
Alles hat einen Anfang
„Heirat, die Methode, um ein Häschen in einen Drachen zu verwandeln."
~ Karsten Mekelburg
01. Februar 1821
London
Anne Bonny
Es war kalt auf den Straßen, auch wenn kein Schnee mehr lag.
Eisblumen glitzerten an den vielen Fensterscheiben, der warme Atem der Bürger tanzte in Form weißer Wölkchen durch die Luft.
Ihr blieb keine Zeit mehr.
Ding. Dong.
Der laute Schlag der Kirchturmuhr verleitete ihre Füße augenblicklich dazu, über den nassen Asphalt zu fliegen.
Ding. Dong.
Dabei verlor sie beinahe den himmelblauen Schal aus Wolle, packte ihn gerade noch so, bevor er vom Wind davongetragen wurde.
Eng presste sie ihn an ihre Brust, während sie durch die vollen Straßen rannte.
Dabei stets darauf achtgebend, dass sie niemandem in die Quere kam und auch darauf, dass sie selbst nicht ins Stolpern geriet.
Ding. Dong.
Angestrengt keuchte sie.
Trotz des milden Wetters wurde ihr unglaublich heiß unter dem dicken Mantel, der ihr eigentlich viel zu groß war.
Ihr Vater hatte ihr gesagt, sie sähe darin aus wie ein plumper Sack Kartoffeln, doch das war ihr gleich gewesen, denn das Kleidungsstück hatte einen anderen Wert für sie, als den der Optik.
Ding. Dong.
„Pass doch auf!", brüllte ihr ein aufgebrachter älterer Herr entgegen, als sie beinahe in ihn hineinlief.
Sie hielt nicht an, warf ihm beim Weiterrennen nur ein Verzeihung zu.
Die Melodie der Uhr verstummte.
Sie würde zu spät zuhause ankommen.
Vor ihrem inneren Auge sah sie bereits die drohende Hand ihres Vaters über ihr schweben und sie hörte seine donnernde Stimme in ihren Gedanken.
Du bist eine einzige Enttäuschung, Anne Bonny! Ich hätte dich dem Waisenhaus überlassen sollen!
Angespornt von den finsteren Vorstellungen, rannte sie noch schneller, obgleich sie dachte, dass dies gar nicht mehr möglich war.
Noch bevor sie das letzte Haus in der Baker Street erreichte, verschwand ihre Hand in der rechten Tasche ihres Mantels und sie zog den Schlüssel daraus hervor.
Nicht einmal dazu konnte sie es sich erlauben, eine Pause einzulegen.
Schnell wie der Blitz hatte sie ihn im Schloss herumgedreht und war im kalten Inneren des Gemäuers verschwunden, das sie ihr Heim nannte.
Farblose, weiße Wände, hinter denen sie sich oft so einsam fühlte.
Auch das ganze teure Mobiliar konnte die Trostlosigkeit nicht aus diesem Haus vertreiben.
Sie beeilte sich das Feuer im Kamin zu entfachen und machte sich dann daran das Gemüse für die Suppe zu schneiden, noch bevor sie sich des Mantels entledigte.
Erst als die Mahlzeit in einem Kessel über den prasselnden Flammen aufgesetzt war, zog sie sich aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Hoffentlich würde sie nicht krank werden.
Nun gönnte sie sich doch einen kurzen Moment der Ruhe, ließ ihren Blick den Raum wandern, der langsam wieder an Wärme gewann.
Heimeliger machte ihn das dennoch nicht.
Schwer seufzend betrachtete die Richterstocher die edle Essgarnitur aus wertvollem, qualitativem Eichenholz.
Besah sich dann zum unzähligsten Mal den mit rotem Samt überzogenen Sessel mitsamt Hocker, der vor dem offenen Kamin platziert war.
Auch wenn sie völlig aus der Puste war, war sie doch auch zufrieden mit sich.
Sie hatte alles pünktlich geschafft, bevor ...
Schritte im Flur ertönten, ehe die Silhouette von William Bonny im Türrahmen auftauchte.
Mit einem nichtssagenden Blick betrachtete er das Gesicht seiner Tochter, die schwer schluckte.
Wann war er zurückgekommen?
Er hatte seine Richterrobe nicht mehr an, die weiße Perücke nicht mehr auf dem Kopf.
Die grauen Strähnen, die sich durch sein braunes Haar zogen, glänzten im Licht des Feuers wie flüssiger Mondschein.
Seine dunklen Augen musterten sie so kühl, dass sie zu frösteln begann.
„Ich ... ich ...", stammelte sie, versuchte sich eine plausible Erklärung einfallen zu lassen, wo sie gesteckt hatte.
Wenn er erfuhr, dass sie wieder bei Samuel Cherleton gewesen war, würde er ihr den hübschen Lockenkopf abreißen.
Doch ihr Vater sagte nichts, winkte ab, durchschritt den Wohnraum und setzte sich an den Küchentisch.
Verwirrt von seiner Reaktion blieb sie zunächst wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen, ehe er ihr mit einem Räuspern zu verstehen gab, was sie zu tun hatte.
Flink lief sie zu der großen Vitrine hinüber, holte sein liebstes Whiskyglas heraus, füllte es mit dem besten Glenlivet und stellte es ihm vor die Nase.
Er umgriff es, genehmigte sich einen knappen Schluck, ehe er Anne wieder musterte.
Sein Finger tippte dabei beständig gegen das Trinkgefäß.
Tipp. Tipp. Tipp.
Nervosität begann sich in der Brust der jungen Frau einzunisten.
Stillschweigend setzte sie sich an das andere Ende des Tisches und ließ ihren Blick durch den Raum gleiten, nur um ihren Vater nicht ansehen zu müssen.
Sie betrachtete lieber die weißen Tapeten, die an manchen Ecken einen gelblichen Ton angenommen hatten, da William hier zu oft Zigarren konsumierte.
Zum Leidwesen Delias, seiner Frau und ihrer Ziehmutter, die derzeit auf Reisen war.
Angeblich um ihre Eltern in York zu besuchen, aber Anne wusste es besser.
Sie hatte gehört, wie oft sie sich des Nachts mit ihrem Vater gestritten hatte. Ihretwegen.
Wer wusste schon, ob sie überhaupt wieder heimkehren würde.
Auch wenn die Stille, die sich nun in dem Zimmer ausbreitete, so unangenehm war wie die auf einer Beerdigung, wagte Anne es nicht, sie zuerst zu durchbrechen.
Lieber wartete sie und hielt die erdrückende Schwere aus, die sich auf sie legte und drohte sie zu ersticken.
Die Luft schien dicker als sonst und schwerer zu atmen und trotz des wärmenden Feuers, war ihr bitterlich kalt.
Etwas stimmte hier nicht.
William Bonny wirkte angespannt. Das tat er sonst nie.
Normalerweise war er immer beherrscht, hatte jegliche Emotion stets unter Kontrolle.
So wie er nun dort saß, sein Oberkörper kerzengerade aufgerichtet und seine Hand, die sich derart um das Whiskeyglas verkrampfte, dass man denken konnte, es würde jeden Moment in tausend Stücke zerbersten - das passte nicht zu ihm.
Dunkle Schatten, tanzten ihm durch das schmale Gesicht, vollführten Pirouetten auf seinen markanten Wangenknochen und zogen sanft an beiden Enden seines Oberlippenbarts.
Ein schöner Mann, wenn da nicht immer diese Kälte in seinen braunen Augen liegen würde.
„Du wirst heiraten."
Worte, von denen Anne zunächst glaubte, sie nicht richtig verstanden zu haben.
Sie konnte ihr Herz spüren, das so heftig gegen ihren Brustkorb schlug, als versuchte es aus dem knöchernen Gefängnis ihres Rippenbogens auszubrechen.
Die Hände in ihren Schoß gebettet, versuchte sie ihren Verstand zu beruhigen, der ihr Streiche zu spielen schien.
Heiraten? Sie?
Das konnte er ganz sicher nicht so gemeint haben.
Wer würde sie schon zur Frau nehmen wollen? Die Bastardtochter eines Richters.
Seit dem Tag, an dem sie das Licht der Welt erblickt hatte, hatte William Bonny alles menschenmögliche getan, um ihren Ruf aufzubessern, doch sie war für die londoner Bürger immer nur das Mädchen geblieben, das aus einer Affäre hervorgegangen und das seine Mutter wegen dieser Sünde bei seiner Geburt getötet hatte.
Niemals konnte es sein, dass es einen Mann gab, dem ihr schlechter Ruf egal war.
Anne nahm den Blick von der Tapete, starrte ihren Vater regelrecht an, in der Hoffnung er würde seine Worte wiederholen, ohne dass sie nachfragen musste.
Doch er blieb stumm wie ein Fisch. Seine Augen bohrten sich in ihre.
„Vater, ich glaube ...", begann sie also zu stammeln, doch kam nicht dazu ihren Satz zu vollenden.
„Edgar Cavendish."
Unter ihren trommelnden Herzschlag mischte sich das Gefühl von Übelkeit.
Sie legte sich die Hand auf den Mund, um sich nicht auf den Tisch zu übergeben.
Nein. Das konnte nicht sein. Meinte er das ernst?
Edgar Cavendish, der einundvierzig Jahre alte Professor, der an der Universität Geschichte lehrte?
Er sollte um ihre Hand angehalten haben?
Ganz bestimmt war das nur ein übler Scherz!
William Bonny war nicht unbedingt glücklich über die Tatsache, Anne zur Tochter zur haben, aber das würde er ihr doch niemals antun.
Ihr einen alten verwitweten Mann an ihre Seite zu geben, der das Ende seiner Lebenszeit beinahe erreicht hatte.
Einen englischen Bürger, von dem man sich sagte, er wäre nicht unbedingt ein guter Ehemann gewesen.
Er hätte seine Frau geschlagen.
„Er wird sich gut um dich kümmern und mir eine gute Abfindung zahlen. Mach nicht so ein Gesicht." Williams Stimme klirrte wie Eiszapfen.
Sie hatte sich nicht verhört.
Es war ihm ernst.
Erst als sich auf Annes Zunge der Geschmack von Eisen ausbreitete, wurde ihr bewusst, wie fest sie sich in ihrer Verzweiflung auf die Unterlippe gebissen hatte.
Tränen sammelten sich in ihren Augen, auch wenn sie versuchte sich zusammenzureißen.
Dass William sie nicht liebte, war ihr immer bewusst gewesen, aber dass er sie so sehr hasste, hätte sie nicht für möglich gehalten.
Dass er sie so dringend loswerden wollte.
Sie verhökerte, als wäre sie nicht mehr wert als eine billige Hure.
„Er ist ... er ist einundzwanzig Jahre älter als ich." Nicht mehr als ein Hauchen.
Sie war sich nicht einmal sicher, ob ihr Vater sie gehört hatte.
Erst als das Glas tatsächlich in seinem Griff zerbarst.
Scherben schnitten ihm in seine rauen Hände, Blut tropfte auf die Eichenplatte, mischte sich mit dem übriggebliebenen Glenvilet.
Obgleich es ihm wehtun musste, zeichnete sich nicht das kleinste Anzeichen von Schmerz auf seinen harten Gesichtszügen ab.
Zorn flammte im Braun seiner Iriden auf, vertrieb die Eiseskälte.
Er ballte die Rechte zur Faust, donnerte sie auf den Tisch, dass Anne zusammenschrak wie ein kleines, verängstigtes Kind.
Und wie damals kam in ihr auch jetzt das Bedürfnis auf, einfach davonzulaufen und sich im alten Kleiderschrank ihres Zimmers zu verstecken.
Aber sie blieb sitzen, starrte auf das Blut, das in das Holz sickerte.
Es war kein weiteres Wort nötig.
William Bonny erhob sich von seinem Platz, trat aus dem Raum und ließ nichts als Chaos zurück.
Chaos und eine zutiefst verzweifelte Anne.
Ihre Finger verkrampften sich um den braunen Stoff ihres schlichten Kleides, die blaugrauen Augen noch immer auf das Rot gerichtet.
Der Geruch des verschütteten Alkohols stach in ihrer Nase.
Wie gerne hätte sie nun einfach losgeschrien. Den ganzen Schmerz aus ihrem Körper verbannt.
Stattdessen blieb sie leise. Stumme Tränen rollten über ihre Wangen.
Salzige Tropfen des Kummers und der Angst.
Es war nicht so, als hätte sie nicht schon immer geahnt, dass das Schicksal nichts Gutes für sie bereithalten würde, aber mit so etwas Grausamen hatte nicht gerechnet.
Sie wollte Cavendish nicht heiraten. Sie wollte nicht zu ihm in sein Anwesen ziehen. Sie wollte nicht das Bett mit ihm teilen. Ihm keine Kinder gebären.
Ihre Gedanken zogen hunderte Kreise und so kam es, dass sie noch immer an dem besudelten Tisch saß, als das Feuer im Kamin schon längst erloschen war und sich der Geruch von verbranntem Gemüse im Raum ausbreitete.
Erst als sich die Kälte der Februarnacht unter ihrem Kleid niederlegte, ihren Körper sanft wachküsste, rührte sie sich.
Wie benebelt stand sie auf, taumelte erst ein paar Schritte als wäre sie es gewesen, die getrunken hatte.
Mit mechanischen Bewegungen entfachte sie das Feuer neu, entledigte sich der zerkochten Suppe.
Dann beseitigte sie die Unordnung, wischte das Blut und den Whiskey auf, kehrte die Scherben zusammen und warf sie in den Müll.
Nach getaner Arbeit, mit leerem Blick und pochenden Schläfen, stieg sie die Stufen nach oben und betrat ihr kleines Zimmer.
Es war genauso lieblos gestaltet, wie der Rest des Hauses.
Einen alten Schrank, ein Bett, einen deckenhohen Spiegel und ein Regal mit alten Spielsachen. Mehr als dies gab es nicht zu bestaunen.
Wie damals, als sie das Alter von vielleicht acht Jahren gezählt hatte, schnappte sich Anne auch jetzt die handgemachte Puppe und den viel zu großen Mantel.
Zweites legte sie sich um die Schultern, ersteres presste sie sich, gleich dem wollenen Schal auf dem Heimweg, eng an die Brust, ehe sie sich auf dem breiten Fenstersims, einem Haufen Elend gleichend, zusammenkauerte.
Das Licht der Straßenlaterne fiel auf ihr Gesicht, ließ die Tränen funkeln, die erneut wie ein Rinnsal der Erbärmlichkeit über ihre Wangen liefen.
Sanft streichelten Annes Finger dabei über das blonde Haar des Spielzeugs, das ihre Mutter ihr angefertigt hatte, als sie sie noch in ihrem Leib getragen hatte.
Wieso nur hatte Gott sie zu sich holen müssen? Wie grausam musste er sein, um einem Kind die Mutter nehmen zu können? Und einer Mutter das Kind?
„Oh, Mama", wimmerte die junge Frau. „Was soll ich nur tun? Hilf mir doch."
Der Wind heulte draußen auf den Straßen, schien mit Anne zu leiden, die die Puppe noch fester an sich drückte und den Mantel gleich einem Vorhang um sich zusammenzog.
Tief atmete sie den Geruch ein, von dem sie sich einbildete, er würde noch immer an dem cremefarbenen Stoff haften.
Stachelbeere und ein Hauch von Meersalz.
Nie hatte Anne erfahren dürfen, wie es sich anfühlte von der eigenen Mutter umarmt zu werden, doch der Mantel, welcher der Verstorbenen einst gehört hatte, schmiegte sie nun so sanft an sie, als wären es die tröstenden Arme Elenora Pools.
Unter den Klang des Windes mischte sich der von Regentropfen, die an die Scheibe klopften.
Ein Gewitter zog auf, untermalte das, welches in Annes Innerem herrschte.
Die junge Frau weinte.
Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr übrig hatte.
Noch nie hatte sie sich so leer gefühlt.
So erschöpft. Ausgezehrt von dem Leben, das ihr breits viel zu viel genommen hatte.
Erst die Liebe einer Mutter, eine normale Kindheit und jetzt auch noch ihre Freiheit.
Doch war sie das wirklich jemals gewesen? Frei?
Gerade als sie aufstehen und sich in ihrem Bett zusammenrollen wollte, da sie die finsteren Gedanken nicht mehr länger ertrug, klatschte etwas gegen das Fensterglas.
Erschrocken fuhr ihr Blick nach oben. Ihre Iriden von Angst erfüllt.
Die Puppe glitt ihr aus den Fingern und fiel mit einem lauten Knall auf die Holzdielen, dass Anne abermals zusammenfuhr.
Die dunklen Brauen der jungen Frau hoben sich, während sie das Zeichen musterte, das ihre Mutter ihr geschickt haben musste.
Anders konnte sie sich den Zeitungsartikel, der von Harwich handelte, nicht erklären. Die fettgedruckten Buchstaben schienen sie beinahe schon anzulächeln.
Harwich. Die Hafenstadt, in der Elenora einst das Licht der Welt erblickt hatte.
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