Die kalte Klinge eines Messers Teil II
13. Mai 1821
Atlantischer Ozean nahe England
„Sei Retter der Welt – liebe."
~ Marion Gitzel
Anne Bonny
Ihr Blick lag auf Calicos Rücken. In ihren Ohren hallte der Klang der Kanonen nach, ebenso die Jubelrufe der Männer.
Ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust, ihre Atmung ging schnell.
In ihrer schwitzigen Hand hielt sie den Revolver fest umklammert, den Winston ihr gereicht hatte.
„Bist du bereit deinen ersten Mann zu töten, Parker?", hatte er mit einem Grinsen im Gesicht gefragt, die Augen funkelnd vor Vorfreude. „Der erste kostet Überwindung, aber dann ist es, als würde man Fliegen in der Kombüse erschlagen. Es geschieht wie von selbst und du hörst auf darüber nachzudenken."
„Ja", hatte sie ihm geantwortet. Gelogen.
Ihr Finger verharrte am Abzug ihrer Waffe. Sie presste die Kiefer so fest aufeinander, dass es schmerzte.
Von Anfang an war ihr bewusst gewesen, dass dieser Moment kommen würde. Diamond hatte ihr prophezeit, dass ein jeder Mann an Deck gebraucht würde, wenn es zum Entern kam.
Zwar hatte die dunkelhäutige Hure nicht ganz Recht behalten, denn Theodore, Scarlett und Blackwood waren in der Küche geblieben, aber Anne stand trotzdem hier.
Hier, zwischen all den anderen Männern, die nur darauf warteten, dass Calico den finalen Befehl erteilte.
Nur eine Sekunde später schallte seine Stimme über ihre Köpfe hinweg. Fest und unerschütterlich, einem Fels in der Brandung gleichend: „Klar zum Entern! Angriff!"
Ein scharfer Windzug erfasste Anne, sobald sich die ersten ihrer Kameraden aus den Wanten schwangen, hinüber auf das kleine Handelsschiff.
Das Klirren von aufeinandertreffendem Eisen zerschnitt die Luft, gefolgt von den ersten Schüssen.
Anne beobachtete Jack dabei, wie er über das Schanzenkleid glitt und sprang. Anschließend verschwand er aus ihrem Sichtfeld.
Winston neben ihr jagte los, folgte mit einem lauten Kampfschrei seinem Käpt'n in die Schlacht. Auch Anne setzte sich in Bewegung, wenn auch weniger ergriffen von schriller Vorfreude, sondern eher geprägt von Angst und Übelkeit.
Ihre Füße kamen auf den fremden Planken auf. Sie taumelte, war sie doch noch lange nicht vergleichbar geschickt in diesem Unterfangen wie die meisten ihrer Besatzung, aber sie stürzte nicht.
Mit angehaltenem Atem versuchte sie sich zunächst einen Überblick zu verschaffen.
Die Niederländer setzten sich tapfer zur Wehr, gaben nicht sofort klein bei und das, obwohl bereits jetzt deutlich war, wer dieses Gefecht für sich entscheiden würde.
Ohne Gnade metzelten die Piraten diejenigen nieder, die sich ihnen in den Weg stellten.
In der Sonne funkelnde Klingen zischten durch die Luft, durchbohrten fleischliche Hüllen.
Wieder und wieder ließen Revolver ihre Musik erklingen.
Ein Mann nach dem anderen fiel. Blut besudelte den hölzernen Untergrund. Schreie des Schmerzes, aber auch der Freude drangen an Annes Ohren, während sie einfach nur dort stand und wie in Trance beobachtete, was geschah.
Sie konnte sich nicht rühren.
Noch nie hatte sie einen Toten gesehen, geschweige denn wie jemand starb oder gar ermordet wurde.
Es war brutal. Die Bilder brannten sich in ihrer Netzhaut ein.
Der Gedanke an eine Flucht zwängte sich ihr auf. Aber wohin? Sollte sie über die Seile zurück an Deck der Searose klettern?
Noch bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, wurde sie unerwartet zu Boden gerissen. Ein Niederländer presste sie an der Brust auf die rot beflecken Planken. Das Messer in seiner Hand näherte sich mit erschreckender Geschwindigkeit ihrem rechten Auge.
Sie schloss die Lider, machte sich darauf gefasst das Ende ihres unüberlegten Abenteuers hier und jetzt zu finden.
Da löste sich der Druck über ihrem Herzen. Jemand hatte den Angreifer von ihr herunter gestoßen.
„Steh schon auf!", rief ihr eine bekannte Stimme zu. Einen Wimpernschlag später ertönte ein Schuss ganz in ihrer Nähe, gefolgt von dem Geräusch eines dumpfen Aufpralls auf dem Boden.
Anne öffnete die Augen, starrte dem Blau des Himmels entgegen, das immer wieder von den flatternden, weißen Segeln der Fleute durchkreuzt wurde.
Sie wollte der Aufforderung ihres Retters nachgehen, doch sie konnte nicht.
Gefangen vom Anblick des endlosen Horizonts, der ihr das Gefühl von Frieden vermittelte, blieb sie auf den Planken liegen.
Die Geräuschkulisse des tobenden Kampfs wurde zu einem leisen Surren im Hintergrund, beinahe so wenig bedrohlich wie das sanfte Rauschen des Meeres.
Am Ende hatte sie keine Ahnung mehr, wie lange sie dort verharrt hatte, doch als endlich wieder Bewegung in ihre tauben Glieder kam und es ihr gelang sich aufzuraffen, war die Schlacht vorüber.
Leichen der Niederländer bedeckten das Deck. Nicht ein Mann der Searose befand sich unter den Toten.
Und sie? Ja, sie lebte auch noch. Aber nur Dank Samuel, der ihr einmal wieder den Hintern gerettet hatte. Ausgerechnet er, dem sie auf die Searose gefolgt war, weil sie dachte er wäre mental nicht stark genug für solche Gefechte.
Nur langsam drangen die Stimme des Käpt'ns und das Wimmern und Flehen der Überlebenden Handelsleute wieder zu ihr durch.
Ihr war übel. Sie klammerte sich an die Reling des fremden Schiffes, kämpfte dagegen an, sich zu übergeben.
„Mr. Asbury!", hörte sie Jack nach Winston rufen.
Schwer atmend wandte Anne ihren Blick dem Geschehen zu, fragte sich still, was nun passieren würde.
Würde Jack Gnade walten lassen, dem zitternden Haufen Elend das Leben schenken und sich lediglich an den Schätzen im Bauch der Fleute bereichern? Oder würde er einen jeden der sich ergebenden Männer und Frauen erschießen lassen?
Anne sah Winston und Samuel hinterher, die beide mit ein paar anderen Männern verschwanden, um die transportierte Ware zu überprüfen.
Indes baute sich Jack noch weiter vor den geschlagenen Niederländern auf. „Ist unter euch jemand der englisch spricht und übersetzen kann?", verlangte er zu wissen.
Es dauerte einige Sekunden bis sich tatsächlich jemand meldete. Er wagte es nicht den Käpt'n der Searose anzusehen, zitterte schlimmer als ein nasser, verprügelter Hund.
Jacks Rede schallte über das Deck, zwischendurch das Lachen seiner Männer. Sie machten sich über das traurige Schicksal der Überlebenden lustig.
Anne würgte, ihre Fingernägel krallten sich fester in das spröde Holz der Reling.
Wie konnte Calico nur? Hatte sie sich in den gemeinsam verbrachten Nächten doch in ihm geirrt? Sie hatte ihm angemaßt sehrwohl ein Herz und Empathie zu besitzen, jetzt stellte sie diese Dinge allerdings erneut in Frage, auch wenn er den Niederländern einen Ausweg eröffnete, der sie nicht in das Reich Gottes führen würde.
Sich ihm anschließen und Teil der Besatzung werden, oder mit einem Beiboot zurück an Land rudern - das war das Angebot, das er ihnen machte.
Anne schüttelte den Kopf, war der Ausgang dieser Situation doch offensichtlich. Die Männer würden den wenigen Frauen den Vortritt lassen. Sie alle würden niemals in die kleine Nussschale passen. Der Rest war gezwungen, sich Jack zu unterwerfen, oder auf der Fleute zu verbleiben, die ohne intakte Masten verloren war und die sicherlich inzwischen das ein oder andere Leck aufwies durch das das eisige Wasser des Nordmeeres hineinlief. Das Schiff würde sinken!
Der Käpt'n wollte sich gerade von dem wimmernden Menschen abwenden, da zog einer von ihnen ein Messer. Schneller als Jack reagieren konnten, legte er ihm die Klinge an den Hals.
Sonnenlicht reflektierte sich in dem Eisen.
Ein Ruck ging durch Jacks Männer. Sie alle spannten die Muskeln an, wollten Calico zur Hilfe eilen, doch wussten nicht wie.
Keiner von ihnen tat auch nur einen Schritt, aus Angst, der wahnsinnig gewordene Niederländer könnte ihrem Käpt'n die Kehle durchtrennen.
Schrill schrie er etwas, das keiner von ihnen verstand, sprach er doch mit fremden Zungen.
Anne war dennoch klar, was seine Worte bedeuteten - er drohte damit das Leben Jacks zu beenden, sollten die Piraten nicht das Weite suchen.
Samuel und Winston kamen zurück nach oben, lenkten die Aufmerksamkeit des Niederländers für einige Sekunden auf sich.
Genug Zeit für Anne.
Sie dachte nicht über ihr Handeln nach, ihre Füße trugen sie wie von Geisterhand gelenkt über die Planken. Der Revolver in ihrer Hand richtete sich auf den Mann, der Jacks Leben in seinen Fingern hielt.
Ein Schuss ertönte. Die Klinge, die an Calicos Hals geruht hatte, fiel zu Boden. Gefolgt von dem toten Niederländer.
Anne hatte ihm eine Kugel durch den Schädel gejagt. Sie zitterte und doch bereute sie ihre Entscheidung nicht.
Wie ein Sack Kartoffeln knallte der leblose Körper auf die Planken. Blut bespritzte Jacks Gesicht und noch etwas, das verdächtig nach Hirnmasse aussah.
Die Zeit stand still. In ihren Ohren rauschte es laut. Ein hohes Fiepen mischte sich hinzu.
Der Rauch, der noch immer aus dem Lauf ihres Revolvers quoll, lichtete sich.
Annes Herz raste, ihre Hand bebte regelrecht. Sie ließ die Pistole sinken, wagte es nicht den getöteten Mann zu betrachten. Stattdessen hielt sie die Augen starr auf Calico gerichtet. Dieser fixierte sie mit einem Blick, der ihr verriet, dass er vielleicht mit Jonah gerechnet hatte, aber nicht mit ihr.
Schwer atmend wartete sie darauf, dass er die Stille endlich durchbrach, die sich über all den Männern ausbreitete.
Als er das tat, richteten sich seine Worte allerdings nicht an sie, sondern an die Niederländer.
Ihr flaues Gefühl im Magen wurde nur noch stärker. Hätte sie nicht zumindest ein Danke verdient?
Nicht von Bedeutung, sagte sie sich. Denn Jack atmete. Er erteilte weiter seine Befehle, als wäre es niemals zu einem Zwischenfall gekommen.
Stumm folgte sie seinen Bewegungen, während ein einziger weiterer Gedanke ihre Sinne flutete: Winston war im Unrecht gewesen. Es hatte sie keinerlei Überwindung gekostet. Nicht sobald sie begriffen hatte, was auf dem Spiel gestanden war.
Das Leben des Mannes, den sie zu lieben glaubte.
***
Calico Jack
"Ihr verfluchten Landratten! Was an entwaffnet alle Männer und Frauen ging zum Henker nicht in eure kleinen Schafshirne?" Jack ließ seinen vor Zorn lodernden Blick über die Köpfe seiner Crew gleiten, während er weiter vor ihnen auf und ab lief. Allesamt schlugen Sie schuldbewusst ihre Augen nieder. Allesamt mieden seinen Blick. Fast alle.
"Womöglich hat Mr. Scarlett versäumt Ihnen allen beizubringen was genau eine Waffe ist." Er zog an seiner Zigarette. "Mr. Asbury!" Er zeigte auf den Küchenjungen.
"Sir?"
"Handelt es sich bei einem Gewehr um eine Waffe?"
"Aye, Sir!"
"Sehr gut, Mr. Asbury!"
Ohne dem Jungen noch weitere Aufmerksamkeit zu schenken, wandte er sich an den nächsten.
"Mr. Flips, handelt es sich bei einer Pistole um eine Waffe?"
Die leise, unsichere Stimme des Kalfatergehilfen drang kaum zu den Männern um ihn herum durch. "Aye, Sir."
"Mr. Cherleton!"
"Aye!"
"Handelt es sich bei einer Gabel um eine Waffe?"
Jack registrierte, wie der hellblonde Mann für den Bruchteil einer Sekunde zögerte. Sein Kiefer begann zu zucken.
"Kann durchaus als Waffe benutzt werden, Sir!"
Jack hob seinen Finger und deutete auf ihn.
"Sehr richtig, Mr. Cherleton!" Die Sanftheit in seiner Stimme war schmeichlerisch, hielt seiner unbändigen Wut jedoch nicht lange stand. "Sie wissen offenbar alle, dass sogar ein harmloser kleiner Teelöffel als Waffe dienen kann. Daher verlange ich eine verfluchte Erklärung, warum ein scharfes Messer es geschafft hat, mir beinahe die Kehle aufzuschlitzen!" Seine Worte hallten laut über die eingezogenen Köpfe seiner Crew. "Und das, obwohl nicht ein einziger von ihnen auch nur ernstlich verletzt wurde. Es gab zur Hölle noch mal keinen Grund für so eine lebensgefährliche Nachlässigkeit!"
Die betroffene Stille, die ihm entgegenschlug, war Antwort genug. Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette , blies den blauen Rauch in die laue Abendluft und ließ seinen Blick erneut über die Männer wandern. Er sah ihnen an, wie sehr sie sich unter seinen harten Worten wanden. Der Hälfte stand die Röte ins Gesicht geschrieben, die andere hatte die Lippen zusammengepresst, fummelte nervös am Saum ihrer Hemden herum oder scharrte mit den Füßen.
Ein weiteres Mal ging er auf und ab, ohne die Crew aus den Augen zu lassen, seine Schritte begleitet von dem unheilvollen Geräusch seiner Absätze auf den Planken. Er war versucht der schweigsamen Stille noch mehr Zeit zu geben sich anschuldigend über das Deck auszubreiten.
Schließlich blieb er stehen.
"Ein jeder von Ihnen erhält morgen eine Lektion von mir, was Gründlichkeit bedeutet", erklärte er bestimmt. Es fiel ihm nicht leicht. Aber er wusste, dass er seinen Ärger für heute gehen lassen musste. Wie von selbst hob sich seine Hand zu seinem Hals, doch was seine Finger zu spüren bekamen war nicht das lose Ende seines Halstuchs, sondern die glatte Oberfläche einer erbeuteten Kette aus schwarzen, wertvollen Perlen. Schmeichlerisch schmiegte sich das teure Schmuckstück an seine Haut. Er biss die Zähne zusammen. "Aber heute...", sprach er weiter. "Heute Abend gestatte ich Ihnen, sich selbst zu feiern. Sie haben eine Einheit gebildet, eine Crew, Ihre erste Beute gemacht, Sie werden Ihre erste Prise erhalten." Er machte eine Pause. "Sie sind Piraten! Holen Sie den Whisky heraus und trinken Sie, als gäbe es kein Morgen!", befahl er.
Dann nahm er einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippte den übrig gebliebenen Stummel über die Reling ins Meer, ehe er sich nach Jonah umsah. Der Hüne stand nicht weit von ihm entfernt am Schanzenkleid angelehnt und beobachtete ihn mit wachem Blick.
Es brauchte keine Worte und sein Freund folgte ihm in seine Kajüte.
Noch ehe Jack es geschafft hatte, sich seines Mantels zu entledigen, an dem noch immer das Blut und die Hirnmasse des Niederländers klebten, hielt Jonah ihm eine neue Zigarette und ein Glas mit Whisky entgegen. Jack griff zuerst nach Zweitem und stürzte den Inhalt in einem Zuge hinunter. Mit zitternden Fingern griff er anschließend dankbar nach dem Glimmstängel und steckte sich diesen zwischen die Lippen. Dann ließ er sich auf einen der weich gepolsterten Stühle sinken.
Jonah schenkte ihm noch einmal nach.
"Welchen Namen verewige ich heute auf deiner Haut?", fragte er schließlich, nachdem er sein filigranes Werkzeug ausgebreitet hatte.
Jack fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
"Sterrenwind", antwortete er matt. "Aber mach es nicht hier, sondern hier." Er deutete auf seinen rechten Oberarm. "Jedes Schiff, das der Searose unterliegt, verdient einen höher gestellten Platz."
Jack biss die Zähne zusammen und Jonah machte sich an sein Werk.
"Es hat niemand mitbekommen, dass du nahe dran warst die Fassung zu verlieren, Käpt'n!", sagte er irgendwann ruhig, als sein Blick auf Jacks noch immer zitternde Hände fiel. "Falls du diese Sorge hast, kann ich dir deine Angst nehmen."
Jack zuckte mit der Schulter. Der Schmerz der schwarzen Nadel half ihm, sich auf seinen Körper zu fokussieren und der Erinnerung zu entfliehen.
Das kalte Stechen des Metalls durch seine Haut. Die bedeutungslosen Worte des Niederländers in seinen Ohren. Die Angst in den Augen seiner Männer. Und dann ... Parker. Der Junge hatte dem Niederländer einfach eine Kugel in den Schädel gejagt. Ohne mit der Wimper zu zucken.
Er schüttelte den Kopf und nickte dann zu zwei eng verschnürten Stoffballen hinüber, die an der einen Wand seines Gemaches lehnten. Schwarzer Baumwollstoff blitzte am oberen Ende der Hülle hervor.
"Siehst du das da?", lenkte er ab. "Das ist Calico Baumwolle aus Indien." Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. "Ich will, dass du dir Gedanken über eine neue Flagge für uns machst. Hast du unsere Säbel und Entermesser gesehen, wie sie im Sonnenlicht gefunkelt haben?"
Jonah vollendete seinen letzten Stich und sah zu ihm auf.
"Aye, das ist mir nicht entgangen."
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