32) Klein-Jouyan
Nur schwer kann ich mich aus der Dunkelheit befreien. Gefangen zwischen Vergangenheit und Gegenwart lasse ich die beschauliche Landschaft an mir vorüberziehen.
Hin und wieder streckt Étienne die Hand aus, um mich auf einen Wald, einen See oder eine komische Steinformation aufmerksam zu machen. Dazu erzählt er mir lokale Legenden oder kurze Geschichten aus seiner Kindheit.
Seymour lässt Étienne reden und beschränkt seinen Beitrag zur Unterhaltung auf ein paar schnippische oder abfällige Kommentare.
Ich stelle fest, dass ich Étienne gerne zuhöre. Er hat eine lebhafte und ungezwungene Art, die einfach liebenswert ist. Noch dazu kommt es mir so vor, als hätte er nur darauf gewartet, jemanden zu finden, der ihm zuhört.
Doch nach einer Weile muss auch ihm meine niedergedrückte Stimmung auffallen. Statt etwas zu sagen, bedenkt er mich bloß mit einem mitfühlenden Blick und zieht mich fester an sich, bis ich mit der Wange an seiner Schulter zum Liegen komme. Ich schlinge einen Arm um seinen Bauch und schließe die Augen. Das Ruckeln der Voiturette auf den unebenen Straßen, das Brummen des Motors und die Wärme der frühen Mittagssonne wiegen mich in den Schlaf.
Ich döse vor mich hin, bis wir das Jouyan-Viertel erreichen.
»Betty ...?« Étienne rüttelt mich sanft an der Schulter.
»Ich bin wach«, nuschele ich, stütze mich an seiner Brust ab und richte mich auf.
Étiennes Augen funkeln spöttisch, doch ich ignoriere es und lasse meinen Blick über das imposante Bauwerk am Eingang zum Jouyan-Viertel schweifen. Zwei mehrstöckige Türme mit überhängenden Pagodendächern und geschnitzten Löwenwächtern – und dazwischen ein mächtiges Holztor mit einem Vorhang aus meterhohen Bambuspfeifen, die im auffrischenden Wind ein klackerndes Konzert veranstalten. Dahinter kann ich bereits die bunten Gassen und die vielen altertümlichen Joumin-Häuser mit ihren Lamellenfassaden, Spruchbändern und farbenfrohen Holzschindeldächern erahnen. Über die Straßen sind Girlanden und Tücher gespannt und von den Dachkanten baumeln Reispapierlaternen.
Es herrscht ein Gewimmel wie in einem Ameisenbau. Fahrende Händler mit Wagen und Karren bieten entlang der Straßen ihre Waren feil – in erster Linie Schmuck, Stoffe und Teppiche. Dazwischen die zahlende Kundschaft, Passanten und immer wieder kleine Garküchen, an denen gebratene Speisen oder exotische Süßigkeiten angebotenen werden. Der appetitliche Geruch von scharf gewürztem Brathähnchen und fettigen Teigtaschen erfüllt die aufgeheizte Luft.
»Willkommen in der Klunkerstadt«, sagt Étienne, schwingt sich von der Sitzbank und reicht mir die Hand.
»Klunkerstadt?«, wiederhole ich und reibe mir die Augen.
»Die umgangssprachliche Bezeichnung für diesen Stadtteil.«
»Eine von vielen, aber vermutlich die Einzige, die man in Anwesenheit einer Dame in den Mund nehmen darf«, ergänzt Seymour.
Étienne hilft mir aus der Voiturette, die in einer Haltebucht am Straßenrand zum Stehen gekommen ist. »Hat vermutlich mit dem hiesigen Joumin-Geldhaus zu tun, das ein klein wenig zu protzig geraten ist.«
»Damit haben die Joumin sich keinen Gefallen getan.«
Seymour winkt einen schmächtigen Jungen in Dreiviertelhosen und mit einer flachen Arbeitermütze auf dem Kopf zu sich und steckt ihm einen Geldschein zu – vermutlich als Bezahlung dafür, dass der Junge die Voiturette im Auge behält.
»Ach, du kennst doch Bo«, seufzt Étienne. »Über sowas macht der sich keine Gedanken.«
Ich komme mir dumm vor. »Bo? Wer ist Bo?«
»Bo Haru-Sin«, erklärt Étienne. »Der reichste und mit Abstand exzentrischste Mann der Stadt. Ihm gehört das Geldhaus in Jouyan-Sin.« Er deutet zu dem Torbogen mit den Bambuspfeifen hinauf. »Sin heißt so viel wie klein. Die Einheimischen nennen dieses Viertel Klunkerstadt, aber die Joumin nennen es Klein-Jouyan. Und Bo wird Haru-Sin genannt. Kleiner Hase.« Lachend fährt er fort: »Was natürlich die reine Untertreibung ist. Bo ist riesig.«
»Du kennst also den reichsten Mann der Stadt?«
»Hm«, macht Étienne achselzuckend. »Menthe ist ne kleine Insel. Da läuft man sich eben über den Weg. Ich glaube, mein Vater und er haben früher zusammen Binto gespielt.«
Seymour lässt seinen Blick schweifen. Am hinteren Ende der Straße, die Richtung Innenstadt führen muss, patrouillieren zwei Gruppen von Gendarmen. Sie halten Fahrzeuge an und kontrollieren die Ausweispapiere von Passanten.
Bei diesem Anblick wird mir ganz mulmig zumute.
»Na, seht euch das an«, murmelt Étienne. »Normalerweise wagen die Flicker sich nur selten nach Jouyan-Sin«, murmelt Étienne. »Denkst du, dieser Aufmarsch hat mit Narcisse zu tun?«
»Wenige Wochen vor der Troisan wird ein aufstrebender Politiker auf medienwirksame Weise ermordet«, erwidert Seymour mit gesenkter Stimme. »Der Präsident muss Stärke demonstrieren – und sei es nur, um von seiner eigenen Verwicklung in den Mord abzulenken.« Er prüft seine Innentaschen und richtet die Ärmel seines knielangen, gerade geschnittenen Mantels.
Étienne wirft er einen argwöhnischen Blick in den Himmel. Obwohl noch keine Wolken zu sehen sind, ist deutlich zu spüren, dass sich etwas zusammenbraut. Vermutlich liegt es am Wind, der durch die schmalen Gassen bläst, an den Girlanden rüttelt und die Bambuspfeifen gequält musizieren lässt. »Beeilen wir uns besser. Ich wäre ungern noch hier, wenn der Taifun die Küste erreicht.« Étienne bietet mir seinen Arm an und ich hake mich bei ihm unter.
»Keine Alleingänge, Mademoiselle Pommier«, ermahnt mich Seymour. »Mit Ihrem Aussehen kann man in Jouyan-Sin in Schwierigkeiten geraten.«
Étienne schüttelt den Kopf und flüstert: »Er übertreibt.«
»Und was ist mit Ihnen?«, erwidere ich. Schließlich ist Seymour genauso blond und blauäugig wie ich.
Étienne und Seymour tauschen Blicke und lachen.
»Um Seymour musst du dir keine Sorgen mache.« Étienne zieht mich zu dem großen Tor, das ins Jouyan-Viertel führt. »Er kann gut auf sich aufpassen – und man kennt ihn hier.«
»Ich kann auch auf mich aufpassen«, beschwere ich mich.
Seymour schnaubt.
»Sicher kannst du das«, sagt Étienne. »Aber es ist einfacher, wenn wir zusammenbleiben. Die Joumin hier sind nicht gefährlich-«
Seymour schnaubt erneut.
»-aber sie leben nach ihren eigenen Regeln.« Étienne seufzt. »Es ist nicht leicht, ein Joumin oder Shimin in Ostragon zu sein. Die Einheimischen haben viele Vorurteile.«
»Aber die Joumin in Jouyan-Sin tun auch nichts, um diese Vorurteile abzubauen«, wendet Seymour ein. »Eher ganz im Gegenteil.« Er beschleunigt seine Schritte und schließt zu uns auf. »Wenn sie hier leben wollen, müssen sie sich an die Regeln der Stadt halten und nicht an ihre eigenen.«
»Das würden sie vielleicht, wenn die Ostragonen sie besser behandeln würden. Wenn es für einen Joumin nicht so schwer wäre, eine ordentliche Wohnung oder eine vernünftig bezahlte Arbeit zu finden.«
»Vielleicht ist der ostragonische Bedarf an Teppichhändlern, Schmuckfälschern und Taschendieben gedeckt.«
Étienne gibt einen ungläubigen Laut von sich. »Wirklich, Seymour?«
»Was?«, erwidert Seymour dumpf. »Sieh dich doch um.«
»Du klingst, als würdest du ein eisernes Kreuz tragen.«
»Ich klinge wie jemand, der sagt, was viele Ostragonen denken.« Seymour zuckt mit den Schultern. »Wie in einer guten Ehe gehören zu einem harmonischen Zusammenleben immer zwei.«
Wir mischen uns unter die bunt gekleideten Joumin, die sich durch die Gassen schieben. Die Männer tragen Seidenkaftane, weite Hosen und Schnabelschuhe, die Frauen glänzende Wickelkleider, auffälligen Schmuck und lange Schals mit Bommeln und Quasten. Es riecht nach scharfen Gewürzen, Fett und kandierten Früchten. Fast wie auf einem Volksfest. An einer Straßenecke sitzt ein Musikant auf einem schmutzigen Kissen und zupft mit einem langen Fingernagel an den Saiten einer komisch geformten Laute.
»Um diese Uhrzeit müsste Onkel Raji im Laden sein«, höre ich Étienne sagen.
Seymour, der neben mir geht und die Umgebung im Blick behält, als würde er jederzeit damit rechnen, von einem Taschendieb angefallen zu werden, nickt. »Und vermutlich hat er auch schon ein paar Reisschnäpse intus.«
Étienne lächelt, was ich als Zustimmung deute.
Immer weiter dringen wir in das Herz von Jouyan-Sin vor. Dabei kommen wir an einem Badehaus, mehreren Spielhallen, Schmuckläden und Restaurants vorbei. Schon bald kann ich die mächtigen Umrisse des Geldhauses erkennen, von dem Étienne und Seymour gesprochen haben. Steinerne Drachen, Löwen und Vögel bevölkern die meterhohe Fassade.
»Hast du Hunger?«, fragt Étienne auf einmal.
Tatsächlich habe ich heute noch nichts gegessen.
»Da vorne ist ein Stand, an dem sie wirklich ausgezeichnete Michii machen«, fährt Étienne fort. »Das sind-«
»Gefüllte Teigtaschen mit Honig, ich weiß«, falle ich ihm ins Wort und genieße es, dass ich mit dem Wissen, das ich mir durch meine Kunden und ihre Albträume erworben habe, glänzen kann.
Étienne wirkt überrascht, aber erfreut. Mit einem schelmischen Funkeln in den Augen entzieht er mir seinen Arm. »Warte hier. Ich bin gleich wieder da.«
Ich sehe ihm nach, wie er sich durch die Menge drängt und den Verkäufer hinter dem Stand erst mit einer traditionellen Verneigung und dann mit Handschlag begrüßt. Offenbar ist Étienne auch in Jouyan-Sin kein Unbekannter.
»Wer ist Onkel Raji?«, frage ich Seymour, der hinter mir steht und einen Stand mit Büchern und Zeitungen begutachtet. »Ist er wirklich Étiennes Onkel?«
»Nein«, antwortet Seymour. »Alle nennen ihn Onkel Raji.«
»Und wie soll er uns helfen, Andrea zu finden?«
»Raji handelt mit Schrott und Antiquitäten. Manchmal vermittelt er auch Gelegenheitsarbeit. Er hat gute Kontakte in die höheren Gesellschaftsschichten, selbst wenn man ihm das nicht ansieht. Wenn Narcisse mal was von ihm gekauft oder einen Joumin in seinem Haushalt beschäftigt hat, wird er alles darüber wissen.«
Ich trete neben Seymour und betrachte die Zeitungen. Einige davon sind aus Jouyan. Der Text ist in wunderschön verschnörkelten Lettern auf knitterfreies Reispapier gedruckt. Leider kann ich nichts davon lesen.
Mein Blick fällt auf eine aktuelle Tageszeitung.
Auftakt einer neuen Gewaltserie? Ehemaliger Professor und Elfensympathisant ermordet aufgefunden. Darunter prangt eine körnige Fotografie von Narcisse' Anwesen in der Malvenallee.
Ich strecke die Hand aus, fahre mit den Fingerspitzen über die Abbildung und vertiefe mich in den dazugehörigen Text. Laut des Artikels war Narcisse zur Tatzeit alleine. Kein Wort von einer Zeugin. Angeblich hat ihn seine Haushälterin am nächsten Morgen aufgefunden. Grauenhaft inszeniert und ausgeweidet wie ein Vieh beim Schlachter. Der Autor des Artikels zieht Vergleiche zu der grausamen Mordserie in Lierre, bei der vor einigen Jahren mehrere einflussreiche Joumin auf ganz ähnliche Weise umgebracht wurden, und spekuliert über die Existenz eines Bündnisses zwischen den Contres und der Eisenkreuzbewegung.
Das Blaue-Distel-Bündnis, denke ich und kann nicht verhindern, dass es mir bei der Erinnerung an meine Unterhaltung mit Faucon eiskalt den Rücken hinabläuft.
Seymour späht mir über die Schulter. »Bestimmt wird der Präsident deswegen noch eine Stellungnahme abgeben.«
»Meinen Sie?«
»Er wird es sich nicht entgehen lassen, diese Angelegenheit der Opposition in die Schuhe zu schieben.«
»Faucon hat von einem Bündnis zwischen der Opposition und der Eisenkreuzbewegung gesprochen. Dem Blaue-Distel-Bündnis. Angeblich hätten sie Narcisse mit dem Tod gedroht.«
»Der Präsident versucht schon seit Jahren, seine politischen Gegner mit diesen Gruppierungen in Verbindung zu bringen. Bislang haben sich noch nie Beweise für eine Existenz eines solchen Bündnisses gefunden.«
»Sowas Ähnliches hat Narcisse auch gesagt«, murmele ich.
»Auf den ersten Blick haben die Contres natürlich das beste Motiv, Narcisse zu ermorden«, fährt Seymour fort. »Und es macht durchaus Sinn, dass sie sich mit der Eisenkreuzbewegung und den Freiheitskämpfern verbünden. Alle diese Gruppen haben es sich zum Ziel gemacht, Ostragon von ausländischen Einflüssen zu befreien.« Seymour schürzt die Lippen. »Aber ...«
»Was aber?«
»Faucon arbeitet für den Präsidenten. Jedenfalls, wenn man die Befehlskette bis zum oberen Ende verfolgt. Und wir wissen, dass der Präsident auch ein Motiv hatte, Narcisse zu ermorden.«
»Ist es nicht vorstellbar, dass Faucon die Seiten gewechselt hat und für das Blaue-Distel-Bündnis arbeitet?«
»Vielleicht. Wer weiß schon, was im Kopf eines Halbelfen vor sich geht?« Seymour legt den Kopf schief. »Allerdings frage ich mich, wieso er den Mord auf diese Weise inszeniert hat.«
»Um ein Zeichen zu setzen? Als Warnung?«
Seymour nickt langsam, lehnt sich in meine Richtung und sagt: »Und doch ist der Einzige, der von dieser Inszenierung einen Vorteil hat, der Präsident, der uns das Märchen vom Blaue-Distel-Bündnis verkaufen will.«
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