56) Die eiserne Jungfrau
Étienne und Seymour erreichen die Treppe zuerst, verharren links und rechts des Aufgangs und lauschen.
Ich schleiche mich an die beiden Männer heran. Im Treppenhaus herrscht eine bedeutungsschwere Stille. Die Art Stille, die nicht bloß durch die Abwesenheit von Geräuschen auffällt, sondern selbst eine Form von Nicht-Geräusch beiträgt.
»Was denkt ihr?«, flüstere ich.
»Es ist zweifellos irgendwas im Gange«, antwortet Étienne.
Seymour nickt zustimmend. »Das würde mich nicht wundern. Wir haben es mit etwa dreißig Gendarmen vom Corps zu tun.«
»Dreißig?«, hauche ich.
»Erscheint mir fast etwas übertrieben, oder?«, fragt Étienne.
Seymour zieht eine Grimasse. »Wie man's nimmt. Sie haben mir nicht alles gesagt – eigentlich haben sie mir nur gesagt, was sie mussten, um mich vermeintlich auf ihre Seite zu ziehen – aber ich glaube, es gibt irgendein Problem mit diesem Faucon.«
»Faucon ist der Capitaine des Corps«, erkläre ich rasch. »Wir vermuten, dass er ein Halbelf ist und für den Präsidenten Jagd auf Verfluchte macht.«
»Er hat Roland Narcisse getötet, einen elfenfreundlichen Politiker«, kommt Étienne mir zu Hilfe. »Und auch seine Assistentin. Vermutlich im Auftrag des Präsidenten, um an die Baupläne einer magischen Maschine zu gelangen, die möglicherweise-«
Seymour hebt die Hand. »Schon gut. Ich muss nur wissen, ob ich auf ihn schießen soll.«
»Du hast bereits einmal auf ihn geschossen«, erwidere ich. »Sogar schon mehrfach«, fällt es mir wieder ein.
»Gut zu wissen«, brummt Seymour.
»Du erinnerst dich nicht an-«
»Ich bin ohne Erinnerungen aufgewacht«, fällt Seymour mir ins Wort. »Aber dann habe ich meine Erinnerungshilfen gesehen und dadurch ist das meiste, was Étienne, Isabel und mich betrifft, zu mir zurückgekehrt«, fügt er hinzu. »Ein paar Sachen konnte ich mir auch durch die Aussagen des Präsidenten und seiner Handlanger zusammenreimen, aber alles andere ist weg.«
»Dann erinnerst du dich auch nicht an mich?«, frage ich vorsichtig.
»Um ehrlich zu sein, nein«, antwortet Seymour. »Ich weiß nur, was man mir über Sie erzählt hat, Mademoiselle Potiron.«
»Pommier«, korrigiere ich ihn. »Und eigentlich waren wir schon bei Betty.«
»Na schön«, grunzt Seymour. »Betty ...«
»Vielleicht kommen die Erinnerungen noch wieder«, sagt Étienne aufmunternd. »Seit du mit Isabel unter einem Dach wohnst, ist es mit deinen Gedächtnisproblemen viel besser geworden. Manchmal fallen dir Dinge wieder ein, wenn man dir einen Hinweis gibt.«
Seymour lächelt schief. »Immerhin hat mein Gedächtnisverlust den Präsidenten davon überzeugt, mich freizulassen. Anfangs war ich sogar versucht, seiner Geschichte zu glauben, aber je mehr meiner Erinnerungen zurückgekommen sind, desto klarer ist mir geworden, dass irgendetwas nicht stimmt.«
Étienne zieht geräuschvoll Luft ein.
»Was ist?«, frage ich alarmiert.
»Dann weißt du noch gar nichts von ...« Étiennes Gesicht zuckt. Er bricht ab und kratzt sich am Nacken.
»Was weiß ich nicht?«, fragt Seymour düster.
»Na ja ...« Étienne druckst herum. »Du weißt nicht, was mit Theo passiert ist.«
»Theo ...« Seymours Blick wird starr. Ich kann ihm förmlich ansehen, wie er sein Gedächtnis durchforstet und das Erinnern mit Gewalt erzwingen will.
»Theodor Lepin«, erklärt Étienne geduldig. »Ihr habt euch in Lukern kennengelernt, auf der Suche nach elfischer Literatur für Isabel.«
Lukern ist eine Stadt in Westragon, die für ihre vielen Büchersammlungen und Bibliotheken bekannt ist. Ich war noch nie dort, was ich ehrlich bereue, aber offenbar haben die Menschen dort keine Schlafprobleme.
»Du hättest beinahe Brennholz aus ihm gemacht«, ergänzt Étienne mit einem flüchtigen Lächeln.
Seymour kneift die Augen zusammen. »Ich glaube, ich erinnere mich vage.« Er reibt sich die Stirn, als würde ihm das Nachdenken Kopfschmerzen bereiten. »Was ist mit diesem Theo?«
»Er wäre beinahe zu Brennholz geworden«, antwortet Étienne.
Seymour senkt den Blick auf die Waffe in seiner Hand. »Wie das?«
Étienne deutet zu den Zellen zurück. »Die beiden Eckenpisser da hinten haben dich entführt und das Anwesen in Brand gesteckt.«
»Das Anwesen?«, wiederholt Seymour fassungslos.
»Das Haus meines Vaters. Drüben in Roquette.«
»Ich weiß, was das Anwesen ist«, zischt Seymour. »Aber ... sie haben es angezündet?«
»Es ist komplett niedergebrannt.«
Seymour wirft einen Blick über die Schulter, als würde er sich fragen, ob es lohnenswert wäre, noch einmal zurückzugehen und Cumin und Poireau zu erschießen.
»Wir konnten Theo retten«, sage ich schnell, auch wenn ich Schnauzbart und seinen Kumpan nicht unbedingt in Schutz nehmen will. »Es geht ihm gut.«
»Er wartet zuhause auf uns«, ergänzt Étienne.
Von oben ist ein kehliger Schrei zu vernehmen, gefolgt von mehreren Schüssen.
Mir bricht der Angstschweiß aus. »Was ist da los?«
»Adeline, vermute ich«, antwortet Étienne.
»Aber sie kann doch unmöglich ... gegen dreißig bewaffnete Gendarmen ...?«, stammele ich.
Étienne zuckt mit den Schultern. »Ich würde es nicht ausschließen.«
»Wir sollten nachsehen gehen«, sagt Seymour, kontrolliert seine Waffe und macht sich an den Aufstieg.
Étienne und ich folgen ihm.
Die Treppe windet sich spiralförmig um eine vertikale Achse. Sie ist eng und uneben. Mehrfach gerate ich ins Stolpern und muss mich an den Wänden oder an Étienne festhalten, um nicht zu stürzen.
Einmal reiße ich Étienne dabei unbeabsichtigt fast die Hose herunter, was ihn dazu veranlasst, mir zuzuzwinkern und »Da will mir wohl jemand an die Wäsche« zu sagen, dicht gefolgt von »Verdammt, Betty, hast du da eine Waffe? Pass auf, was du damit machst. Ich bin wirklich nicht scharf auf ein zweites Po-Loch«.
Nachdem ich den beiden Männern einigermaßen glaubhaft versichert habe, dass ich weiß, was ich mache, gehen wir weiter.
Am Treppenabsatz bleibt Seymour stehen und späht in den Korridor, der sich an das Treppenhaus anschließt. »Mir nach«, raunt er und gleitet wie ein Schatten in die Dunkelheit.
Étienne folgt ihm etwas weniger elegant.
Wir huschen den Korridor hinunter. Durch mehrere hohe Fenster fällt verblassendes Tageslicht herein. Die Sonne ist inzwischen hinter dem Horizont versunken und es funkeln bereits die ersten Sterne am Himmel.
»Hier lang«, flüstert Seymour und biegt in einen breiten Gang ab, der beiderseits von zerschlagenen Spiegelwänden gesäumt wird. Unsere verzerrten Reflexionen begleiten uns bis zu einer weiteren Abzweigung. In dem dahinterliegenden Korridor ist es stockfinster.
Seymour hält inne.
»Was ist?«, fragt Étienne.
»Ich frage mich, wo alle sind und wer die Laternen ausgeschaltet hat.«
Tatsächlich ist die Stille erdrückend. Eigentlich sollte ich beruhigt sein, weil nichts darauf hindeutet, dass wir Gesellschaft haben, doch aus irgendeinem Grund habe ich genau daran meine Zweifel. Es ist einfach zu still.
»Wohin führt dieser Korridor?«, will Étienne wissen.
»Zum Thronsaal«, antwortet Seymour. »Palmier wollte dort auf euch warten.«
»Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass Betty den Geheimgang finden würde.«
Seymour schielt in meine Richtung. »Nein. Das hat er sicher nicht.«
Ein unheimliches Rumoren wandert durch die alte Burg. Kurz vermeine ich, Stimmen zu hören, aber dann wird mir klar, dass es sich bloß um das Stöhnen eines alten Gemäuers handelt.
»Gehen wir«, raunt Seymour. »Aber vorsichtig.«
Mit einem unwohlen Gefühl folge ich Seymour und Étienne in die Finsternis.
An der Mauer entlang tasten wir uns vorwärts. Schon bald werden die beiden Männer vor mir von der Dunkelheit verschlungen. Der dicke Teppichboden und die holzvertäfelten Wände verschlucken auch alle Geräusche.
Ich fühle mich, als würde ich in der endlosen Leere zwischen den Sternen wandeln. In diesen Seen aus undurchdringlicher Schwärze, die uns erdgebundenen Menschen laut eines bekannten ostragonischen Philosophen einen Vorgeschmack auf die Ewigkeit des Todes geben sollen.
Der Gedanke erinnert mich daran, dass wir es mit dreißig bewaffneten Gendarmen zu tun haben. Vielleicht sind wir dem Tod wirklich schon näher als dem Leben.
Ich verdränge diese Vorstellung. Jetzt ist keine Zeit für Pessimismus. Keine Zeit, um über Orangenbäume nachzudenken.
Im nächsten Moment hallt zum wiederholten Mal ein Schuss durch die Burg. Vor Schreck zucke ich zusammen und lasse die Pistole, die ich Poireau abgenommen habe, fallen.
»Betty?«, haucht Étienne, während wir alle dem dröhnenden Echo des Schusses nachlauschen, das nur langsam in den Wänden versickert. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, flüstere ich und bücke mich nach der Waffe. Meine Finger tasten jedoch ins Leere.
Hektisch taste ich den Teppichboden rund um meine Füße ab. Dabei berühre ich etwas Kaltes und Hartes. Zuerst denke ich, es würde sich um die Waffe handeln, doch dann bemerke ich, dass ich es mit etwas Größerem zu tun habe.
Meine Finger gleiten über seltsame Formen und wandern dabei immer weiter aufwärts. Irgendetwas steht direkt vor mir. Irgendetwas Menschengroßes und Metallisches, mit Kanten und Rundungen, Armen, Schultern und-
Ich stoße einen Schrei aus, weiche zurück und stoße mit dem Rücken gegen die Wand.
»Betty!«
»Da ist was!«, kreische ich.
»Betty, wo bist du?«
Ich spüre eine Hand an meinem Arm, doch in meiner Panik schlage ich sie weg.
»Ich bin's, Betty«, sagt Étienne.
Gleichzeitig flammt weiter hinten ein grelles, gelbes Licht auf.
Seymour hat eine der herumstehenden Laternen gefunden. Im Schein der Gaslampe kann ich sehen, was mir einen solchen Schrecken eingejagt hat. Es handelt sich um die eiserne Statue eines Uniformierten mit einer Schusswaffe in der Hand.
»Bei den Göttern«, haucht Étienne.
»Was ist das?«, wimmere ich.
Étienne schließt kurz die Augen, als müsste er sich beruhigen. Als er sie wieder öffnet, wirkt er entspannt. Geradezu erleichtert. »Das, Betty, ist ein Toter.«
»Aber er ist ...« Ich will »Aus Metall« sagen, doch mitten im Satz fällt mir ein, was das bedeutet und ich verstumme.
»Adeline muss hier gewesen sein«, sagt Étienne. An Seymour gewandt, ergänzt er: »Sie leidet unter dem Goldmarie-Fluch. Das ist-«
»Ich weiß, was das ist«, unterbricht ihn Seymour und deutet auf ein Einschussloch an der Wand gegenüber der gruseligen Statue. »Und wie es aussieht, hat diese Adeline - wer auch immer das sein mag – großes Glück gehabt.«
Étienne seufzt. »Es wird Zeit, dass wir dich nach Hause zu Isabel und deinen Notizen bringen.« Er deutet auf die Tür am Ende des Korridors. »Da lang?«
Seymour nickt.
»Komm, Betty.« Étienne streckt die Hand nach mir aus.
Ich bücke mich nach meiner Waffe und lasse mich von ihm durch den Korridor ziehen, während mein Blick noch immer wie gebannt an dem Toten klebt. Nicht nur sein Körper, sondern auch seine Kleidung ist zu Eisen erstarrt. Sein Gesicht zeigt einen Ausdruck wilder Entschlossenheit. Vermutlich hat er gar nicht gemerkt, wie ihm geschehen ist. Und auch wenn die Waffe in seiner Hand und das Einschussloch in der Wand seine Absichten deutlich machen, kann ich nicht anders, als Mitleid mit ihm zu empfinden.
Diese Gefühle verblassen jedoch, als Seymour die Tür am Ende des Korridors aufstemmt und der Klang gedämpfter Stimmen an meine Ohren dringt.
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