26) Geheimnisse und Intrigen
»Tut mir leid«, stammele ich und wische den Tee mit dem Ärmel meines Nachthemds auf.
Adeline scheint den Zwischenfall gar nicht bemerkt zu haben. Sie legt die Zeitung vor sich ab und streicht das Papier mit den Händen glatt. Genau wie bei unseren bisherigen Begegnungen trägt sie schwarze Lederhandschuhe.
»Was schreiben sie?«, fragt Étienne und lässt sich auf seinen Stuhl sinken. Dabei führt er eine Hand zu seinem Mund und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Unterlippe.
Adeline lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. »Hugo Merchant von der Tribune nennt es eine grauenhafte Hinrichtung und Miriel Aiguille von der Presse einen Ritualmord. Anscheinend wurde Narcisse ziemlich übel zugerichtet und ...« Ihr Blick wandert zu mir, als wollte sie sich für ihre folgenden Worte entschuldigen. »... ausgeweidet.«
Ich kann hören, wie Faucon zusticht. Das dumpfe Geräusch fährt mir bis in die Knochen. Es ist, als würde ich die Klinge am eigenen Leib spüren. Langsam senke ich den Blick. Beinahe erwarte ich, Blut auf meinem Nachthemd zu sehen. Gedärme, die aus mir herausquellen und mit einem feuchten Klatschen auf dem Fußboden landen.
»Betty?«, fragt Étienne besorgt.
Ich balle die Hände zu Fäusten. Alles in mir schreit danach, aufzuspringen und wegzurennen. Aber ich weiß, wenn ich jetzt wegrenne, werde ich immer wieder wegrennen. Außerdem muss ich wissen, was mit Narcisse passiert ist, und warum. Das bin ich ihm schuldig.
»Sie vermuten, dass seine politischen Gegner dahinterstecken«, fährt Adeline fort.
»Die Contres«, murmelt Étienne und zupft an seiner Unterlippe herum.
»Aber das ist nicht wahr!«, sage ich, stütze die Ellenbogen auf den Tisch und presse die Stirn gegen meine Fäuste, die so fest zusammengeballt sind, dass meine Finger weiß anlaufen. »Julien Faucon hat ihn getötet. Ich habe es gesehen.«
Adeline ignoriert meinen Ausbruch und raschelt mit der Zeitung. »Ich habe den Morgen genutzt und mich schlaugemacht. Capitaine Julien Faucon ist sogar meinen Kontakten im Corps ein Rätsel. Anscheinend ist er erst vor ein paar Wochen zum ersten Mal offiziell in Erscheinung getreten. Niemand weiß genau, was er vorher gemacht hat, aber offenbar hat er sich damit das Vertrauen des Präsidenten erworben. Sonst wäre er nicht in seiner jetzigen Position.«
»Der Präsident!«, fällt es mir glühend heiß ein. »Narcisse und der Präsident hatten einen Streit.«
»Président Marc Louis Palmier?«, fragt Seymour ungläubig.
»Ja, ja!« Ich versuche, mich an meinen Besuch bei Narcisse zu erinnern. »Es ging um Narcisse' Auftritt vor dem Oberhaus. Palmier wollte den Termin verschieben und Narcisse hat geglaubt, der Präsident würde ihn damit bloß hinhalten wollen.«
»Und wieso sollte-«
»Weil er keinen Frieden mit den Elfen will!«, falle ich Seymour ins Wort. Ich kann ihm ansehen, dass er mir nicht mehr folgen kann und bemühe mich um einen ruhigeren Tonfall und eine geordnetere Erzählweise. »Narcisse hat mir erzählt, dass er in Ellyrien gewesen sei und mit den Elfen gesprochen habe. Er hat gesagt, er wüsste nun, dass die Ellyrier nicht die Verursacher der Elfenflüche seien. Und angeblich wüsste er auch, wer die Flüche verursacht hat.«
Étienne, Adeline und Seymour tauschen Blicke.
»Und dann war da noch was mit dem König.«
»König?«, wiederholt Seymour mit einem Stirnrunzeln, das die Bezeichnung nicht verdient. Es sieht eher aus, als würden hinter seiner Stirn Kanalbauarbeiten durchgeführt.
»König Lyonel Belladonne«, erinnere ich mich.
»Aber der König ist schon lange tot«, wendet Étienne ein.
»Ja ... ja, aber ...« Ich reibe mir die Schläfen, um mein Gehirn anzutreiben. »Aber Narcisse hat gesagt, er wüsste, wieso der König damals abdanken musste. Er wüsste, was damals wirklich geschehen ist.«
»Und was?«, fragt Adeline.
»Das hat er mir nicht gesagt. Nur, dass Président Palmier von Haus Belladone finanziert würde.«
»Ein offenes Geheimnis«, kommentiert Seymour. »Der Adel klammert sich an seine Macht.«
Frustriert lasse ich die Hände sinken. »Ich weiß auch nicht, was das alles zu bedeuten hat.«
»Was genau hat Narcisse über die Elfenflüche gesagt?«, will Étienne wissen.
»Er hat von der magischen Pest gesprochen«, erinnere ich mich. »Und davon, dass die Menschen in der Nachkriegszeit gedacht hätten, diese Pest wäre von den Elfen verursacht worden. Dass die Regierung die Flüche vertuscht hätte, aber dass er von ihrer Existenz wüsste und dass sie nicht von den Elfen kommen würden.« Ich presse mir die Handballen auf die Augen. »Narcisse hat auch gesagt, dass er noch andere Sachen herausgefunden hätte, dass er deswegen unbedingt vor dem Oberhaus sprechen müsse und dass einem Frieden mit den Elfen dann nichts mehr im Weg stünde.«
»Ich hab es euch doch gesagt!«, kommt es von einer Tür am hinteren Ende des Esszimmers, die vermutlich in die Küche führt. Isabel steht im Türrahmen und blickt anklagend in die Runde. »Genau wie Theo.«
»Nicht jetzt, Isabel«, stöhnt Étienne.
»Flüche funktionieren nicht auf diese Weise. Man kann niemanden verfluchen.«
»Wir reden später darüber.«
»Man kann sich nur selbst verfluchen«, fährt Isabel ungerührt fort. Sie wirkt entrüstet, regelrecht zornig. »Also ... wieso sagen sie immer, dass wir das gemacht hätten?«
Bei diesen Worten erklingt ein Summen wie von einer angeschlagenen Stimmgabel. Ein Windhauch fährt durch das Zimmer, rüttelt an den Gardinen und lässt das Porzellan klirren.
Étienne springt auf. »Isabel!«
Die Haare des Mädchens schweben in der Luft, als wären sie plötzlich schwerelos geworden. Ihre Augen bekommen einen unheimlichen Glanz. Groß und rund und rot, wie der Elfmond.
»Isabel!«, wiederholt Étienne.
Das Mädchen schwankt auf der Stelle. Ihre Haare fallen herab, der Glanz in ihren Augen erlischt, das Summen verstummt.
Ein erschrockener Ausdruck tritt auf Isabels Gesicht. Sie schnappt nach Luft, ihr Brustkorb hebt und senkt sich wie ein Blasebalg. Dann fährt sie auf der Stelle herum, verschwindet in der Küche und rennt davon. Die Absätze ihrer Schnallenschuhe klappern auf den Fliesen.
»Entschuldigt mich«, sagt Étienne und stürmt zur Tür. »Isabel!«, ruft er seiner Tochter nach, doch sie scheint ihn nicht zu hören (oder will es nicht). Mit einem unterdrückten Fluch macht Étienne sich an ihre Verfolgung.
»Ihre Augen«, hauche ich. »Wie bei ... Faucon.«
Adeline beugt sich in meine Richtung und fragt: »Sind Sie sich da sicher?«
Ich nicke. Die Erinnerung an Faucon mit dem Messer in der Hand und den rot glimmenden Augen durchströmt mich wie eine Welle der Übelkeit. Mir wird glühend heiß und schwindelig.
»Ich ... ich muss mal kurz an die frische Luft«, entschuldige ich mich, schiebe meinen Stuhl zurück und schleppe mich zur Tür hinaus.
Im Flur bleibe ich stehen und halte mich an der Wandvertäfelung fest. Alles scheint sich um mich zu drehen. Hinter mir kann ich Adeline, Seymour und Mae diskutieren hören.
Schließlich ist es Seymour, der murrend aufsteht und mir nachgeht. »Warten Sie«, sagt er, gleitet an meine Seite und fasst mich am Arm.
Ich kann gerade noch den Impuls unterdrücken, mich von ihm loszureißen und ihn wegzustoßen.
»Mir nach.« Seymour hakt sich bei mir unter und schleift mich durch den Korridor zu einer Treppe, die Stufen hinab und von dort zu einer Tür, die ins Freie hinausgeht.
Dahinter befindet sich eine schmale Stiege, die zu einer schattigen Bucht hinunterführt. Hier rauscht der Ellyrische Ozean gegen die vorgelagerten Felsen und rollt in rhythmischen Wellen über den steinigen Strand. Rundherum an den Felshängen wachsen Federgras und Sonnekresse. Die langen Halme wiegen sich im kühlen Wind, der den Geruch von Salzwasser, Algen und Schlamm mit sich trägt.
»Besser?«, fragt Seymour.
Ich atme tief ein und aus. Trotzdem habe ich das Gefühl, nur schwer Luft zu bekommen.
»Ihr Konstitution lässt wirklich zu wünschen übrig«, bemerkt mein Begleiter. »Und dabei sagten Sie doch, Sie wären so etwas wie eine Ärztin.«
»Schon gut«, knurre ich. »Sie können mich nicht leiden. Ich hab's verstanden.«
Statt einer Antwort legt Seymour den Kopf in den Nacken und blinzelt in die vereinzelten Sonnenstrahlen, die über die gezackten Kanten der Felsklippen in die Bucht fallen. Über uns thront das Romarin-Anwesen wie ein bunt zusammengewürfeltes, architektonisches Flickwerk, das mit den Felsen zu einem gebieterischen Klotz verschmolzen ist. Ein beeindruckendes Sammelsurium aus Ecken und Winkeln, Fenstern, Erkern, Balkonen, Türmchen und Terrassen. Es scheint alle mir bekannten Baustile und alle nur erdenklichen Baumaterialien im Laufe der Zeit in sich aufgesogen zu haben. Üppig verzierte Keramikfliesen wechseln sich mit nüchternen Glasfronten, urigen Holzerkern, altmodischen Tonziegeln und rustikalen Bruchsteinmauern ab.
»Es geht nicht darum, ob ich Sie mag oder nicht«, erwidert Seymour nach einigen Sekunden des Schweigens.
»Ach nein?«, murmele ich und nähere mich dem Wasser.
»Nein«, bekräftigt Seymour. »Sie sind doch eine Verfluchte«, fügt er hinzu. »Sie sollten wissen, wie die Dinge stehen.«
»Wie stehen sie denn?«, frage ich. Die Wellen gleiten über den Strand und bewegen die vielen kleinen Steinchen, die vom Wasser bereits rund und glatt geschliffen sind. Der Anblick hat etwas seltsam Hypnotisches.
»Wie vielen Verfluchten sind Sie schon begegnet, Mademoiselle Pommier?«
»Das kann ich nicht sagen«, antworte ich. »Ich könnte Tausenden begegnet sein, ohne es zu wissen.«
Aus dem Augenwinkel kann ich Seymour schmunzeln sehen. Er verschränkt die Hände auf dem Rücken und folgt mir zum Wasser. »Wir mögen einmal viele gewesen sein, aber diese Zeiten sind vorbei.«
»Ist das nicht etwas Gutes? Bedeutet das nicht, dass der Fluch schwächer wird?«
»Wenn wir davon ausgehen, dass der Fluch so etwas wie eine Erbkrankheit ist, die – mit Ausnahmen – von Generation zu Generation weitergegeben wird, ja.«
Ich bücke mich nach einer Muschel, die sich in einem Netz aus Seetang verfangen hat. »Wo ist dann das Problem?«
»Es gibt Hinweise darauf, dass jemand unserem Aussterben nachhilft.«
Langsam richte ich mich wieder auf und drehe die Muschel zwischen den Fingern. »Was heißt das?«
»Wir denken, dass jemand Jagd auf Verfluchte macht.« Seymour tritt neben mich, gerade so weit, dass die Spitzen seiner teuren Lederschuhe nicht mit dem Meerwasser in Berührung kommen. »Zuerst war es nur eine Theorie, aber inzwischen sind wir davon überzeugt, dass wir mit unseren Vermutungen richtig liegen.«
»Das ist ...« Mein Verstand weigert sich, Seymour zu glauben. »... lachhaft.«
Seymour zieht die Augenbrauen hoch. »Wirklich? Hatten Sie noch nie das Gefühl, verfolgt zu werden?«
»Ich habe immer das Gefühl, verfolgt zu werden«, halte ich dagegen. »Druden gehören für die meisten Menschen ins Reich der Fantasie, aber wenn ich zu lange an einem Ort bleibe, werden für gewöhnlich sogar die größten Skeptiker hellhörig und rufen zur Drudenjagd.«
»Diese Einstellung hat Ihnen vermutlich das Leben gerettet.« Seymours Tonfall wird schärfer. »Denn Sie ziehen mit Ihrer albernen Schlafheiler-Nummer entschieden zu viel Aufmerksamkeit auf sich.«
»Aber-«
»Und deswegen will ich Sie nicht hier haben«, schneidet Seymour mir das Wort ab. »Die Menschen stellen bereits Fragen und wir wollen ihnen keinen Grund geben, noch weitere Nachforschungen anzustellen.«
»Wieso sollte jemand Jagd auf Verfluchte machen? Und wer?«
»Das wissen wir nicht. Noch nicht.« Seymour wirft mir einen schwer zu deutenden Blick zu. »Möglicherweise jemand, der möchte, dass wir weiterhin Fantasiekreaturen bleiben. Jemand, der verhindern will, dass die Wahrheit über uns herauskommt.«
Ein eisiger Schauer überläuft meinen Körper. Die hohen Felswände scheinen näher zu rücken und die Bucht bedrückend eng zu werden. »Aber wenn das stimmt«, flüstere ich und balle die Hand um die Muschel, bis ihre Kanten in meine Haut schneiden, »dann hatte dieser Jemand auch einen Grund, Narcisse zu töten.«
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