützt haben, egal wie verrückt meine Träume auch erschienen. „Meine Familie war immer für mich da.", sage ich leise. „Aber seitdem ich hier bin, habe ich das Gefühl, dass ich mich selbst verloren habe. Besonders jetzt, wo ich Minho besser kenne. Er war immer mein Bias der Gruppe. Aber seitdem wir hier sind, scheint er nur seine schlechten Seiten zu zeigen. In manchen Lebensabschnitten war er der Einzige, der es geschafft hat, mich mit seiner lustigen Art vor der Kamera wieder aus dem tiefen Schwarz zu ziehen."
Felix nickt verstehend, presst etwas seine Lippen zusammen und überlegt sich passende Worte für seine Antwort. „Minho hat seine eigenen Dämonen zu bekämpfen. Er ist ein guter Mensch, aber manchmal zeigt er das nicht so leicht. Ich weiß, du wirst es jetzt vielleicht noch nicht verstehen, aber sei nicht so streng mit ihm und gebe ihm die Zeit, die er braucht um sich zu dir hin zu öffnen."
Ich seufze. „Bestimmt hast du recht. Es ist nur schwer, jemanden anders zu sehen, als man ihn sich vorgestellt hat."
„Das alles ist sehr schade aber lass deinen Kopf nicht hängen. Denke an all die positiven Dinge, die uns vielleicht noch bevorstehen."
„Ich glaube, ich habe wirklich Glück, dich an meiner Seite zu haben, Lix."
Felix klopft mir auf die Schulter. „Und ich habe Glück, dich an meiner Seite zu haben! Wir schaffen das gemeinsam. Und vergiss nicht, du kannst immer zu mir kommen, wenn dich etwas belastet. Ich bin mir auch sicher, dass auch die Anderen sich freuen, wenn du zu ihnen gehst. Hauptsache du fühlst dich wohl."
Wir setzen unseren Weg fort und ich bin glücklich endlich wirklich jemanden an meiner Seite zu haben. Jemanden, der mich verstehen kann und sich meine Sorgen anhört. Auch wenn ich mir immer erhofft hatte, dass dieser Jemand Minho ist...
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