6) Ein verlockendes Angebot
Die Aufführung, die das ausschließlich aus Joumin zusammengesetzte Ensemble darbietet, handelt von der legendären Drachenkönigin. Soweit ich weiß, hat sie vor etwa einhundert Jahren im Norden regiert und ihr Land in den Krieg mit den Elfen geführt. Es heißt, sie sei eine Bilderbuchanführerin gewesen. Eine gerechte Herrscherin und eine fähige Generalin. In der Schule haben wir gelernt, dass sie in der Schlacht um den Zungenpass gefallen ist. Doch die Autoren des Stücks haben eine andere Auffassung der Ereignisse. In ihrer Version der Schlacht ist die Drachenkönigin nicht getötet, sondern von den Elfen gefangengenommen und nach Ellyrien verschleppt worden. Dort fällt sie in die Hände von König Ryul, dem damaligen Herrscher der Elfen.
An dieser Stelle endet der erste Akt und die Lichter gehen wieder an. Im Zuschauerraum erhebt sich Gemurmel. Das Publikum strömt aus dem Saal. Narcisse und ich stehen ebenfalls auf.
»Im Foyer gibt es Schaumwein und Schnittchen«, sagt mein Auftraggeber. Es klingt wie eine Einladung.
»Gehen Sie ruhig schon vor«, entgegne ich. »Ich muss mir noch schnell die Nase pudern.«
Narcisse lächelt. »Die Toiletten sind da vorne den Flur runter.«
Ich erwidere sein Lächeln, winde mich zwischen den Polstersesseln heraus und gehe in die empfohlene Richtung.
Vor den Toiletten hat sich eine lange Schlange gebildet und ich bin froh, dass ich mir nicht wirklich die Nase pudern muss. Stattdessen biege ich am Ende des Flurs nach links ab – und stoße prompt mit Étiennes Begleiterin zusammen.
»Oh, Entschuldigung«, stammele ich.
Die schwarz gekleidete Dame zuckt vor mir zurück und wirft mir einen bösen Blick aus schmalen, schilfgrünen Augen zu. Ihr Gesicht ist knochig und hager, mit einer papierdünnen Haut und hohlen Wangen. »Können Sie nicht aufpassen?« Sie besitzt keinen Akzent, aber sie redet mit einem leichten Singsang, wie man ihn nur in der Westragoner Oberschicht vorfindet.
»Es tut mir leid«, beteuere ich.
»Das sollte es auch.« Die schwarze Dame streicht ihren ausladenden Spitzenrock glatt. Mir fällt auf, dass sie Handschuhe aus dickem Büffelleder trägt, die sogar für kühle Herbsttage viel zu warm sein müssen. »Wenn Sie schon hier herumstolpern, machen Sie gefälligst die Augen auf.«
Mein Bedauern verwandelt sich in Verärgerung, aber ich habe keine Lust, Streit anzufangen. Also beschließe ich, die Erwachsene von uns beiden zu sein. »Wie schon gesagt, es tut mir leid. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden ...«
Ich lasse die schwarze Dame stehen und setze meinen Weg fort.
Am Ende des Flurs befindet sich eine Tür, die auf eine Marmorgalerie über dem Foyer hinausführt. Während sich unten die Zuschauer herumdrücken, bin ich hier oben alleine und kann in Ruhe durchatmen. Noch immer kreisen meine Gedanken um das Anliegen von Roland Narcisse. Frieden mit den Elfen. Wenn ich nur daran denke, wird mir übel.
Erschöpft beuge ich mich über das Geländer, falte die Arme auf dem Handlauf und mache einen Katzenbuckel, um meine verspannten Rückenmuskeln zu lockern. Von unten dringt das an- und abschwellende Brummen vieler, miteinander vermischter Stimmen zu mir herauf, ab und zu durchbrochen von einzelnen Misstönen oder Gelächter. Das Stück und die bevorstehende Troisan scheinen im Zentrum der Gespräche zu stehen. Zwischen den fein gekleideten Gästen huschen jede Menge Aufwärter umher und servieren Getränke und Schnittchen. Ich entdecke Narcisse, der von mehreren Männern mit Ansteckern am Revers umringt wird und weit ausholend gestikuliert. Es sieht ganz so aus, als wäre er in seinem Element.
Ich höre, wie sich die Tür hinter mir öffnet. Kurz darauf lehnt sich Étienne Romarin neben mir über das Geländer. Irgendwie habe ich schon damit gerechnet, dass wir uns an diesem Abend noch über den Weg laufen würden. In meinem Innern braut sich ein angenehmes Gefühl zusammen, ein Zucken im Bauch wie ein lautloses Kichern. Ich presse die Lippen aufeinander, um mich nicht zu verraten, und blicke stur geradeaus.
Étienne macht es mir nach.
Schweigend stehen wir nebeneinander und betrachten das beeindruckende Marmorgewölbe mit seinen prächtigen, von klassischen Werken inspirierten Fresken. Viel verstehe ich nicht von Kunst, aber ich erkenne die Symbole der größten Joumin-Clans – und im Zentrum den roten Drachen, auf dessen Kopf ein goldener Feuervogel brütet. Der Feuervogel soll ein Symbol der Weisheit sein, ganz ähnlich wie die Göttin Vika.
»Betty Pommier, die hübsche Traumleserin mit den kornblumenblauen Augen«, bemerkt Étienne schließlich. »So trifft man sich wieder.«
»Man könnte meinen, du würdest mich verfolgen«, gebe ich zurück.
»Ich könnte das jetzt abstreiten und sagen, dass ich meine Karten für diesen Abend bereits vor Monaten erworben habe, aber das würde wie eine Ausrede klingen.« Étienne mustert mich von der Seite. »Hübsches Kleid übrigens.«
»Nur eine Leihgabe«, erwidere ich und streiche über den glänzenden Taftrock. Der Stoff fühlt sich kühl und edel an. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ein so teures Kleid getragen. Vielleicht sollte ich meinen Auftraggeber einfach vergessen und mich damit aus dem Staub machen.
»Und? Was hältst du von Narcisse?«, wechselt Étienne das Thema. »Ist sein Schlaf noch zu retten?«
»Kann ich noch nicht sagen«, antworte ich ausweichend und lehne mich wieder über das Geländer. »Aber Narcisse scheint ein Kavalier der alten Schule zu sein.«
Étienne fährt sich mit der Hand über das stoppelige Kinn. Anscheinend hatte er keine Zeit, um sich vor dem Theaterbesuch zu rasieren. Oder er denkt, die Bartstoppeln würden zu seinem ganz persönlichen Straßenköter-Charme beitragen. Ich bin versucht, ihm zuzustimmen. »Vielleicht ist er auch nur verzweifelt. Jedenfalls lässt er sich deine Hilfe ganz schön was kosten.«
»Ich denke eher, er möchte mich beeindrucken«, vermute ich.
Étienne nickt. »Gut möglich. Es heißt, seine Gattin wäre ein wahrer Hausdrachen.« Ein spöttischer Zug umspielt seine Mundwinkel. »Würde mich nicht wundern, wenn seine Schlafprobleme mit ihr zu tun hätten.«
»Ich denke eher, seine Probleme hängen mit seinen politischen Ambitionen zusammen«, erwidere ich und kann nicht verhindern, dass mir meine Gefühle anzuhören sind. »Frieden mit den Elfen ...«
»Ein ehrgeiziges Ziel«, sagt Étienne. »Und eines, das vermutlich zum Scheitern verurteilt ist.«
»Du klingst, als würdest du das bedauern.«
Étienne zuckt mit den Schultern. »Ein Waffenstillstand ist nicht schlecht, aber ein offizielles Friedensabkommen wäre besser.«
»Auch ein Friedensabkommen könnte die Elfen nicht davon abhalten, uns erneut anzugreifen. So wie sie es in der Vergangenheit immer und immer wieder getan haben.«
Étienne schweigt einige Sekunden. »Sie sind nicht alle böse«, sagt er dann. »Im Grunde wollen sie auch nur in Frieden leben.«
Ich mustere ihn verstohlen von der Seite. Seine Miene wirkt gleichgültig. Vermutlich bin ich bei diesem Thema einfach übermäßig emotional. Es wird Zeit, dass ich lerne, mich besser zu beherrschen. Doch Étienne hat irgendwas an sich, das mich meine natürliche Vorsicht vergessen lässt. »Vielleicht hast du Recht«, räume ich ein, auch wenn ich nicht überzeugt bin.
»Was hast du jetzt vor?«, fragt Étienne. »Wie willst du dich in Narcisse' Träume schleichen?«
Seine Formulierung gefällt mir nicht. Sie ist ein bisschen zu nah an der Wahrheit. »Ich schleiche mich nirgendwohin«, stelle ich klar. »Und wenn du wissen willst, wie meine Behandlung im Detail aussieht, solltest du mich vielleicht engagieren.«
»Und was würde mich das kosten?« Étienne macht eine kreisende Handbewegung, die das ganze Foyer einschließt. »Ich meine, das hier kann ich nur schwer überbieten.«
Ich drehe mich um, lehne mich mit der Hüfte an das Geländer und betrachte Étienne abschätzend. Seine rotbraunen, naturkrausen Haare sind immer noch struppig, seine Lippen immer noch weich und wohlgeformt. Sein schwarzes Jackett – obwohl sehr wahrscheinlich maßgeschneidert – spannt an den Schultern und eine pfirsichfarbene Blüte steckt in seinem Knopfloch. »Deine Gesundheit sollte dir schon was wert sein.«
»Hast du nicht sowas wie ein Freundschaftsangebot?«, erwidert er mit einem schalkhaften Funkeln in den schwarzen Augen.
»Macht dir dein Bader auch einen Freundschaftspreis?«, entgegne ich. Beim Geld verstehe ich keinen Spaß. Viele Männer denken, sie könnten eine geschäftstreibende Frau übers Ohr hauen. Irgendwer hat ihnen eingeredet, das zarte Geschlecht könne nicht mit Geld umgehen. Aber nicht mit mir. Ich habe meine Finanzen im Griff und weiß genau, was mir zusteht.
»Das nicht«, antwortet Étienne, richtet sich auf und fährt mit den Fingern an der Knopfleiste seines Jacketts entlang. »Aber bei meiner Schneiderin kann ich in Naturalien zahlen.«
»Ich hoffe wirklich, dass du von Rindfleisch redest.«
Étienne sieht mich an als hätte ich ihm ein Brett über den Schädel gezogen. »Rindfleisch?«
»Keine Ahnung«, seufze ich. »Ich finde, du hast was von einem Rinderzüchter.«
Daraufhin lacht Étienne schallend. »Ein Rinderzüchter? Wirklich?« Er sieht an sich herab. »Und dabei hat Seymour mir versprochen, in diesem feinen Zwirn würde ich wie Cédric Matisse aussehen.«
Matisse ist der stets gutgekleidete und unheimlich attraktive Liebling der Boulevardpresse. Berühmt geworden ist er irrwitzigerweise durch einen brutalen Bankraub und ich denke, dass es dieser Hauch von Gefahr ist, der ihn auf viele Frauen so attraktiv wirken lässt.
Ich zucke mit den Schultern. »Man kann den Mann von der Rinderfarm holen, aber nicht die Rinderfarm aus dem Mann. So sagt man doch, oder?«
Étienne beugt sich in meine Richtung, sodass ich den holzigen Geruch wahrnehmen kann, der ihn umweht. Er riecht wie ein Nadelwald nach einem langen Regenschauer. »Wie viele Pfund Rindfleisch müsste ich denn aufwenden, damit du einen Blick in meine Träume wirfst?«
»Ich habe einen festen Tarif, der nicht verhandelbar ist. Zahlbar in Ostragoner Schilling. Und natürlich müsstest du für meinen Aufenthalt und meine Auslagen aufkommen.« Ehe Étienne etwas sagen kann, hebe ich mahnend den Zeigefinger. Er soll nicht auf die Idee kommen, dass die Sache damit geritzt wäre. »Allerdings behalte ich mir vor, Aufträge abzulehnen. Das entscheide ich üblicherweise nach einem ersten Gespräch. Dann entfallen weitere Kosten.«
»Und woran entscheidest du das?«, will Étienne wissen. »Ich meine, gibt es Menschen oder Träume, die dich mehr interessieren als andere?«
»Es geht dabei nicht um meine persönlichen Interessen.«
»Wirklich nicht?« Étienne spitzt spöttisch die Lippen. »Dann nutzt du deine speziellen Fähigkeiten niemals aus ... sagen wir ... privater Neugier?«
Mir wird warm im Gesicht und kalt im Magen. Erinnert er sich an seinen Albtraum und an das, was danach geschehen ist? Hat er mich erkannt? Aber das kann gar nicht sein. Das ist noch nie passiert.
Ich verwerfe den Gedanken und zwinge mich zu einem steifen Lächeln und einer Lüge. »Meine speziellen Fähigkeiten bestehen in erster Linie daraus, die richtigen Fragen zu stellen und anschließend aufmerksam zuzuhören.« Ich wende den Kopf ab, um meine glühenden Wangen zu verbergen. »Und meine private Neugier halte ich aus geschäftlichen Angelegenheiten prinzipiell heraus.«
Étienne nickt. »Ist vermutlich besser so.«
»Ganz bestimmt«, sage ich entschieden. Die Hitze in meinen Wangen lässt nach. Der Druck in meinem Innern versiegt. Ich habe mich wieder unter Kontrolle. »Heißt das, du willst mich engagieren?«
»Wenn du mich dann ins Theater begleitest.«
»Ich bin keine Gesellschaftsdame.«
»Und ich kein gelangweilter Witwer.«
»Dann ist die kleine Mae ...?«
Étienne schmunzelt. »Nur eine gute Freundin. Genau wie meine Begleitung heute Abend. Du hast vielleicht schon von ihr gehört. Ihr Name ist Adeline de Cinc Estrellia. Sie war die erste Frau, die je das Corps geleitet hat.«
»Das Corps?«
»Die Kriminalpolizei hier auf der Insel.«
»Oh ...« Ich denke an meine wenig erfreuliche Begegnung mit der schwarz gekleideten Dame zurück. »Das ist ... beeindruckend.«
Étienne nickt. »Auf dem Festland wäre das nie möglich gewesen, aber hier rühmen wir uns unserer Fortschrittlichkeit.«
Was das angeht, kann ich Étienne nur zustimmen. In der eher ländlichen Gegend, aus der ich komme, ist es nicht üblich, dass Frauen überhaupt arbeiten. Sie haben sich ausschließlich um Heim und Herd zu kümmern – und natürlich um die meist zahlreich vorhandenen Kinder. Doch sogar in Berlitz, Lierre und Yonder (den drei größten Städten auf dem Festland) stehen Frauen nur eine Handvoll Berufe offen. Alle haben mit Heim, Herd und Kindererziehung zu tun. Eine Frau bei der Polizei ... das kommt mir wie ein unerreichbar ferner Traum vor.
»Nein, ich war und bin unverheiratet«, greift Étienne den ursprünglichen Gesprächsfaden wieder auf.
»Dann war das Kind am Lufthafen nicht deine Tochter?«
Étiennes Miene erhellt sich. »Isabel? Du hast uns gesehen?« Er lächelt wie es nur ein stolzer Vater kann. Dabei füllen sich seine Augen mit so viel Wärme, dass er mit einem Blick einen ganzen Gletscher schmelzen könnte. Mein Erzeuger und ich hatten kein besonders gutes Verhältnis. Vielleicht schmelze ich deshalb jedes Mal dahin, wenn ich einen Vater sehe, der so offensichtlich vernarrt in sein Kind ist. »Doch. Isabel ist meine Tochter.«
»Und was ist aus ihrer Mutter geworden?«, frage ich, auch wenn ich mir darüber bewusst bin, dass ich mich damit in Dinge einmische, die mich nichts angehen.
»Sie hat uns verlassen«, antwortet Étienne und fährt sich mit einer Hand durch die zerzausten Haare.
»Das tut mir leid.«
»Ach was.« Étienne winkt ab. »Das ist schon ewig her.«
Ein dumpfer Gong ertönt und unterbricht das vielstimmige Gemurmel, das von unten zu uns heraufschallt.
»Wir müssen zurück«, sage ich.
Étienne nickt. »Das war jetzt schon unser zweites Gespräch«, ergänzt er mit Blick auf seine vergoldete Taschenuhr.
»Worauf willst du hinaus?«
»Du hast gesagt, du würdest nach dem ersten Gespräch entscheiden, ob du einen Auftrag annimmst.«
»Dann willst du mich tatsächlich engagieren?«, frage ich misstrauisch. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Étienne Schlafprobleme hat. Ich wittere eine Finte. Vielleicht will er mich in sein Bett locken, aber ganz sicher nicht, damit ich seine Träume untersuche. Dennoch kann ich nicht verhindern, dass ich mich geschmeichelt fühle. Étienne ist ein attraktiver Kerl und unter anderen Umständen würde sein Bett bestimmt einen nicht unerheblichen Reiz auf mich ausüben, doch als Drude kann ich das Angebot einfach nicht annehmen. Ich möchte nicht in Versuchung geraten, mich in ihn zu verlieben. Oder ihn noch einmal zu drücken. Manchmal kann ich die beiden Triebe in meinem Innern kaum auseinanderhalten. Und ich weiß, ich könnte es nicht ertragen, einem geliebten Menschen derart Angst einzujagen. »Tut mir leid«, platzt es aus mir heraus, bevor Étienne meine Frage beantworten kann. »Aber ich denke nicht, dass ich die Richtige dafür bin.«
Ich raffe den Rock meines Kleides zusammen, schenke ihm noch ein kurzes, entschuldigendes Lächeln und flüchte zur Tür. Die fünf Schritte über die Galerie kommen mir entsetzlich lang vor. Ich kann förmlich fühlen, wie Étienne mich anstarrt. Sein Blick brennt ein Loch zwischen meine Schulterblätter. Hoffentlich habe ich ihn nicht zu sehr vor den Kopf gestoßen. Aber nein. Ein Mann wie Étienne kann mit Zurückweisungen umgehen. Er findet bestimmt schnell eine neue Bekanntschaft. Und ich kümmere mich jetzt um meinen richtigen Kunden.
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