Kapitel 5
Rachel
Miss Kings trat aus dem Schulhaus und läutete die Glocke. Alle Kinder strömten herein und drängten sich durch die Gänge zwischen den Tischreihen zu ihren Plätzen. Als die Gespräche verstummt und alle auf ihrem Platz waren wanderte der prüfende Blick der Lehrerin über ihre Schüler. „Was habt ihr denn gerade in der Pause gemacht, als ihr da alle im Kreis versammelt standet?"
Catlen errötete und machte sich auf ihrem Stuhl ganz klein. Will, der vor ihr saß, warf ihr einen bedeutungsvollen Blick über die Schulter zu.
„Wir haben pholiphisiert", log Henry Stuart. Alle lachten.
„Es heißt: philosophiert, Henry", korrigierte Maddie ihren kleinen Bruder.
„Na dann eben so." Er verschränkte etwas beleidigt die Arme vor der Brust.
„Und worüber?"
Du hast das angefangen, Henry und jetzt musst du das auch beenden. Lüg ruhig weiter. Hauptsache ich muss keine Strafarbeit erledigen. Sonderlich gut fühlte sich Catlen bei diesen Gedanken nicht, aber alles war ihr lieber, als bestraft zu werden.
Miss Kings wartete noch immer und William begann schon nervös auf seinem Platz hin und her zu rutschen. „Über Angst", rief er endlich und seine Stimme war viel zu laut.
Meine Güte, William, lass dir doch nichts anmerken! Aber was soll man auch schon von ihm erwarten?
Miss Kings zog eine Augenbraue hoch, wie sie es immer tat, wenn einer von ihnen einen Fehler machte oder sie ungeduldig auf eine Antwort wartete. „Und zu welchem Ergebnis seid ihr gekommen?"
Wieder unbehagliches Schweigen. Ich will hier weg! „Das jeder vor etwas Angst hat." Einige Köpfe drehten sich zu Catlen May um. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Sie schien nicht mehr recht bei sich zu sein. Henry hatte sie da in etwas hineingeritten... Oder war es nicht sie selbst gewesen?
„Was für eine erstaunliche Erkenntnis", wandte sich die Lehrerin an Cati. „Ihr habt damit ganz recht, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen warum ihr dafür einen Wurm benötigt habt."
Cati war es als wäre das Klassenzimmer mit einem Mal um hundert Grad heißer geworden. Miss Kings schien alles gesehen zu haben! Oh nein, nein, nein! „William und Catlen May, ihr bleibt nach der Schule da und du auch Henry."
Der kleine junge starrte zu seiner Lehrerin auf und legte dann den Kopf in seine Armbeuge. Der Arme. In der ersten Schulwoche seines Lebens das erste Mal von der Lehrerin bestraft werden... Das hat selbst Will nicht geschafft.
„Lassen Sie ihn doch gehen, Miss Kings. Er hat nichts getan", verteidigte Cati, den Bruder ihrer besten Freundin.
„Oh doch. Er hat mich angelogen."
„Aber in gewissermaßen hatte er doch recht..."
Abwehrend hob die Lehrerin ihre rechte Hand. „Versuche nicht mit mir zu diskutieren, Catlen May. Ihr drei bleibt nach dem Unterricht da. So, holt jetzt eure Mathematikbücher hervor und eure Hausaufgaben. Wer möchte sie vorstellen?"
Viel zu schnell verging der Nachmittag und es tat Cati furchtbar weh mit anzusehen wie alle Kinder nach Hause gingen und nur sie mit den zwei Jungen zurückblieb. Maddie, die neben ihr saß, stand auf und sah sie mitleidig an. „Das schaffst du schon, Cati."
Catlen seufzte. „Da bin ich mir nicht so sicher."
Madison drückte ihre Schulter und rief dann nach vorne zu ihrem Bruder: „Ich werde draußen auf dich warten, Henry." Ein dankbarer Blick traf die ältere Schwester ehe sie das Schulgebäude verließ.
„Komm her, Henry, ich möchte, dass du vor mir stehst, wenn ich mit dir spreche."
Dem kleinen Jungen war die Angst ins Gesicht geschrieben, als er sich erhob und vor das Lehrerpult trat.
„Das Erste ist, dass du gesprochen hast ohne dich zu melden oder ohne, dass ich dich aufgefordert habe. Wenn wir in der Schule etwas sagen wollen, dann müssen wir uns melden. Das Zweite ist, dass du gelogen hast, Henry. Du wolltest deine Freunde schützen, ich weiß, aber deshalb darf man seine Lehrerin nicht anlügen. Deine Strafe wird sein, mir bis morgen fünfzig Mal aufzuschreiben: Ich darf Miss Kings nicht anlügen. Wärest du älter, dann wäre deine Strafe eindeutig höher, aber du hast es aus einem noblen Grund getan und kannst auch noch nicht so viel schreiben. Geh jetzt, Heim."
„Ja, Ma'am. Es tut mir leid. Auf Wiedersehen." Er drehte sich um, schnappte sich seine Schiefertafel und alle Materialien, die er für die Hausaufgaben brauchte und verschwand im Garderobenraum der Jungen. Wenig später hörte Cati wie die Tür ins Schloss fiel, doch sie nahm es kaum wahr, denn jetzt wandte die Lehrerin ihre Aufmerksamkeit William und ihr zu.
Boden, bitte öffne dich und verschlinge mich! Jetzt! Doch der Boden blieb wo er war. Und Cati auch.
„Kommt nach vorne, ihr zwei", befahl Miss King streng.
Catlen May hätte am liebsten vehement den Kopf geschüttelt, aber das wäre zu respektlos gewesen. Sie wollte aufstehen, aber sie konnte nicht. William stand schon vor dem Pult der Lehrerin, als Catis Körper ihr endlich gehorchte und sich erhob. So müssen sich verurteilte fühlen, wenn sie zum Richtblock geführt werden.
„Catlen May", Miss Kings war merklich genervt, „beeil dich doch. Ich werde dich schon nicht beißen."
Ich weiß. Sie werden mich bestrafen und das ist noch viel schlimmer.
William fand es sichtbar amüsant sie so verängstigt zu sehen. Seine Augen blitzten sie lachend an. Er lacht mich aus! Sie ignorierte ihn und versuchte nicht den Teufel an die Wand zu malen. Nur eine Strafarbeit, sagte sie sich. Nur eine kleine Strafarbeit.
Miss Kings hatte die Unterarme auf den Tisch gestützt und lehnte sich jetzt vor, als ihre beiden Schüler vor ihr standen. Kopfschüttelnd seufzte sie. „Was soll ich mit euch beiden nur machen? Euch fehlt es an jeglicher Disziplin. Ständig herrscht um euch herum Unruhe und ihr seid unkonzentriert. Als achtjähriges Mädchen hatte ich noch ganz andere Dinge im Kopf, als du, Catlen May."
Ich bin aber nicht wie Sie! Sie haben früher wohl mit Puppen gespielt und waren sicher immer das artige Mädchen, dass Ihre Eltern gerne jedem vorzeigten. Ich bin aber anders! Ich. Bin. Anders.
Den Rest der Strafpredigt ließ Cati an sich vorbeirauschen, wie einen Traum. Sie sah die Lehrerin an, hörte ihr aber nicht zu. Irgendwann schob Miss Kings ihren Stuhl nach hinten und klopfte mit den Handflächen auf den Tisch. „Also gut, ihr beiden. Um euch etwas Disziplin beizubringen erwarte ich von euch, dass ihr die nächsten beiden Wochen täglich eine Stunde länger in der Schule bleibt, hier aufräumt, putzt und Staubwischt. Ich bin sicher, mir werden noch einige andere Arbeiten einfallen. Solltet ihr euch in den beiden Wochen gut benehmen, so seid ihr am Ende befreit von eurer Strafe, aber wenn nicht,", bei diesen Worten verengten sich die Augen der Lehrerin zu unheimlich schmalen Schlitzen, „wird sie verlängert und ihr könnt euch sicher sein, dass ich mich nicht scheuen werde den Stock zu benutzen."
Cati schluckte und ballte ihre Hände zu Fäusten. Diese Frau hatte nicht das Recht sie zu schlagen! Kein Fremder hatte das, egal welche Gesetze es gab. „Habt ihr mich verstanden?"
„Ja, Miss."
„Ja, Miss." Cati wünschte sie hätte es nicht getan.
„Gut. Dann könnt ihr jetzt gehen. Ab morgen bleibt ihr länger da."
Die beiden drehten sich auf dem Absatz um und stürmten zur Tür hinaus.
Keely
Es war halb sechs als Keely zu Hause ankam. Sie hasste sie Stille und Leere ihres großen Hauses, auch wenn sie stets von ihrem Hausmädchen begrüßt wurde. Diese war heute überrascht zu hören, dass ihre Arbeitgeberin gleich zu einer Gesellschaft aufbrechen würde und deshalb kein Abendessen brauchte. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, denn auch sie war es leid zu sehen, wie Keely sich von ihrem Schmerz zerfressen ließ.
Während ihr Mädchen sich früher als sonst auf den Heimweg machte, wählte Keely ein schwarzes Kleid mit Rüschen, auf denen sie mit einem dunkel grünen Garn ein Muster eingestickt hatte, aus ihrem Schrank. Unter all ihren grauen, braunen und schwarzen Kleidern war dies das festlichste. Der Rock hatte einen Glockenschnitt und das Kleid stand ihr mehr als perfekt. Trotzdem wird Liljan Dondsen mir eine ellenlange Predigt über die Wichtigkeit des Modebewusstseins einer Frau halten, aber egal.
Sie steckte ihre Haare noch einmal frisch hoch, trug sich Parfum auf und suchte dann den passenden Hut. Sie entschied sich für einen dunkelblauen Panama Hut mit einer seidenen Schleife. Sie steckte sich gerade die Hutnadel fest, als sie den Wagen vorfahren hörte. Schnell eilte sie die Treppen hinunter und streifte sich dabei noch ihre weißen Spitzenhandschuhe über. Mrs Dondsen begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln. Keely musste schlucken, als sie ihren pompösen Hut sah. Er war mit Blumen und Übergroßen Feder verziert, die vom Wind bewegt wurden.
Keely kletterte auf den Wagen und lächelte zurück. Mrs Dondsen begrüßte sie und musterte sie kurz. „Was unauffälligeres konnten Sie nicht finden, wie?", fragte sie knapp.
Keely straffte die Schultern. „Doch, Mrs Dondsen. Deshalb habe ich mich hierfür entschieden." Sie heftete den Blick fest auf die Straße, bereits bereuend das Angebot der Doktors Frau angenommen zu haben.
„Verzeihen Sie. Sie waren bestimmt in Eile."
Keely räusperte sich. „Schon gut." Sie faltete die Hände in ihrem Schoß. Am liebsten wäre sie vom Wagen gesprungen und wieder zurückgelaufen.
„Mir fällt gerade auf, dass ich Sie wirklich noch nie mit einem farbenfrohen Kleid gesehen habe."
Und ich Sie noch nie mit einem schlichten.
„Sie sind eine sehr einfache Frau, was?"
„Ich fühle mich in schlichten und dunklen Kleidern einfach wohler, als in bunten, Mrs Dondsen."
„Verstehe." Mrs Dondsen schlug mit den Zügeln. „Naja, das ist ja auch nicht wichtig. Allerdings können Sie das Mrs Dondsen ruhig weglassen. Sie sind eine der wenigen die mich so ansprechen. Sagen Sie einfach Liljan zu mir."
Keely rang sich ein Lächeln ab. „Gerne, Liljan. Sie können Keely zu mir sagen."
„Schön. Ich denke wir werden uns heute Abend gut amüsieren."
Keely bezweifelte das stark, dennoch antwortete sie: „Bestimmt."
Liljan lenkte den Wagen geschickt in die schmale Straße an deren Ende das Haus von Tante Elenor stand. Es standen schon unzählige Wagen davor und Keely erblickte auch den von den Ingels. Ich bin gespannt was Di sagen wird, wenn sie mich sieht. Sie kletterte vom Wagen und ging gemeinsam mit Liljan in das Haus.
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