Kapitel 70
Nachdem ich den beiden nachgeschaut hatte, wie sie sich hitzköpfig den Hügel hinunter trollten, begab ich mich zu Remus und Peter, die die letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Herbstes auskosteten. Ich ließ mich neben ihnen nieder und lehnte mich dem Gesicht der Sonne zugewandt an den alten umgekippten Baumstamm hinter mir.
Die Ländereien waren in ein buntes Meer aus Laubblättern getaucht und weit oben auf den Bergspitzen sah ich bereits die erste dünne Schneeschicht liegen. Nicht mehr lange und der Winter würde Einzug halten und damit auch die grausam näherrückende Realität, dass ich dieses Weihnachten nicht mehr nach Hause fahren würde. Ein beklemmendes Gefühl.
Ich sog die frische Luft tief in meine Lungen und versuchte mich auf den Geruch des nassen Laubes und Mooses um mich herum zu fokussieren. Wie weitläufige Wurzeln erdeten sie mich im Hier und Jetzt, überdeckten die Vergangenheit und vertrieben die Zukunft. Das Rascheln des Papiers, wenn Remus in seinem Buch blätterte und das Kratzen von Peters Feder gedämpft von dem kühlen Wind hatten etwas Beruhigendes.
Ich griff selbst nach meinem Buch und las mir die Kapitel über höhere Verwandlungskünste durch. Eine ganze Weile saßen wir so da. Ab und an wurden die Stimmen einiger plappernder Schüler zu uns herüber geweht, die ihre Freistunde ebenfalls nutzten, um den Herbst zu genießen. Gebannt von den komplexen Verwandlungsformeln sah ich erst wieder von den Seiten meines Buches auf, als ich ein merkwürdig wimmerndes Geräusch vernahm.
Peter saß stocksteif neben Remus, sein Aufsatz vergessen in seinem Schoß und den Blick auf eine kleine Schar Hufflepuff Mädchen gerichtet, die soeben aus dem Glockenturm Innenhof spazierten. Neugierig lehnte ich mich nach vorne, um einen besseren Blick auf seine Gesichtszüge zu erhaschen. Etwas Sehnsüchtiges lag in seinen Augen und ein Verdacht beschlich mich. Erneut betrachtete ich die Mädchen diesmal jedoch genauer.
Zwei der fünf erkannte ich - Miri und Lydia. Ich hatte ihnen im fünften Schuljahr Nachhilfe in Zaubertränke gegeben, die restlichen Mädchen kannte ich jedoch nur vom flüchtigen sehen.
„Welche ist es?", fragte ich schließlich, nachdem die Gruppe sich auf den Weg hinunter zum Großen See machte. Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, da nahm Peters Gesicht eine ungesund rote Färbung an.
Nun war auch Remus Aufmerksamkeit geweckt und er schlug seinen Wälzer über Verteidigung gegen die Dunklen Künste zu, um seinen Freund eingehend zu mustern.
Remus besaß diese Mimik einer alten Seele, wenn er das Verhalten anderer Leute zu ergründen versuchte. Fast als verstehe er sie auf einer tieferen Ebene. Dann trat ein wissendes Schmunzeln auf seine Lippen und er kramte in seiner Tasche.
Als er gefunden hatte, wonach er suchte, drehte er sich seinem Freund zu und stupste ihn in die Seite, um dessen Aufmerksamkeit zu erlangen.
„Das Angebot steht noch." Er hielt ihm ein dickes Buch mit goldenen Verzierungen am Buchrücken entgegen, bei dessen Anblick der Bücherwurm in mir entzückt zu hüpfen begann. Aufgeregt warf Peter einen Blick zum See und schüttelte dann wortkarg den Kopf. Welches Mädchen es ihm auch angetan hatte, sie hatte ihm ordentlich den Kopf verdreht. „Du musst nur über deinen eigenen Schatten springen und sie ansprechen, der Rest kommt dann schon von selbst ins Rollen."
Er legte das Buch auf Peters Tasche ab und nickte seinem Kumpel aufmunternd zu.
Dieser war allerdings wenig überzeugt.
„Ich kann sie doch nicht einfach ansprechen, was wenn-", er brach ab und knetete nervös die Hände im Schoß. So bedröppelt wie er dreinschaute, tat er mir wirklich leid. Nicht jeder konnte so einfach neue Freundschaften schließen und offen auf andere zugehen, ganz besonders, wenn man einen guten Eindruck hinterlassen wollte.
„Wenn was?", fragte ich also sanft nach.
„Was kann denn schlimmstenfalls passieren? Du bist ein netter Kerl Peter und keines der Mädchen scheint mir giftige Zähne zu haben."
Er stieß etwas Luft durch die Nase aus, bevor sein rechter Mundwinkel unauffällig zuckte. „Nun, sie könnten aber durchaus Tiere mit giftigen Zähnen oder sogar fleischfressende Pflanzen besitzen", gab er zu bedenken, und ich meinte kurz ein schalkhaftes Funkeln in seinen Augen aufflackern zu sehen.
Remus Schultern bebten, als er ein leises: „Touché", murmelte.
Nahmen die zwei mich etwa auf den Arm?
Sie führten mich doch nicht etwa am Zauberstab herum? Zumindest schien sie irgendetwas an meinen Worten zu amüsieren. Unter ihren Blicken lehnte ich mich gespielt verärgert nach vorne und stützte die Unterarme auf den Knien ab.
„Natürlich denk ich nichts dergleichen. Es geht mehr um, naja-", er stockte und suchte nach den richtigen Worten. „Warum sollte eine wie sie Interesse an mir haben?"
Scham verdüsterte seinen Blick und er schaffte es nicht, mich länger anzusehen, als er fortfuhr.
„Ich bin nicht wie Remus und erst recht nicht wie James und Sirius. Die strotzen nur vor Selbstbewusstsein, aber bei ihrem Aussehen und Charme – wer würde es nicht?
Mich hat noch nie ein Mädchen so angesehen wie sie."
Leise seufzte er in sich hinein, während er immer mehr in sich zusammen sackte. Er schien sich sichtlich unwohl zu fühlen, so wie er auf dem Gras herumdruckste, mit unsicherem Blick zu den Mädchen.
„Laut Sirius sieht sie dich bereits so an. Er beklagt sich schon, dass du ihm die Frauen ausspannst", munterte Remus ihn auf.
Ob an seinen Worten wohl was dran war?
Es würde zumindest zu Sirius passen, dass er sich ab dem Augenblick beklagte, in dem ihm nicht mehr sämtliche Aufmerksamkeit der weiblichen Schülerschaft galt. Merlin, er flirtete ja sogar mit den älteren Verkäuferinnen in Hogsmeade.
Eine Eigenschaft, die Marlene besonders in den letzten Wochen in den Wahnsinn trieb.
Etwas Hoffnung schimmerte in Peter auf und nach einiger Überredungskunst seitens Remus und mir fasste er sich ein Herz und ging mit Remus Buch unter den Arm geklemmt zu ihr herüber. Man musste kein Experte in Sachen Liebe sein, um zu erkennen, welches Mädchen es ihm so angetan hatte.
Isla, wie Remus mir darlegte, schien augenblicklich entzückt über Peters erscheinen. Sie blühte förmlich auf zwischen ihren Freundinnen und strahlte ihn mit dem sanftesten Lächeln an, welches mir je untergekommen war. Sie lachte über etwas, was Peter erzählte und begab sich dann zusammen mit ihm etwas abseits ihrer Gruppe den See entlang.
Ich konnte noch gerade so erhaschen, wie sie ihn freudestrahlend um den Hals fiel, als er ihr das Buch überreichte, bevor sie in der Ferne verschwanden.
„So sehr, wie sie sich über das Buch freut, wäre ich mir nicht so sicher, ob es dir je wieder unter die Augen kommt", scherzte ich schmunzelnd und lehnte mich erneut gegen den Baumstamm.
Remus gluckste.
„Ich denke nicht, dass es das Buch ist, was es ihr so angetan hat."
Lächelnd sah ich zum Himmel hinauf und genoss die Ruhe und Zufriedenheit, welche in meiner Brust Einkehr gehalten hatte.
„Sag mal Remus", setzte ich an.
Die in mir hochströmende Freude und Neugier war deutlich aus meiner Stimme herauszuhören.
Noch bevor ich weitersprechen konnte, warf mir Remus einen abschätzenden Seitenblick zu. Bei meinem Grinsen wanderte seine Augenbraue nachdenklich in die Höhe.
„Wie steht es eigentlich um dein Herz? Es gibt da nicht zufällig jemanden, der es zum schneller schlagen bringt?"
Ich sah ihn noch immer nicht an, sondern bewunderte ein abstraktes Wolkengebilde, welches sich über dem Astronomieturm langsam zu einem kesselähnlichen Konstrukt formte. Doch als meine Worte unbeantwortet im auffrischenden Wind verklangen, richtete ich mich auf, um ihn zu mustern.
Sein Blick war starr auf die Seiten seines Buches gerichtet. Aber die Ausdruckslosigkeit in seinen Augen verriet mir, dass seine Gedanken weit entfernt von den Zaubersprüchen und Flüchen in seinem Buch waren.
„Remus?"
Sein Adamsapfel sprang in seiner Kehle, während seine Kiefermuskulatur zuckte und die Unbeschwertheit aus meiner Brust verpuffte. Aus einem Reflex heraus griff ich nach seinem Unterarm, was ihn wie im freien Fall aus seiner Trance holte. Wie ein aufgeschrecktes verletztes Tier weiteten sich seine Pupillen, als er mich betrachtete.
„Es tut mir leid, ich wollte nicht-" Meine Stimme verstummte.
Ja, was genau wollte ich eigentlich nicht?
Ihn verletzen?
Aufwühlen?
Der schlagartige Umschwung der Atmosphäre staute meine Gedanken zu einem unübersichtlichen Knäuel zusammen.
Hatte ihn meine Frage verletzt? Aber weshalb?
Oder lag der schmerzliche Ausdruck in seinen Augen an etwas andrem?
Meine Finger ruhten noch immer verunsichert auf dem Stoff seines Umhangs und keiner von uns beiden schien bereit, diesen Kontakt zu unterbrechen. Er, weil ihn der Schock wie ein Einhorn im Lichtschein eines Fluches festhielt. Und ich, weil ich befürchtete, dass er sich von mir zurückziehen würde, sobald ich meine Hand hob. Mit jeder Sekunde in der er seinen Gedanken nachhing steigerte sich meine Verwirrung ins unermessliche. Schließlich schüttelte er kaum merklich den Kopf, zwang sich ein mattes Lächeln auf die Lippen, welches seine Augen nicht erreichte und entzog mir seinen Arm, bevor er seine Aufmerksamkeit in Richtung des Verbotenen Waldes wandte.
„Es ist lieb von dir, dass du tatsächlich denkst, es würde überhaupt eine Rolle spielen."
Seine Stimme klang belegt und rau und zerschlug mein Herz in tausend kleine Einzelteile. Ich musste ihn falsch verstanden haben. Doch sein Blick lag weiterhin auf die Finsternis zwischen den Bäumen gerichtet, wodurch er mich zugleich vor seinen Emotionen abschirmte.
„Remus", setzte ich erneut an.
Es war nicht mehr als ein Hauchen.
„Was genau soll das heißen?" Ich hörte ihn trocken lachen, ein merkwürdig ungewohntes Geräusch von ihm. Die Wärme darin fehlte wie schon zuvor in seinen Augen, als er sich ein Lächeln abgerungen hatte. Dann sah er mich wieder an und die Abscheu, welche sich auf seinem Gesicht widerspiegelte, nahm mir für wenige Sekunden die Luft zum Atmen.
„Wer würde sich schon auf so jemanden wie mich einlassen."
Es war keine Frage, viel mehr eine nüchterne Feststellung. Eine Äußerung, welche ihm logisch erschien, doch mich dafür aus allen Wolken fallen ließ. Er konnte unmöglich wirklich so über sich denken.
Meine Sprachlosigkeit animierte ihn dazu, weitaus Schlimmeres über sich selbst zu behaupten.
„Ich bin ein Monster, Lily. Kein Mädchen mit auch nur einem Hauch von Selbsterhaltung würde je Interesse an mir äußern. Nicht wenn sie wirklich weiß, was ich bin."
Das brachte den Kessel endgültig zum Überbrodeln. Es reichte aus, um die Besorgnis und das Mitleid zu ersticken und Wut in mir hochschäumen zu lassen. Meine Finger kribbelten heiß, als ich ihn erneut am Arm packte, diesmal fester und mit Bestimmtheit. „Du hörst mir jetzt mal gut zu Remus Lupin. Ich weiß nicht, was dich in dieses Loch getrieben hat, in dem du dich nur noch in Schwarz und Weiß siehst, aber das echte Leben hat viel mehr Nuancen. Du redest dir vielleicht ein, dass du es nicht wert bist, die gleiche Liebe zu erfahren, wie wir anderen, aber das spiegelt ganz und gar nicht die Wahrnehmung deiner Freunde wieder – geschweige denn die Realität."
Meine Augen suchten brennend die seinen.
„Ich kenne niemanden, der sein Glück zu finden mehr verdient hat als du. Aber wenn du wirklich so schlecht von dir denkst, stehst du dir nur selbst im Weg. Denn jedes Mädchen, dass dich wirklich kennt, würde sich glücklich schätzen, dich zu haben.
Vielleicht solltest du deinen Rat an Peter selbst beherzigen – spring über deinen Schatten."
Kurz schwiegen wir uns an, während ich aufgebracht Luft in meine Lungen sog. Aber meine Worte prallten von ihm ab, wie ein Florfliegen an den Turmfenstern des Schlosses.
„Ich bin ein Werwolf, Lily", fuhr er gedämpft fort. „Du weist nicht, wie es ist, immer mit der Furcht zu leben, jemanden verletzen zu können. Besonders die, die mir am nächsten stehen. Wir werden nicht umsonst von der Gesellschaft verachtet."
Er kniff die Lippen aufeinander und seine Hand begann zu zittern. Kleine Stiche durchzuckten mein Inneres. Die Art wie er das Wort ‚wir' benutzte, jagte mir einen eiskalten Schauer den Rücken hinunter. Es klang fast als sehe er sich nicht als einen von uns, sondern nur als den Wolf, der ihn einmal im Monat besuchte.
Sanfter als zuvor legte ich meine Finger über seine und versuchte ihn fühlen zu lassen, wie sehr ich ihn dafür wertschätzte, wer er war und nicht dafür beurteilte, was er war.
„Und doch hast du Freunde die alles dafür tun, dass sie bei dir sein können, ohne verletzt zu werden. Es gibt immer einen anderen Weg."
Er schüttelte abwehrend den Kopf, als wäre das nicht dasselbe.
„Hör zu." Ich versuchte meine Gedanken zu sammeln um das zum Ausdruck bringen zu können, was er hören musste.
„Es wird immer Menschen geben, die sich vor dem fürchten, was sie nicht verstehen. Die es nicht für nötig halten, über ihren Tellerrand hinauszublicken, um Menschen wie dich wertzuschätzen."
Ich sah ihm fest in die Augen.
„Aber das mindert nicht die Anzahl und Entschlossenheit der Menschen, die es können. Die durch die Vorurteile sehen können, um die Person dahinter zu erkennen."
Er senkte den Kopf und Hoffnung keimte in mir auf, dass ich langsam zu ihm durchdrang. „Und du Remus Lupin, trägst eine der gütigsten Seelen in dir, die ich kenne.
Das kann jeder sehen."
Eine Last hob sich von mir, als er meinen Blick erwiderte und das Funkeln zurückkehrte, welches sein Lächeln erneut mit seinen Augen verband. Es war ehrlich und aufrichtig und ich hoffte, dass er wirklich verstand, wie viel Wahrheit in meinen Worten lag. Vielleicht eine Wahrheit, die er eines Tages auch als seine eigene akzeptieren konnte. Und bis dahin würde ich es ihn wissen lassen, immer wenn er an sich selbst zweifelte.
Ich drückte seine Hand, um das Leuchten in seinen Augen zu verstärken. Und plötzlich fand ich mich in seinen Armen wieder. In der herzlichsten Umarmung dieser Welt.
Meine Haare kitzelten mich am Hals, als er ein einzelnes Wort murmelte.
Und ich wusste, dass ich zumindest einen Teil der Mauern seiner Selbstverachtung ins Bröckeln gebracht hatte.
„Danke, Lily."
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Und wie fandet ihr ein Kapitel mit einem größeren Fokus auf Moony & Wurmschwanz?
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