Von Beweisstücken, Vorsehungen und den richtigen Zeitpunkten
08. Mai 1821
Irgendwo auf dem Ozean
"Reue ist die Ebbe nach der Flut der Leidenschaft"
~ Peter Sirius
Jack Calico
Er schloss die quietschende Tür zum Laderaum hinter sich, doch er fürchtete, dass das Geräusch nicht bis zum anderen Ende des Raumes zu ihm durchdringen würde.
Er musste aufmerksam bleiben.
Konzentriert entledigte er sich seines Mantels und krempelte die Ärmel seines weißen Hemdes hoch, ehe er sich an die Arbeit machte.
Vorsorglich verschob er ein paar der Trinkwasserfässer und andere Kisten, öffnete den ein oder anderen Deckel, ehe er lauschte. Nur ein Paar Füße, das über ihm im Batteriedeck hin und her lief. Gedämpfte Stimmen aus dem angrenzenden Schlafraum. Jack schüttelte den Kopf. Die Männer der Nachtschicht sollten schlafen, nicht tratschen. Unzufrieden biss er sich auf die Lippe und beschloss im Anschluss an seinen Plan die Matrosen zur Ordnung zu rufen.
Konzentriert wandte er sich dem hintersten und dunkelsten Teil des Laderaums zu. Die gigantischen Stoffbahnen lagen ordentlich zusammengefaltet in einem dreigeschossigen Regal. Obwohl sie trocken eingelagert waren, wiesen sie ein erhebliches Gewicht auf und es brauchte mindestens zwei Männer, um ein Segel, das zusammengefaltet immer noch die Größe eines Kalbs hatte, auf die vorgesehenen Bretter zu hieven. Jack hob seine Laterne und wurde fündig.
Auf Kniehöhe ragte der Zipfel eines zerschnittenen Segels empor. Jack fluchte. Wenn es ihm bereits gelang innerhalb weniger Minuten verräterische Spuren zu entdecken, konnte auch jeder andere Mann darauf aufmerksam werden. Er musste Beweisstücke beseitigen. Schnell kniete er sich nieder und entzündete ein Streichholz, das er an die ausgefransten Fasern hielt. Sie begannen zu kokeln, fingen aber kein Feuer.
"Verfluchter Mist."
Jack hörte das bekannte Geräusch schwerer Schritte am anderen Ende des Laderaums. Keine zwei Sekunden später durchschnitt Jonahs tiefe Stimme die von Feuchtigkeit geschwängerte Dunkelheit
"Jack, bist du hier unten?"
"Aye!"
Er richtete sich auf und ließ das erloschene Streichholz in seiner Tasche verschwinden. Sein Steuermann schob sich angestrengt zwischen den eng stehenden Kisten und Fässern hindurch und musste den Kopf einziehen, um nicht an die niedrige Decke zu stoßen.
"Die beiden Jungen machen sich gut, dass du ihnen das Steuer überlässt, aye?", wollte er von Jonah wissen.
"Aye. Mr. Bess und Mr. Stevens haben viel gelernt. Bei einfachen Bedingungen überlasse ich ihnen das Steuer, dann können sie ihre Fähigkeiten ungestört austesten, ohne dass es zu größeren Katastrophen kommt."
Jack nickte und machte sich an den Trinkwasserfässern zu schaffen.
"Mr. Casterly hat mir berichtet, dass inzwischen drei Männer über Symptome klagen", erklärte er, ohne genau darauf einzugehen, von welchen Symptomen er sprach. Er öffnete den Deckel eines weiteren Fasses. Das Wasser roch zwar nicht mehr ganz so frisch, schien aber nicht befallen. "Ich muss rausfinden, ob wir uns bereits was eingefangen haben. Wenn wir bei Bristol anlegen, tauschen wir einmal alles aus und lassen die Fässer in der Sonne trocknen. Und danach suchen wir uns eine hübsche, kleine Schaluppe und lassen unsere Männer frisch gestärkt darauf los. Langsam sind sie soweit."
Jack sah auf. Jonah musterte sein Vorhaben ohne Wertung. Ohne eine Miene zu verziehen.
"Willst du, dass ich dir helfe, Käpt'n?"
"Klar!"
Mit Jonahs Hilfe ging es wesentlich schneller, die verbliebenen Fässer zu überprüfen. Allerdings fanden sie Nichts. Gemeinsam schoben sie die letzte Kiste mit Lebensmitteln, die Jack zuvor verrückt hatte, zurück an die Bordwand und sicherten diese mit einem Netz, ehe Jonah erneut die Stimme erhob.
"Kannst du nicht schlafen, Käpt'n?"
"Wovon redest du?"
"Seit fünf Tagen segelst du uns sicher durch die Nacht. Für gewöhnlich sieht man dich dann während des Tages nicht. Erst wenn die Schatten sich wieder der Welt bemächtigen, erhebst du dich mit der Dunkelheit. Aber seit ein paar Tagen ..." Er machte eine Pause. "Seit ein paar Tagen hältst du dich auch tagsüber an Deck auf und treibst die armen Seemänner mit deinem überheblichen Grinsen in den Wahnsinn."
Jack hob fragend eine Augenbraue.
"Was willst du mir sagen, Jonah?"
Der Hüne runzelte betroffen die Stirn.
"Ich will sagen, dass du deine Schadenfreude über Bens Erniedrigung weniger offen zur Schau stellen solltest. Der Bengel leidet ungemein."
"Aye, der Bengel leidet ungemein rechtens!", fuhr Jack ihm dazwischen. "Hat er dir verraten, was er angestellt hat?"
Jonah bewegte verneinend den Kopf.
"Hat was über ein Fass mit Whisky genuschelt, das er bereut", fügte er dennoch an.
Jack entfuhr ein ungläubiges Lachen.
"Zumindest das kann man ihm anrechnen. Dass er die Klappe gehalten hat, meine ich." Dann machte er eine bedeutungsschwere Pause. Fast fürchtete er sich vor der Reaktion seines Freundes. Doch es würde nichts bringen, es zu verheimlichen. "Du erinnerst dich doch noch an Grayson Parker, nehme ich an?"
Jack beobachtete, wie Jonahs Augen sich bei der Erinnerung an den Jungen weiteten. Ihm selbst gelang es nicht zu verhindern, dass ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfte, als der Name über seine Lippen sprang. Aber er rang das Flattern in seiner Magengrube nieder und blieb ernst.
"Er war es, den ich am Abend des Sturms aus dem Wasser gezogen habe. Ben hat ihn an Bord geschmuggelt. Ich weiß nicht, womit Parker ihn bestochen hat, dass er das tat. Vielleicht hat Ben auch einfach nur gehandelt, weil er meinen Grund nicht nachempfinden konnte und mich eines Besseren belehren wollte. Aber er hat mir einen Monat lang ins Gesicht gelogen." Nachdrücklich ballte er seine Hand zur Faust und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf eine der Kisten. "Er soll seinen Käpt'n nicht anlügen. Und mein Grinsen hat nichts mit Schadenfreude zu tun."
Jonahs Blick lag lange auf ihm. Jack fühlte die schwelende Energie seines sehenden Auges in seiner Brust kribbeln. Doch dann brummte sein Freund lediglich seine Zustimmung.
"Du wirst dich fragen, was dies für dich und meine Vorhersehung bedeutet", hob sein Freund an. "Jetzt, da der Junge hier an Bord ist."
"Aye, natürlich tue ich das", zischte Jack. "Aber doch nicht hier! Wenn einer der Männer mitbekommt, dass ihr Käpt'n ein abergläubisches Weichei ist, das sich von einer Hexe die Karten legen lässt, dann können wir gleich über die Planke in den Ozean springen!"
Jonahs amüsiertes Lächeln strahlte weiß durch das schummrige Licht zu ihm hinüber.
"Folge mir!", wies Jack ihn an, griff nach seinem Mantel und verließ den Laderaum mit Jonah im Schlepptau. Er würde Parker heute Abend darauf hinweisen, seine Spuren besser zu verwischen und ihm eine Schachtel Streichhölzer mitgeben.
Draußen auf dem Gang lauschte er eine Sekunde, ehe er sich zuerst nach rechts wandte und ohne zu klopfen eine Tür aufstieß, die in einen der Schlafräume führte.
Ein paar Matrosen der Nachtschicht saßen auf ein paar Kisten und spielten im Licht einer funzeligen Öllampe irgendein Würfelspiel. Als sie erkannten, wer sie unterbrach, sprangen sie auf. Ertapptes Entsetzen machte sich auf ihren Gesichtern breit.
"Versenk mich doch! Sie sollen schlafen und nicht ihre noch nicht verdienten Prisen verspielen! Löschen Sie ihr Licht und dann ist Ruhe, sonst können Sie ihre Nachtschichten in Zukunft am Mast verbringen!", fuhr er die Seemänner an, ehe er ohne eine Antwort abzuwarten die Tür wieder hinter sich zu donnerte. Ein schuldbewusstes Aye, Sir drang dennoch durch das Holz zu ihnen hinaus.
Jack hörte das verschwiegene Lächeln in Jonahs Worten, als sie den Gang entlang schlenderten.
"Es geht zu schnell und man steht auf der anderen Seite der Tür. Vor nur zwei Jahren wurden wir gleichermaßen angeranzt."
"Aye, nur dass Charles Vane uns tatsächlich an den Mast hat binden lassen", raunte Jack zurück. "Hat nicht viel gefehlt und er hätte einmal mehr die Neunschwänzige rausgeholt."
Nach einiger Zeit in den finsteren Eingeweiden des Schiffes blendete ihn der helle Schein der Sonne, als sie über das Deck eilten, ehe sie sich im gedämpften Licht seiner Kajüte wiederfanden. Jack zog die restlichen Vorhänge aus dunkelgrünem Samt zu und Jonah schloss die Tür hinter sich.
Ohne weitere Umschweife fing er an zu reden.
"Weißt du, es ist doch so: Du hast Parker gesehen, einen Sturm und dass der Junge das Ruder an sich reißt. Und all das ist eingetroffen. Ich habe ihm im Sturm das Leben gerettet und nun leistet er mir des Nachts Gesellschaft, knüpft hier und da ein paar Knoten und strahlt voller Stolz, wenn ich ihn eine Halse fahren lasse, während ich mir in aller Ruhe Kaffee in den Rachen kippen kann." Er hob die Hände. "Außerdem spielt er Schach. Keine Spur von meinem Untergang. Alles bestens."
So sehr er sich wünschte, dass seine Erklärung ausreichen würde, um die Vorhersehung seines Schicksals zu besänftigen, umso sicherer war er sich einen Atemzug später, dass diese Zusammenfassung seinen Steuermann eine abgrundtiefe Furcht in die Augen trieb. Dessen breite Nasenflügel blähten sich, als er sich mit beiden Händen auf dem breiten Arbeitstisch abstützte. Seine Lider weiteten sich und das überirdische kalte Blau seines Auges stach Jack mitten ins Herz. Er hielt den Atem an.
"Der Junge wird dein Innerstes entzwei reißen. In den Flammen einer Entscheidung liegen Stärke und Schwäche nahe beieinander. Unter Deck kann nicht gefunden werden, was nicht existiert. Er wird dir wegnehmen, was du bereits besitzt, ohne es dir zu stehlen."
Jonah blinzelte verwirrt.
Jack musste hart schlucken.
Für einige Atemzüge sagte keiner von beiden ein Wort, ehe Jack seine Stimme wiederfand.
"Das war anders als sonst", befand er tonlos.
Schwer atmend löste Jonah seine angespannte Haltung auf. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.
"Was zum Henker Jack! Ich verstehe, dass du den Jungen nicht einfach über die Planke schicken kannst, zumal er jetzt ein fester Bestandteil der Mannschaft ist, aber wenn du meinen Rat hören willst ... Es wird der richtige Zeitpunkt kommen, an dem du ihn loswerden kannst. Und dann solltest du nicht zögern."
Jack hielt dem Blick des Hünen stand. Dann deutete er mit einem Nicken seines Kopfes hinüber zu der Wand, in der er seine Getränke aufbewahrte.
"Whisky oder Wein?"
Sein Freund atmete geräuschvoll durch die Nase aus.
"Sehe ich aus wie ein Mann oder eine Maus?"
"Nimm dir, was du willst."
Jack ließ sich kraftlos auf seinem Stuhl nieder, während Jonah sich großzügig an den Getränken bediente. Das war alles andere als gut. Müde rieb er sich mit beiden Händen über das Gesicht. Selbst wenn es beim Landgang in einigen Tagen ein Leichtes sein würde, ihn loszuwerden, in diesem Augenblick war Jack sich sicher, dass er auf die Gesellschaft des Jungen nicht verzichten wollte. Matt begann er in einer der schwergängigen Schubladen zu kramen.
"Da wir gerade von richtigen Zeitpunkten sprechen. Es dauert nicht mehr allzulange, wenn der Wind gut steht sind wir in einer Woche bei Bristol. Vielleicht ein, zwei Tage länger. Ich will, dass du mit an Land gehst und ein Auge auf alle hast."
Jonah nahm einen Schluck seines Getränks und gab ein erleichtertes Raunen von sich.
"Natürlich Käpt'n."
"Es böte sich außerdem Gelegenheit einer ganz bestimmten Person einen Brief zukommen zu lassen. Möchtest du, dass ich dir beim Verfassen eines Schriftstückes zur Hand gehe?" Er breitete einen Stoß Pergament vor sich aus und griff nach einer Feder, die er zwischen seinen Fingern hin und her schwang.
Jonahs Augen weiteten sich erneut, als er begriff, welche Möglichkeit Jack ihm anbot. Ein liebevolles, weiches Lächeln umspielte die vollen Lippen seines Freundes, als er sich ebenfalls auf einem der Stühle niederließ.
"Sie würde sich sicher freuen, ein Lebenszeichen von dir zu erhalten."
"Aye." Die goldene Wärme, die mit einem Mal in der Stimme des Hünen mitschwang, schien dessen Mitte zum Leuchten zu bringen. "Wie beginnt man einen Brief?"
Jack tunkte die Feder in das Tintenfass.
"Mit ihrem Namen. Ihrem richtigen Namen."
"Mali. Mali Abimbola."
"Teuerste Mali ... Oder nein. Meine teuerste Mali." Auffordernd sah er seinen Freund an.
"Sollte ich sie wissen lassen, dass es mir gut geht?", fragte Jonah, mit einem mal verunsichert.
"Das wird sie in dem Moment wissen, in dem sie einen Brief von dir in den Händen hält. Das können wir später noch einmal einbinden. Aber die Frau will doch sicherlich wissen, dass du an nichts anderes denkst, als an sie, wenn du dir einen von der Palme wedelst. Allerdings sollten wir das für dein rosa Frauenzimmer womöglich etwas romantischer formulieren."
"Meine teuerste Mali ...", wiederholte Jonah. "Ganze vier Wochen schon fehlt mir dein Anblick. Ich sah den Neumond, aber dich nicht. Ich sah die Sonne unter und wieder aufgehen, aber keine Spur von deinem bezaubernden Lächeln."
Jack schrieb die Zeilen nieder. Jonah schwärmte von dem Feuer in ihren Augen, der Wärme ihrer Berührung und der Kunst ihrer Liebe. Und Jacks Gedanken formten mit jedem liebevollen Satz, den er für seinen Freund niederschrieb, die Erinnerung an eine ganz andere Frau.
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