Kapitel 8
1893 Keely
Abbie Emerson, Keelys Hausmädchen, war ganz blass, als sie heute zur Arbeit erschien. Keely runzelte die Stirn und folgte ihr in die Küche. „Guten Morgen, Abbie."
Das Mädchen band sich ihre Schürze um und schniefte vernehmbar. „Guten Morgen, Ma'am."
Keely ging auf sie zu und legte einen Arm um ihre Schultern. „Was ist los, Liebes? Du bist ganz blass und hast rote Augen. Fühlst du dich nicht gut?"
Abbie schüttelte den Kopf.
„Sag mir, was los ist, Abbie."
„Meine Mama, sie ist gestern Abend gestorben."
Keely umarmte das Mädchen herzlich und murmelte leise: „Das tut mir leid, Liebes." Wieso gab es eigentlich keine Worte, die dem Schmerz der Trauer gerecht werden konnten?
Abbie schluchzte jetzt haltlos. „Wir wissen nicht, was wir jetzt machen sollen."
Keely erwiderte nichts darauf, sondern hielt ihr Hausmädchen einfach nur fest. Was sollte sie denn auch sagen? Tröstliche Worte konnten so leer und hohl klingen; sie hatte es selbst erlebt. Manchmal tat es einfach nur gut sich bei jemanden auszuweinen.
Abbie löste sich jetzt aus Keelys Umarmung und wischte sich mit ihrem Ärmel die Tränen fort. „Es tut mir leid, Ma'am. Ich habe noch gar nicht mit den Vorbereitungen für das Frühstück angefangen."
„Das musst du auch nicht, Abbie. Du wirst dir jetzt deine Schürze abbinden und nach Hause gehen. Heute Abend werde ich vorbeikommen und dich und deine Geschwister zu mir nehmen. Außerdem werde ich euch dabei helfen alles für die Beerdigung in die Wege zu leiten. Ihr drei braucht jetzt Zeit für euch und Zeit zum Trauern."
Keely drehte sich in ihrem Bett von einer Seite auf die andere und wartete vergebens darauf, dass der Schlaf sie übermannte. Das Schicksal der Emerson-Kinder wollte sie einfach nicht in Ruhe lassen. Herr Jesus, ich möchte diesen Kindern helfen. Ich weiß doch, und du weißt es auch, wie es ist, wenn man allein dasteht und sich einsam und verlassen fühlt. Sie sind doch so mittellos und Amalia kann nicht die Verantwortung für ihre kleinen Geschwister übernehmen, auch wenn ihr Mann ihr zur Seite stehen wird. Zeig mir, was ich tun soll, o Herr. Ich lege diese Kinder, ihre Zukunft und alles was damit zusammenhängt in deine allmächtigen Hände. Amen. Dieses Gebet nahm großen Druck von ihrem Herzen und sie konnte friedlich und getröstet einschlafen.
Lange währte der Schlaf allerdings nicht. Noch vor Sonnenaufgang schlug Keely die Augen auf. Es hatte keinen Zweck sich weiterhin zu quälen und sie war sich sicher nicht mehr einschlafen zu können. So stand sie auf, kleidete sich an, ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu brühen und setzte sich dann mit ihrer Bibel und dem Kaffee in den Morgensalon.
Langsam ging die Sonne auf, als Keely ihre Stille Zeit bereits beendet hatte und durchflutete den Morgensalon mit ihrem warmen Licht. Fasziniert beobachtete Keely das Farbspiel am Himmel, das auch das Zimmer einfärbte. Das zarte blaugrau der Morgendämmerung wich am Horizont zuerst einem schwachen orange-gelb, das sich immer weiter am Himmel ausbreitete. Der Mond und die Sterne verblassten immer mehr, bis auch der letzte verschwand. Nach und nach färbte sich der Himmel rot und pink, bis ganz langsam ein heller Feuerball am Horizont hinaufkletterte und immer höher stieg und die letzten Überreste der Nacht gänzlich verschwinden ließ.
Keely lächelte und seufzte dankbar. „Du bist so groß, Gott. Deine Welt ist wunderschön und was du geschaffen hast, ist perfekt. Du bist der größte Künstler, der faszinierendste Schöpfer. Danke, dass ich das sehen darf und dich bewundern kann. Danke, dass du die Welt bis ins kleinste Detail durchdacht und wunderbar kreiert hast. Danke, dass ich ein Teil deiner Schöpfung sein darf. Amen."
Sie legte ihre Hand an den Fensterrahmen, des Wandhohen Zimmers und genoss noch ein wenig den Augenblick, bis sie sich zur Beerdigung fertig machen musste. Ihre Gedanken schweiften nochmals zu dem Vers, den sie gerade in ihrer Morgenandacht gelesen hatte, nachdem sie ihr Anliegen von gestern Abend nochmals vor den Herrn gebracht hatte. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf (Matt. 18,5).
„Du willst es, Herr Jesus, nicht wahr? Das ist deine Antwort auf mein Gebet. Herr, rüste mich aus für die Aufgabe, die jetzt auf mich zukommt und bereite auch die Herzen der Kinder zu. Amen", flüsterte sie und verspürte Frieden. Sie wusste, sie würde das Richtige tun.
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Zwei Tage nach der Beerdigung sprach Amilia beim Frühstück die Bitte aus, heute das Grab ihrer Mutter besuchen zu dürfen. Selbstverständlich verwehrte Keely ihr diesen Wunsch nicht und auch die jüngeren beiden wollten mit. Keely beschloss also ihren zweitletzten freien Tag damit zu verbringen mit den Kindern in Erinnerungen an ihre Mutter zu schwelgen, wenn diese sich ihr gegenüber öffnen würden.
Sie machten sich für einen Ausgang fertig und spazierten den kurzen Weg zum Friedhof schweigend. Sie passierten mehrere Grabsteine, bis sie in der letzten Reihe ganz hinten stehen blieben und ihre Augen auf ein sauberes Holzkreuz richteten.
„Myrtle Emerson 09.08.1849 -28.01.1893", las Keely im Stillen.
Die behandschuhten Hände tief in ihren Manteltaschen vergraben, stand sie da und betete für die Kinder, die diese Frau hinterlassen hatte. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die drei Geschwister. Sie hatten sich an die Hände genommen und weinten fast lautlos vor sich hin. Irgendwann schluchzte Abbie laut auf und Keely zog sie in ihre Arme.
Als die Tränenflut der drei nachgelassen hatte, machten sie sich auf den Rückweg zu Keelys Haus. Zarte Schneeflocken tänzelten vom Himmel und entwickelten sich zu einem immer dichterem Treiben, dass ihre Fußstapfen bald unter sich begraben würde. Zu hause angekommen kochte Keely für alle Tee und setzte sich dann mit ihnen an den Küchentisch. Das Letzte, was sie wollte war, dass sich die Kinder jedes für sich in ein Schneckenhaus zurückzog und die anderen Geschwister nicht mehr an sich heranließ. Sie wollte, dass sie über ihren Schmerz und über ihre Erinnerungen an ihre Mutter redeten und sie nicht verdrängen. Die Emerson-Kinder sollten zusammenhalten und füreinander da sein.
Jetzt aber saßen sie mit rotgeweinten Augen mit Keely in ihrer Küche am Tisch und starrten in ihre Teetassen. Keiner sprach ein Wort bis Keely sich räusperte und ihren Plan, den sie sich in den letzten zwei Tagen zurechtgelegt hatte, den dreien unterbreitete. „Also ihr drei, die Zukunft sieht gerade sehr trüb für euch aus, aber ich weiß eine Lösung."
Amilia sah interessiert und aufmerksam auf. Die anderen beiden, schienen Keely gar nicht zu hören. „In den Tagen bei denen ihr bei mir gelebt habt, habe ich euch alle ins Herz geschlossen und ernsthaft über eure Zukunft nachgedacht."
Sie räusperte sich erneut. Gott, gib mir Kraft. „Jetzt wo ihr nur noch euch habt, möchte ich euch gerne helfen. Ich möchte euch gerne adoptieren, wenn ihr damit einverstanden seid und eure selige Mutter vertreten. Ich will sie nicht ersetzten, denn das kann keiner, aber ich will euch an ihrer statt lieben."
Sie nahm begierig einen Schluck aus ihrer Tasse und als sie diese wieder abstellte hielt sie sie weiterhin fest, um das nervöse zittern ihrer Hände zu verbergen. Endlich sahen auch Abbie und Terry auf. In ihren Augen schimmerte es immer noch feucht von Tränen, aber Keely konnte auch so etwas wie Hoffnung darin lesen.
„Sie möchten uns alle drei adoptieren?", fragte Amilia ungläubig.
„Ja, das will ich." Fest sah sie ihrer ehemaligen Dienstboten in die Augen.
Keely hoffte, dass die Kinder ihr glaubten. Sie liebte sie so sehr und wollte ihnen eine Heimat geben. „Schlussendlich müsst aber ihr entscheiden, ob ihr es wollt oder nicht."
„Ich will es", sagte Abbie schlicht und legte ihre zierliche Hand auf Keelys Arm. Ein Gefühl der Wärme durchströmte sie bei dieser Geste und ihre Augen wurden feucht. Liebevoll lächelte sie Abbie an.
„Ich will es auch." Terry schlang strahlend seine Arme um sie und drückte sie an sich.
Keely erwiderte die Umarmung gerührt und sah dann fragend zu Amilia hin, der diese Entscheidung sichtlich schwerer fiel. Ihre Geschwister blickten sie jetzt ebenfalls an. Unter den prüfenden Blicken errötete Amilia leicht. „Tun Sie das auch wirklich nicht einfach nur so? Ich könnte die beiden Kleinen auch zu mir nehmen. Mattie hat bestimmt nichts dagegen."
Keely griff über den Tisch hinweg ihre Hand und hielt sie fest. „Amilia, deine Geschwister sind nicht mehr so klein wie du denkst – jedenfalls Abbie nicht. Zudem wäre es nicht gut, wenn du in deine Ehe noch zwei Kinder schleppst – nichts für ungut Abbie und Terry. Abbie und Terry brauchen dich, keine Frage, aber du bist nicht ihre Mutter, sondern ihre große Schwester. Außerdem brauchst du gerade jetzt wo du heiraten möchtest eine Mutter."
Amilias Schultern sackten nach unten.
„Wovor hast du Angst, Amilia?"
Ganz leise kam die Frage von Keelys Lippen, aber sie war eindringlich und ernst gemeint. Amilia sah scheu auf die Tischplatte und dann wieder in Keelys Augen.
„Dass wir sie vergessen." Die Antwort war kaum mehr als ein schwaches flüstern und Keely musste sich anstrengen jedes Wort zu verstehen. Die Kinder hatten bestimmt nur Bahnhof verstanden.
Jetzt nickte Keely und drückte Amilias Hand. „Nur weil ich da bin, wird sie nicht weg sein. Ich möchte sie nicht ersetzen, wie ich schon sagte, sondern vertreten. Ihr sollt euch Tag für Tag an eure Mutter erinnern, aber ihr sollt auch wissen, dass ich euch liebe."
„So sehr wie Rachel?"
Wie ein Speer drang diese Frage durch Keelys Herz. Sie hatte so gehofft, dass diese Frage nicht kommen würde, aber jetzt musste sie sich ihr stellen. Sie atmete tief durch.
„Nein, wenn ich ehrlich bin liebe ich euch nicht so sehr wie Rachel, aber ich weiß, dass es noch so kommen wird. Noch seid ihr ja auch nicht meine Kinder, oder? Ich will euch so lieben wie Rachel und noch viel mehr, wenn es geht. Allerdings liebe ich Rachel wohl auf eine andere Art, als ich euch liebe. So ist es einfach. Gib mir eine Chance, Amilia. Glaub mir: Wir vier brauchen einander."
Wie gebannt sahen alle im Raum anwesenden die große Schwester an. Diese seufzte, kämpfte noch kurz mit sich selbst und lachte dann. „Ich will es dann auch versuchen, dich wie meine eigene Mutter zu lieben."
Keely streckte die Arme nach ihr aus und die beiden umarmten sich herzlich. Keely war es, als würde ihr Herz vor Freude aus ihr herausspringen. Sie war jetzt nicht mehr allein! Sie hatte drei wundervolle Kinder, die sie liebten und die sie liebte! Ach, wenn Dereck und Rachel das jetzt nur miterleben könnten...
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