Prolog
Seattle war kalt und verregnet, genauso wie man es ihr gesagt hatte. Dennoch war sie erstaunt wie verregnet es war. Sie kam aus Texas, Regen war eine Seltenheit und als man ihr von einem Ort berichtete, an dem es fast nur regnete, hatte sie es nicht glauben wollen. Sie war nie außerhalb von Dallas gewesen, bis heute. Und nicht nur das; sie war in ein Flugzeug gestiegen und war nun fast auf der anderen Seite Amerikas und das alles ganz allein. Die nette Frau vom Jugendamt hatte ihr gesagt, dass jemand auf sie warten würde, aber sie hatte fürchterliche Angst, dass da gleich niemand stand. Am Kofferband wartete sie mit wild klopfenden Herzen und nassen Handflächen und als der winzige, ramponierte Koffer endlich zu sehen war, war sie schon fast enttäuscht, dass sie es nicht länger hinaus zögern konnte.
Ängstlich tappte sie zum Ausgang, vorbei an den finster drein blickenden Sicherheitskräften, bei dessen Anblick sie eine Gänsehaut bekam. Draußen herrschte reges Treiben, Familien die einander in die Arme fielen, Liebespaare, die nach langer Zeit wieder vereint waren und Businessmänner die zu ihrem nächsten Meeting abgeholt wurden. Nur sie stand da und wusste nicht ob sie sich freuen sollte hier zu sein. Bevor sie irgendetwas anzweifeln konnte, rief sie sich das Gesicht der netten Frau ins Gedächtnis, die ihr versprach, dass es hier besser war als Zuhause – Das es überall besser war als Zuhause. Damals hatte sie es geglaubt und jetzt tat sie es auch wieder und nachdem sie einmal tief durchatmete trat sie aus dem Gewusel hervor und hielt nach jemanden Ausschau der für sie hier sein könnte. Sie musste nicht lange suchen, ein junger Mann in dunkelblauen Poloshirt mit der weißen Aufschrift Folster Jugendheim hielt ein Schild mit ihrem Namen hoch und lächelte sie breit an, als er sie in der Menge sah. Vergeblich versuchte sie ihre Nervosität herunter zu schlucken und ebenfalls zu Lächeln, aber es ging einfach nicht.
„Hattest du einen guten Flug?" Begrüßte der Fremde sie und sie nickte knapp, obwohl das eine Lüge war, der Flug war grässlich gewesen. Es war ihr erster und hoffentlich auch ihr letzter. „Ich bin Jeff, du bist in meiner Gruppe, wenn irgendetwas ist, kannst du mich jederzeit erreichen, später gebe ich dir noch meine Nummer." Sein Lächeln verlor nicht an Ehrlichkeit, obwohl sie ihn zweifellos sehr grimmig ansah, tapfer nickte er und machte Anstalten ihr ihren Koffer abzunehmen, doch in einem Anflug von Panik trat sie rasch einen Schritt zurück und stieß heftig mit einem gestressten Geschäftsmann im Anzug zusammen. Ihr Koffer fiel krachend um und der Mann verlor das Gleichgewicht. „Kannst du nicht aufpassen?!" Fauchte er sie aufgebracht an und sie zuckte zitternd zurück, erschrocken spürte sie wie ihr heiße Tränen in die Augen schossen, verzweifelt blinzelte sie. „Sorry." Brachte sie sie zwischen zwei aufkommenden Schluchzern hervor. Der Mann schüttelte genervt den Kopf und verschwand Richtung Taxis. Immer noch neben der Spur griff sie nach ihrem Koffer und drehte sich zu Jeff, der noch immer lächelte, diesmal aber nicht so breit. Es war kein gespieltes Lächeln, es war echt, aber besorgt. Jetzt schon. Sie hatte das Gefühl alles komplett falsch zu machen und wünschte sich schon fast sie wäre in Dallas geblieben.
„Mach dir nichts draus, diese Leute sind einfach immer im Stress und unhöflich. Komm, wir gehen zum Auto. Soll ich deinen Koffer nehmen, oder willst du ihn lieber selbst tragen?" Diesmal fragte er und nahm ihn nicht einfach, wofür sie dankbar war. Statt ihm zu antworten umfasste sie den Griff etwas stärker und machte den ersten Schritt in Richtung Parkhaus. Er verstand offenbar und ging ihr voraus. Auch im Parkhaus war es voll und kalt und nass, auf dem Boden waren nasse Reifenspuren und es roch fürchterlich nach Benzin, sie konnte Parkhäuser nicht leiden. Jeff hatte sie zu einem Van geführt, der dieselbe Farbe und Aufschrift wie sein Hemd hatte und nachdem sie ihren Koffer auch nicht in den Kofferraum legen wollte, gab er es auf und ließ es zu, dass sie ihn mit auf den Beifahrersitz nahm. Dort umklammerte sie ihn, als wäre er ein Rettungsring und sie eine Schiffbrüchige mitten auf dem tobenden Ozean und so fühlte sie sich irgendwie auch. Alles war neu und es gab hier mehr Dinge vor denen sie sich fürchtete, als sie es an einer Hand abzählen könnte und in diesem Koffer waren all ihre Habseligkeiten, alles was sie nicht an diesem Ort hatte zurücklassen können.
Jeff legte den Rückwärtsgang ein und sie lehnte ihre Stirn an die beschlagene Scheibe. Im Radio liefen die Charts und Jeff trommelte den Rhythmus auf dem Lenkrad mit oder nickte im Takt. Fasziniert sah sie zu, wie die vielen Stadtlichter in der Abenddämmerung mit dem Regen verschmolzen und vor der Scheibe zu einem hellen, glitzernden Einheitsbrei wurden. Schon bald ließen sie Seattle hinter sich und fuhren über einsame Landstraßen immer weiter und weiter. Langsam fragte sie sich, ob es hier mit rechten Dingen zu ging, sie hatte nicht gewusst, dass das Heim so weit außerhalb lag, entführte der Typ sie grade? Eine erneute Woge der Panik überkam sie und sie setzte sich etwas aufrechter hin, die Türen waren verriegelt. Am liebsten hätte sie die Scheibe eingeschlagen, doch dann schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Dieser Mann, Jeff, war gekommen um ihr zu helfen, es war alles gut. „Ist alles okay?" Fragte er grade in diesem Moment und sie riss den Kopf zu ihm rum, er hatte die ganze Fahrt über nichts gesagt. „Ja." Erwiderte sie leise und er lächelte wieder, vermutlich weil sie geredet hatte. „Hat man dir schon irgendetwas von Folster erzählt? Oder hast du vielleicht irgendetwas nachgeguckt?" Sie schüttelte den Kopf, auf die Idee war sie nicht einmal gekommen, alles war zum Schluss so unfassbar schnell gegangen. „Naja, also Folster ist nicht wie andere Heime, es gibt da ein paar feine Unterschiede. Es ist privatisiert und privilegiert. Mr. Folster ist ein ziemlich reicher Mann, er und auch sein Vater haben das Heim vor Ewigkeiten aus dem nichts erschaffen und spezialisieren sich darauf Kindern und Jugendlichen, die kein Zuhause oder ein sehr schlechtes, so wie du, zu helfen. Ich bin mir sicher, dass es dir nach einiger Zeit gut gefallen wird." Nach einiger Zeit. Das glaubte sie sofort. „Ich musste mich auch erstmal daran gewöhnen, aber ich liebe meinen Job mittlerweile und ich liebe die Kids, es gibt nichts Besseres als mit ihnen zu arbeiten. Du lebst dich bestimmt schnell ein, alles was du tun musst ist offen sein." Und damit hatte sie so ihre Probleme, nach allem was ihr passiert war, sollte das wohl ein schlechter Scherz sein, wie sollte sie bitte offen sein, wenn sie seit Jahren nur gequält und gefoltert wurde? Sie verkrampfte sich und das entging Jeff nicht.„Du musst keine Angst mehr haben, keiner wird dir etwas tun. Alle die in Folster sind, sitzen mit dir im selben Boot." Sie wollte dass er aufhörte zu reden, sie wollte einfach dass das alles aufhörte. Doch sie sagte nichts und hörte sich für den Rest der Fahrt an, was er zu sagen hatte. Nach drei Stunden im Van bog er an einer unauffälligen Kreuzung mitten im Wald rechts ein und folgte einer noch kleineren Straße.
Dann passierten sie ein hölzernes Ortschild, der Lack blätterte allmählich ab und das Holz war vom Regen verwittert, doch sie konnte den Namen noch immer erahnen: Greentown. Von Greentown hatte die nette Frau etwas gesagt, daran erinnerte sie sich dunkel. Jeff fuhr durch Greentown, es war eine kleine, typisch amerikanische Kleinstadt. Düstere Gesichter, ein Lebensmittelladen, ein einsames Diner das wie ein Hologramm über dem nassen Asphalt schwebte und mit Neonlichtern den besten Hamburger in Washington State anpries und eine kleine Highschool, die trostlos und leer am Ende von Greentown stand. Dann waren sie durch und die Häuser wichen wieder dem alles verschlingenden Wald. „In Greentown ist dann deine Schule, es fährt ein Bus ganz in der Nähe des Heims direkt bis vor die Tür. Dein Stundenplan und alles Weitere liegen schon in deinem Zimmer bereit. Du hast drei weitere Mitbewohnerinnen: Painting, Diet Cherry Coke und Red Lipstick." Sie blinzelte und sah ihn zum ersten Mal richtig an. „Wie bitte?" Er wiederholte die Namen und sie schüttelte verwirrt den Kopf. Diese Mädchen konnten unmöglich Painting, Diet Cherry Coke und Red Lipstick heißen, sie musste das falsch verstanden haben oder er erlaubte sich grade einen absolut unlustigen Scherz mit ihr und wenn das der Fall sein sollte, würde sie gleich ausrasten. „Entschuldigung, aber ist das Ihr Ernst? Sind das die echten Namen?" Jeff lachte kurz auf und ihre Miene verdüsterte sich, er verarschte sie. „Nein, das sind natürlich nicht ihre echten Namen, das ist eine weitere Besonderheit in Folster, ihr legt eure echten Namen ab und nehmt einen Spitznamen an. Du sollst alles zurücklassen, damit du neu anfangen kannst, also auch deinen Namen. Es ist absolut verboten deinen echten Namen preiszugeben." Das war verrückt, doch das sprach sie nicht aus. „Du erhältst deinen Namen von den Leuten im Heim, bis er feststeht bist du New Girl."Sehr einfallsreich, sie sank tiefer in ihren Sitz, das war ein Alptraum, hätte sie nicht einfach in ein normales Heim kommen können?
„So da wären wir." Sagte Jeff plötzlich und sie sah auf. Vor ihnen lag eine lange Kiesauffahrt, genau wie in den Filmen. Links war ein Parkplatz und links führte ein Kiesweg hoch zu einem riesigen Haus, über der massiven Tür stand in steinernen Lettern Folster Jugendheim. Ein Schauder lief über ihren Rücken. Jeff fuhr im Schritttempo über den Kies, der nasse Stein knirschte ekelhaft unter den Reifen und als er den Van parkte und raus sprang, hatte sie sich noch immer keinen Zentimeter bewegt und starrte einfach nur hinauf zu dem Haus. Jeff öffnete ihre Tür und lächelte sanft. „Komm, es sieht eindrucksvoller aus als es ist, keine Sorge." Sie schnallte sich ab und verließ das warme Auto. Draußen war es eisig kalt und der Regen, der sie auf der ganzen Fahrt begleitet hatte, war heftiger geworden. Gemeinsam mit Jeff lief sie den Weg zum Haus hoch, die Räder ihres Koffers malten dunkle Linien in den Kies und sie versuchte vergeblich sie wieder wegzumachen, doch Jeff zuckte nur mit den Schultern.
Drinnen sah es tatsächlich nicht mehr so eindrucksvoll aus, lediglich ein paar Bänke und ein Büro, sowie ein paar Grünpflanzen waren zu sehen, an der Wand hingen einige Bilder von fein aussehenden Männern und Frauen, vermutlich die Familie Folster. Jeff ging direkt auf das Büro zu und sie blieb unsicher vor der Tür stehen. „Komm rein, du musst ein paar Sachen unterschreiben." Hörte sie Jeff von drinnen, also trat sich langsam ein. Hier herrschte pure Anarchie. Ein ältere Dame mit Brille saß an einem überfüllten Schreibtisch vor einem gigantischen Aktenschrank, der überzuquellen schien, auch auf dem Boden stapelte sich das Papier und ihr gegenüber war ein weiterer Schreibtisch, auf dem es nicht besser aussah, allerdings war er verwaist. „Mrs. Harper kümmert sich um alles was mit Papierkram zu tun hat, wenn irgendetwas mit der Schule oder anderen Sachen in die Richtung ist, gehst du zu ihr. Er legte ihr ein paar Papiere und einen Kugelschreiber hin. Auf dem ersten Papier stand in fetten Lettern Aufnahmebestätigung sie unterschrieb ohne es sich weiter durchzulesen und machte das auch bei den restlichen Zetteln. „Sehr gut, dann hätten wir das. Die anderen nimmst du mit auf dein Zimmer, das sind ein Lageplan, ein Busplan, dein Stundenplan und die Hausordnung, lies dir das alles morgen ganz in Ruhe durch." Sie nickte bloß und klemmte sich den Stapel unter den Arm, dann wünschte Jeff Mrs. Harper eine gute Nacht und führte sie durch einige Flure.
„Also das eben war das Haupthaus, da sind die Büros und Unterkünfte der Aufsicht, es ist mit den Wohntrakten durch diese Flure verbunden, links ist das Mädchenhaus, rechts das Jungenhaus und nach ganz hinten durch geht es zu den Kleinen, aber das ist ja eh uninteressant für dich. Das Haus mit der Küche und dem Speisesaal steht einzeln auf dem Gelände, guck dort." Sie standen in einem gläsernen Flur, der das Haupthaus mit dem der Mädchen verband, rechts sah sie durch die Scheibe einen identischen Flur zu dem der Jungen und durch all diese Schichten Glas sah sie ein weiteres Gebäude, darauf zeigte Jeff. „Gut, du musst in den zweiten Stock, Zimmer 2.11. Ich würde sagen, ich zeige dir noch schnell das Bad und den Rest klären wir morgen in aller Ruhe. Wenn du gleich noch irgendwelche Fragen hast, wende dich einfach an Painting, kleiner Tipp, sie ist die Blonde."
Sie nahm all diese Dinge nur schwammig wahr, es war mitten in Der Nacht, sie war nervös und müde, sie merkte sich nichts von all dem. Und dann standen sie plötzlich vor einer Tür, ihrer Tür. Jeff zeigte den Flur runter. „Die graue Tür in der Mitte des Gangs ist das Bad, links die Toiletten, rechts die Duschen. Gute Nacht." Dann klopfte er und verschwand den Gang runter. Plötzlich so allein bekam sie wieder Panik, was wenn sie sie nicht leiden konnten? Sie würde nicht mal den Weg zurück ins Haupthaus finden. Nach einer halben Ewigkeit wurde die Holztür mit der Nummer 2.11 aufgerissen und ein blondes Mädchen mit rundem Gesicht sah sie strahlend an.
„Du musst New Girl sein!"
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