13. Poem
„Die ganze Arbeit ist für die Katz! Das ist doch alles totaler Schwachsinn. Wie soll uns ein blödes Gedicht weiterhelfen? Wie kann das etwas Nützliches sein, wenn man es noch nicht einmal versteht!", sagt Minho sehr laut und unterbricht die Ruhe des angestrengten Nachdenkens. Der Tänzer blickt ernst und streng in jedes der Gesichter, außer in meins... Anscheinend bin ich es ihm nicht wert betrachtet zu werden. Seine Augen glühen vor Wut und ich bin mir nicht sicher, ob er einfach wütend ist, dass er das Gedicht nicht versteht, oder, dass wir womöglich einen kompletten Tag verschwendet haben. Vielleicht drückt ihm auch der Hunger auf den Magen, nachdem bisher niemand etwas essen konnte, da wir alle beschäftigt waren. Der Gedanke an Essen lässt mich an meine leckere Geburtstagstorte denken. Heute würde ich mit Sicherheit so wie mein Bruder, vor zwei Wochen, vor der Torte sitzen. Ich bereue es etwas, dass ich an dem Tag vor Aufregung nicht mehr essen konnte. Ich würde aktuell einiges tun um meinen Bauch wieder mit Nährstoffen zu füllen, nachdem wir uns heute nicht einmal die Zeit zum Frühstücken genommen haben.
Chan schafft es, die Situation zu beruhigen. „Wir sollten alle etwas essen um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können." Er macht sich auf den Weg zu seiner Jacke, die er sich aus der Boutique genommen hat und holt drei Proteinriegel aus den Taschen. „Das ist leider alles, was ich habe, aber ich bin bestimmt nicht der Einzige, der sich für den Notfall etwas eingesteckt hat, oder?"
Betretene Stille erfüllt den Raum aber ich erinnere mich, dass sich Minho in dem Laden gestern etwas genommen hat. „Minho, hast du nicht noch was dabei? Dann könnte jeder einen halben Riegel essen.", schlage ich vor, doch Minho verschränkt seine Arme vor der Brust, sein Gesicht nimmt einen angepissten Ausdruck an.
„Und auch wenn es so wäre, dann würde ich meinen Riegel nicht mit dir teilen!" Das ‚dir' betont er abwertend, als ob er auf mich herunter schaut. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken und ich betrachte Minho fassungslos. „Hast du mich etwa beobachtet?", fügt er hinzu.
Ich schüttle schnell meinen Kopf und schon als ich anfange zu sprechen, merke ich, wie trocken meine Kehle geworden ist. „Nein, ich habe zufällig zu dir geschaut, als du einen Riegel genommen hast!", stammle ich aus mir heraus, wobei meine Stimme eher brüchig als selbstbewusst rüber kommt.
„Sicher, dass du ein Fan von uns bist? Wahre Fans stalken einen nicht. Schon mal was davon gehört?", spottet Minho, und in seinen Augen liegt pure Wut. Ich fühle mich wie gelähmt, unfähig zu sprechen oder mich zu bewegen, während sein Blick mich durchdringt und jede kleinste Reaktion auf seine Worte studiert.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkommt mich, und ich wünschte, ich könnte einfach im Boden versinken und diesem unangenehmen Moment entkommen. Doch ich stehe da, den Blick gesenkt, unfähig, etwas zu erwidern, während Minhos Worte wie Messer durch die Luft schneiden und mich bis ins Mark treffen.
Schützend stellt sich Felix vor mich. „Das reicht jetzt Minho. Bald ist er wirklich kein Fan mehr, wenn du ihn weiter so behandelst! Was ist nur seit gestern in dich gefahren? Du führst dich hier auf wie der letzte Spast. Benimmst dich wie ein Kleinkind! So kenne ich dich nicht! Ich möchte wieder den netten und vertrauenswürdigen Minho zurück haben. Den Minho, dem ich seit Jahren im Dorm über den Weg laufe und über jeden neuen Anime reden kann. Der Minho, der uns allen bei den schwierigen Stellen der Choreografien hilft und aufmuntert, dass wir das schaffen, da wir alles schaffen können. Wo ist dieser Minho hin?"
Felix' Augen werden feucht bei seinen Worten aber jemand musste es mal gesagt haben. Minho sucht hastig nach jemandem, der Felix' Worten widerspricht, doch das Einzige, was er zurück geworfen bekommt, ist ein einheitliches Nicken, welches den Sommersprossenjungen bestärkt.
Die Stille breitet sich aus wie ein unsichtbarer Nebel, erstickt jeden Versuch, sie zu durchbrechen. Die Zeit ist wie eingefroren, während sich die Emotionen ihren Weg durch die verkrampften Herzen bahnen. Ein bedrückendes Gefühl der Unausgesprochenheit legt sich über die Szene, und die Atmosphäre wird von einer zermürbenden Schwere durchdrungen. Es ist ein Moment der betretenen Stille, in dem die Worte ihre Macht verlieren.
Erst Chan schafft es die Ruhe zu unterbrechen, noch kurz bevor die Stimmung endgültig in den Keller fallen kann. „Du kannst mit uns reden Minho... wir stecken hier alle fest aber wenn wir uns streiten, dann macht es das nicht sonderlich erträglicher."
Sein Blick ist hart und unnachgiebig, doch Minhos Gang Richtung Ausgang wirkt ungewöhnlich schwerfällig, als trüge er das Gewicht der ausgesprochenen Worte auf seinen Schultern. Die Tür fällt mit einem gedämpften Klicken ins Schloss, und für einen Moment bleibt die Stille, die er zurückgelassen hat, im Raum stehen.
Wir bleiben ratlos zurück und unsere Gedanken wirbeln wie Blätter im Wind. Obwohl Minhos Worte mehr als verletzend waren, kann ich nicht umhin sein enttäuschtes Gesicht vor meinem inneren Auge zu sehen. Es wirkt fast so, als hätte er erwartet, dass die anderen ihm zustimmen und sich gegen mich stellen. Die Atmosphäre im Raum ist angespannt und unangenehm, als würde die Abwesenheit von Minho einen unüberwindbaren Abgrund hinterlassen haben.
Da ich bereits nach dem Motorradfahren für mich entschieden habe, Minho keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken, versuche ich all meine Gedanken an ihn und sein Gesagtes zu verdrängen. Ich bin der erste, der sich von der Stelle bewegt und zwischen den Massen an Regalen verschwindet.
In meinen Überlegungen bin ich schon längst bei einem anderen Thema und jegliche Gedanken an Minho werden irrelevant. Es gibt zwei andere Dinge, die misch beschäftigen. 1. Das Gedicht. Ich brauche dringend Antworten aber ich bin mir unsicher, ob mir dieses Gedicht meine Fragen beantworten kann. Und 2., ich brauche dringend ein Buch, welches es schafft, mich von allem abzulenken.
Schon immer wollte ich diese Bibliothek besuchen. Das ist die Bibliothek in Seoul und hier kann man wirklich alles finden. Normalerweise aber sind hier zu viele Touristen und alles ist vollgestopft, weswegen ich nie wirklich die Chance hatte, hier her zu kommen.
Ich schlendere durch die endlosen Gänge, meine Schritte hallen leise in der Stille wider. Über mir erstrecken sich hohe Decken, von denen schwache Lichtstrahlen durch die riesigen Fenster eindringen und die verstaubten Bücher mit einem sanften Glanz umgeben. Große Regentropfen prasseln auf das Glas, das Unwetter hat sich wohl das beste Timing ausgesucht. Passend zu der Stimmung aller. Die Luft ist erfüllt von einem sanften Duft nach altem Papier und Holz.
Meine Finger streichen über die Rücken der Bücher, die in geordneter Unordnung in den Regalen stehen. Ich betrachte die vertrauten Klassiker neben den neuesten Veröffentlichungen, die in grellen Farben und mit glänzenden Buchdeckeln um Aufmerksamkeit konkurrieren. Jedes Buch birgt eine Geschichte, eine Welt, die darauf wartet, erkundet zu werden.
Mein Blick wandert über die verschiedenen Genres, von Romantik zu Krimi, von Fantasy zu Historie. Doch meine Augen bleiben schließlich an den Regalen voller Science-Fiction-Bücher hängen. Dort, zwischen den glänzenden Raumschiffen und den fernen Galaxien, finde ich das, wonach ich suche.
Ich ziehe ein Buch aus dem Regal, fühle das Gewicht in meinen Händen und blättere die Seiten durch. Auf dem Cover erkennt man einen wundervollen, blauen Sternenhimmel, welcher im Kontrast zu den gelben Zelten steht. Der Himmel wird durchschnitten von dem Schriftzug ‚Station Eleven' von Emily St. John Mandel. Der Klappentext hört sich unfassbar interessant an, anscheinend geht es um eine Grippe, die es geschafft hat, mehr als 99% der Menschheit auszurotten.
Gespannt, was darin wohl passiert, setze ich mich erneut auf einen der Sitzsäcke. Dieses Mal nur etwas abgelegener, sodass mich erstmal niemand unterbrechen kann. Aber wenn ich aus den Fenstern gucke, bezweifle ich, dass wir in der nächsten Zeit die Bibliothek verlassen können. Mit dem Geräusch des Regens im Hintergrund verfalle ich tief in die komplexe Handlung des Buches.
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