Die Hoffnung stirbt zuletzt
Der Angriff von Riccardo sitzt tief. Der Schrecken beherbergt deinen Körper noch lange Zeit danach, du kannst es besonders an deinem Magen spüren, welcher sich immer noch zusammengezogen hat und auch der Klos im Hals will einfach nicht verschwinden. Was wäre, wenn Isabella nicht gewesen wäre? Hätte Riccardo dich schwer verletzt? Hätte er dich vielleicht sogar getötet? Er war so wütend, du hast es in seinen Augen gesehen. Er hatte schon getötet und er würde es wieder tuen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber er war genauso berechnend. Würde Riccardo wirklich vor haben, dich umzubringen, hätte er es wohl schon früher getan, immerhin hatte er schon des öfteren bessere Gelegenheiten dazu gehabt. Es sei denn, er lässt dich nur aus bestimmten Gründen leben für bestimmte Zwecke, bevor er dir den letzten Atemzug raubt. Deine Hoffnung wird von Minute zu Minute weniger. Du kriechst aus der Decke hervor und bist überrascht, dass Isabella immer noch neben dem Gästebett sitzt. Sie hat sich einen Stuhl geholt und sitzt dort mit pendelnden Beinen. Ihr rotes voluminöses Haar fällt ihr sanft den Rücken herunter und das Kleid mit dem Blumenmuster, welches sie trägt, verleiht ihr ein puppenhaftes Aussehen. Irgendwie ist es kaum vorstellbar, dass so ein süßes Kind solch einen Tyrannen zum Vater hat. Was mag wohl mit ihrer Mutter geschehen sein? Du erinnerst dich an das Gespräch zwischen ihr und Daniella. Isabella glaubt, dass ihre Mutter sie nicht liebt. Sie hat so geredet, als wäre ihre Mutter noch am Leben. Als hätte ihre Mutter sie im Stich gelassen. Hatte ihre Mutter sie verlassen, war sie geflohen und hatte ihr Kind beim tyrannischen Vater zurückgelassen? Würde eine Mutter so etwas tuen? Oder war es vielleicht viel wahrscheinlicher, dass Riccardo ihr etwas angetan hatte und seine Tochter belog? Jedes dieser Szenarien ist schrecklich, einfach furchtbar wie in einem Märchen. Märchen, die dir deine Mutter Fiona früher immer am Kamin vorgelesen hat. Du beginnst, abzuschweifen und der Trauer zu verfallen. Nein! Sagst du dir in Gedanken. Du darfst jetzt keine Schwäche zeigen. Du musst stark sein. Du wirst es schaffen, hier rauszukommen...du....du schaffst es. Du musst. Du MUSST! Mit der Hand fasst du dir an die Stirn. Du fühlst dich erschöpft, ausgelaugt, alles in dir schreit danach, in einen tiefen Schlaf zu fallen und nie wieder aufzuwachen.
„Soll ich pusten?", fragt Isabellas klangvolle Stimme vorsichtig. „Miss Daniella pustet immer, wenn ich aua habe. Dann tut es gar nicht mehr so weh."
Du schüttelst den Kopf. Du wagst nicht zu fragen, was genau sie damit meint. Du musst es nicht wissen, um dir sicher zu sein, dass ihr Vater sicherlich auch seine Hand an seiner eigenen Tochter anlegte, um sie zu züchtigen und zu bestrafen. Wenn du hier jemals lebend rauskommen solltest, wirst du zur Polizei gehen. Du wirst ihnen alles erzählen und sie hierher schicken zum Schloss Belli. Riccardo und all die anderen sollen dafür bezahlen. Für alles. In dir tobt ein großer Wirbelsturm aus Wut, Verzweiflung, Furcht und Ekel. Du ziehst deine Knie zu dir heran und machst dich zu einem kleinen Päckchen. Mit den Armen umschlingst du deine nackten Beine so fest es geht und bettest dein Kinn auf die Knie. Du starrst auf das Porträt an der Wand. Ein Mann mit einer finsteren Miene ist darauf abgebildet. Die Augen kommen dir bekannt vor, du hast das Gefühl, dass sie dir tief in die Seele blicken können. Du fühlst dich aus irgendeinem Grund beobachtet. Nicht von Isabella, sondern von dem Bild. Von einem Bild! Du wirst wahnsinnig! Verrückt. Das liegt an diesem verfluchten Ort, an diesen furchtbaren Menschen.„Wie ist er so?", fragst du Isabella.
„Wie ist es, ihn als Vater zu haben."
In deine Frage legst du so viel Verachtung rein. Dein Kopf dreht sich zu Isabella. Das Mädchen verzieht keine Miene. Du bemerkst, dass die Frage ihr nichts auszumachen scheint. Im Gegenteil, ihre Miene erhellt sich ein wenig. Vermutlich sprachen nicht viele mit ihr und wahrscheinlich ist sie sogar glücklich, dass sich jemand für sie interessiert.
„Tata ist streng, aber er will mich nur beschützen. Er sagt, die Welt da draußen ist böse", antwortet dir Isabella.
Hinter diesen Worten steckt eine überragende Überzeugung. In deinen Ohren erklingt das Ticken der Wanduhr. Das Ticken lenkt dich ein wenig ab, aber du kommst schnell zurück und konzentrierst dich wieder auf das Gespräch.
„Er lügt dich an. Die Welt da draußen ist nicht böse. Aber das, was dein Vater da treibt, das ist böse. Er ist ein Monster."
„Nein, es gibt keine Monster. Monster gibt es nur im Märchen", sagt Isabella.
Bitter lachst du auf. Tief aus deiner Brust schallt es heraus. Es ist dir egal, dass da gerade ein neunjähriges Kind neben dir sitzt. Dich macht das wütend, so unglaublich wütend!
„Hat er dir das gesagt?", fragst du mit einem spöttischem Unterton.
Du bist fassungslos. Noch nie in deinem Leben hast du so etwas erlebt. Und du hast schon einiges gesehen, gelesen oder gehört. Zuhause hast du immer die Zeitung gelesen, du hast dich für Kriminalfälle interessiert, besonders für die, die auf wahren Begebenheiten beruhen. All diese Ereignisse, die andere Menschen erlebten, die du in der Vergangenheit last, all das schien so weit weg zu sein. Die finstere Seite und Boshaftigkeit in einem Menschen war dir so unerklärlich, so surreal, bis jetzt. Jetzt, wo du eines besseren belehrt wurdest. Du bist in einem der schlimmsten Albträume verwickelt, ein nie enden wollender Albtraum mit einer Menge an kranken Psychopathen, die hinter dir und deinem „Azoth" her sind. Diesem sagenumwobenem Azoth, den du nicht haben solltest und doch irgendwo hast, aber nicht einmal weißt, wo und geschweige denn, wie er aussieht oder wie du ihn selbst bekommst. Ist der Azoth eine Art Superkraft? Wenn es doch Bösewichte gibt, gibt es dann nicht auch Kräfte, die du nutzen kannst, um sie zu verletzen? Vielleicht, vielleicht...vielleicht würdest du dich, wenn es soweit kommen sollte, selbst umbringen. Vielleicht kannst du mit deinem Tod den Azoth zerstören und ihnen so ihre Lektion heimzahlen. Nein! Hör auf so töricht zu sein! Du scheltest dich selbst für diese vermaledeiten Gedanken. Deine Hände fahren dir durch das verknotete und verklebte Haar.
„Eltern sollten einen beschützen, Isabella. Dafür sind Eltern da. Die Welt da draußen ist nicht böse, sie ist unglaublich groß und manchmal kann sie auch in einer Form angsteinflössend sein. Aber da gibt es noch so viel mehr zu sehen. Hast du dich nicht jemals gefragt, was hinter den Mauern liegt? Hast du jemals eine Blumenwiese gesehen? Ein Eis gegessen? Eine Sandburg gebaut? Mit anderen Kindern Fangen oder Verstecken gespielt? All das sollte ein Kind dürfen. Ein Kind sollte Kind sein. Ein Kind muss lernen, Fehler zu machen, mal hinzufallen und wieder aufzustehen, ohne dafür bestraft zu werden. Denn das ist Leben. Und das kannst du nur lernen, wenn du in die Welt gehst und sie entdeckst."
Isabella scheint wirklich über deine Worte nachzudenken.
„Aber du kannst auch mit mir hier verstecken spielen. Im Schloss", plappert sie vergnügt.
„Ist es nicht viel spannender, wenn wir es an einem Ort spielen, den du noch nicht kennst?", fragst du behutsam, beinahe zärtlich.
„Nimmst du mich mal mit?", fragt sie mit strahlenden Augen.
„Natürlich."
„Versprichst du es?"
Du zögerst, aber dann nickst du.
„Ja, ich verspreche es dir."
Auf einmal springt Isabella auf. Sie springt direkt in deinen Schoß und umarmt dich. Diese Reaktion ist so plötzlich, dass du erst eine Zeit brauchst, um zu reagieren. Aber schließlich erwiderst du es. Du fühlst ihre Wärme, ihre zarten Arme, ihren ebenso zarten Körper. Ihre Verletzlichkeit außerhalb. Aber ihre Haut, sie fühlt sich so ledrig an, so wie die Haut von Riccardo und dir läuft es eiskalt den Rücken herunter.
„Danke!!!!", haucht Isabella in dein Ohr.
Der Schmerz und die Angst der letzten Stunden sind fürs erste Verschwunden. Bis zu dem Moment, als dieser idyllische Moment prompt durch ein hektisches Klopfen an der Zimmertür unterbrochen wird. Dein Puls rast auf der Stelle von Null auf Hundert zurück. Du bekommst Panik und schiebst Isabella sofort von dir Weg. Mit beiden Beinen springst du auf, unsicher, wohin du jetzt laufen sollst.
„Miss, ihr warmes Bad wartet auf Sie", hallt Daniellas kalte monotone Roboterstimme vom Flur herein.
Oh Gott, Oh Gott, Oh Gott!!!! Wenn sie dich hier findet!!!! Hektisch läufst du durch das Zimmer, suchst nach einem Versteck. Sie weiß, dass du hier bist. Wenn Daniella reinkommt, wird sie dich finden und in deinem jetzigen Zustand bist du weder fähig, lange zu laufen noch dich körperlich zu wehren.
„Egal, was passiert, Isabella. Bitte, bitte, bitte, sag nicht, dass ich hier bin", flehst du das Mädchen aus Leibeskräften an.
Isabella sieht dich nur verständnislos an. Sie versteht nicht, was hier passiert. Mit Erschrecken siehst du, wie die Türklinke sich langsam nach unten bewegt. Im letzten Moment stürzt du unter das Bett. Du hörst die Schritte der Dienstmagd, wie sie gefährlich näher kommen.„Miss Daniella", sagt Isabella freundlich und respektvoll. Du siehst durch das Bett hindurch und versuchst, Daniella zu entdecken. Da das Bett, unter welchem du liegst, erhöht steht und der Rest des Raumes weiter unten, kannst du nur Daniellas Haare erkennen. Doch nicht lange, schon hörst du die Schritte ihrer Schuhe auf den Treppen. Sie kommt hier hoch, sie kommt...zu euch.
„Der Meister wünscht unseren Gast zu sehen", sagt Daniella. „Wo ist unser Gast?"
„Sie ist ...nicht hier. Sie ist draußen, Blu-Blumen pflücken", lügt Isabella ganz unschuldig mit ihrer engelslieblichen Kinderstimme, die wie ein Glockenspiel in deinen Ohren klingt.
Du siehst, wie sie hin und her wippt, wie sie nervös ihr Gewicht abwechselnd auf Ferse und Ballen verlagert. Der Lack ihrer schwarzen Halbschuhe ist stark abgenutzt, die weiße Strumpfhose völlig verdreckt. Du bist so erleichtert und dankbar, dass dieses Kind auf deiner Seite steht. Isabella gibt dir Deckung! Und Daniella scheint den Bissen zu schlucken.
„Muss Miss finden und Sie ins Bad bringen....Befehl des Meisters....muss Miss finden....Miss muss tuen, was der Meister sagt...."
Daniella sagt dies, wie ein Mantra und schlürft durch die andere Tür aus dem Zimmer. Erst, als die Tür für ganze dreißig Sekunden zu ist und du nichts mehr hörst, traust du dich aus deinem Versteck. Das war knapp! Du kriechst hinaus und siehst hoch zu deiner Retterin.
„Danke Isabella", sagst du voller Erleichterung und ehrlicher Dankbarkeit.Das Mädchen grinst dich zur Antwort von oben an.
Ein Hundebellen ertönt. Hundebellen....du runzelst die Stirn. Ein Hund? Es gibt Hunde hier auf Schloss Belli? Du hast hier während deinem Aufenthalt außer der Riesenechse keine Tiere gesehen. Das Bellen hört nicht auf, es wird immer lauter und du bekommst es, mit der Angst zu tuen. Das Bellen könnte Daniella zurück locken. Beide lauft ihr zum Fenster. Du kannst deinen Augen kaum trauen, als du unten im Garten am Baum siehst, wer da wild herum springt und sich im Kreise dreht.
„Howard????"
Das muss ein Traum sein. Du blinzelst ein paar mal, aber das Bild bleibt. Er ist es, er ist es! Schwanzwedelnd läuft da unten ein riesiger deutscher Schäferhund herum und kläfft sich lauthals freudig die Seele aus dem Leib. Das ist Howard. Fionas Hund. Mit ihm bist du groß geworden. Er kam in eure Familie, nachdem Hewie gestorben an Altersschwäche gestorben ist. Den Tag wirst du nie vergessen, denn dieser eine Tag hat dazu beigetragen, dass es deiner Mutter Fiona immer schlechter ging. Sie schloss sich tagelang im Zimmer ein bis dein Vater William mit dir einen Schäferhundwelpen adoptierte, den ihr Howard nanntet. Und genau dieser Hund ist jetzt hier. Und wenn Howard hier ist, dann ist deine Mutter vielleicht auch nicht weit. Du bist gerettet! Doch du darfst jetzt nichts unüberlegtes tuen. Niemand darf wissen, dass Howard hier ist.
„Howard!", zischst du bestimmend. „Sitz!"
Howard setzt sich gehorsam hin.
„Bleib da und keinen Mucks. Sonst bringst du mich in Schwierigkeiten", wirfst du gleich hinterher und tatsächlich hört der Hund auf, zu bellen.
Stattdessen beginnt er, geduldig zu hecheln. Du drehst dich um, siehst nochmal aufmerksam zu allen Seiten. Als du dir sicher bist, dass Daniella nicht zurückgekehrt ist, schleichst du dich hinaus. Die kalte Luft fegt durch deine nackten Beine. Du musst die Tür wieder schließen, eilst noch einmal zum Kleiderschrank und kramst dir eine Hose heraus. Sie ist zwar viel zu groß, aber du krempelst die Enden einfach um, bindest dir noch einen Gürtel um die Hüfte, schlüpfst in deine Stiefel und eilst dann hinaus, dicht gefolgt von Isabella, die unbedingt mitkommen will (du konntest es ihr nicht ausreden). So schnell dich deine Beine tragen können hechtest du die Steintreppen hinunter, welche nur spärlich durch die Fackeln beleuchtet sind. Die Dämmerung ist wieder hereingebrochen. Den Hund zu umarmen ist das erste, was du tust, als du den weichen Grasboden unter den Füßen hast. Howard wedelt heftig mit dem Schwanz und leckt dir über das ganze Gesicht. Noch nie hast du dich so über diese nasse Zunge gefreut.
„Oh, Howard. Mein liebster Howard!", schluchzt du. „Du kannst gar nicht wissen, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen."
Howard bellt zur Antwort und springt nervös mit seinen Vorderpfoten hin und her. Er ist genauso glücklich, dich zu sehen. Als du ihm das Fell hinter den Ohren kraulst, entdeckst du an seinem Halsband einen Zettel. Du nimmst ihn, faltest ihn auseinander und liest ihn:
An meine liebste Tochter,
Ich hoffe, dass dieser Brief dich noch rechtzeitig erreicht und dass du wohlauf bist. Ich sterbe hier vor Sorge. Ich kann gerade nicht da sein. Ich weiß, du musst furchtbare Angst haben und es macht mich als Mutter fertig, zu wissen, wo genau du gerade bist. Drum lass mich dir schnell von diesem Ort berichten. Du befindest dich im Schloss Belli. Es gleicht eher einem Geisterschloss und ist schlimmer verwinkelt als jedes Labyrinth. Deswegen habe ich dir Howard geschickt. Er wird dich führen und beschützen. Wir haben nicht viel Zeit, ich und dein Vater versuchen mit allen Kräften, dich daraus zu holen.
Bis dahin pass auf dich auf und egal, was passiert. Halte dich unbedingt von Lorenzo und den anderen Einwohnern fern! Vertraue niemandem!
Ich liebe dich mehr als mein Leben, meine liebste Tochter. Vergiss das niemals.
Halte durch,
Deine Mutter
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